Micha Brumlik

Vernunft und Offenbarung


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Wende der Droysen, Ranke und Dilthey, die gegen die Konstruktion eines Volksgeistes alleine aus dem Gedanken, mindestens auch das Eigengewicht der Quellen und anderer Zeugnisse der Vergangenheit zu ihrem Recht kommen lassen wollten.

      Freilich will der Schüler Diltheys dem historischen Material seinem konstruierenden Zugriff entgegen doch so viel Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er die Stimmen der Quellen zumindest zur Kenntnis nimmt und das heißt – wiederum in der Sprache der Schule – sich um ein Verstehen des Materials bemüht. Dieses Verstehen deutet Baeck psychologisch:

      „Es ist die Geschichtspsychologie, die sich an dieser Aufgabe erweisen will. Dem Ganzen, das sie mit ihrer Methode zu erschließen sucht, kann irgend ein Einzelnes, irgend eine Zeit oder irgend eine Gestaltung widersprechen, so wie ein Schritt oder auch ein Pfad der Richtung widersprechen kann, die zuletzt doch festgehalten bleibt und weitergeht.“56

      Aber auch die vermeintlich empirische Methode des individuellen Nachvollzugs geistiger Gebilde bleibt letzten Endes dem Konstruktionsprinzip verhaftet und damit von einer empirischen Überprüfung ausgeschlossen. Wenn gegenläufige Tendenzen im Material von allem Anfang an als unerheblich und in ihrer widersprüchlichen Richtung als quantité negligéable angesehen werden, lastet alles auf der Konstruktionskunst des Historikers beziehungsweise auf seinen kritischen und wegweisenden Fähigkeiten, also darauf, wie er dem geschichtlichen Ganzen seinen Sinn zumißt:

      „Das Wesen aufzeigen, bedeutet daher zugleich, den Weg aufweisen, der allein der Weg der Zukunft sein kann. Jede Selbsterkenntnis befaßt auch immer eine Forderung an sich selbst, sie spricht das Gebot des Lebens, das Gebot der Geschichte aus; ein Erinnerndes, ein Vorwärtsführendes ist in ihr. Das gilt vom Individuum und es gilt von allem großen geistigen Leben, von der Religion auch, wenn anders sie ihr Wesen, ihr Schöpferisches hat.“57

      Dabei ist sich Baeck durchaus der Heterogenität des historischen Materials bewußt. Anläßlich einer Überlegung über den Eingang „fremder Vorstellungen“, kurz, von Worten und Begriffen, die das Judentum im Lauf seiner Geschichte aufzunehmen hatte, erkennt er den nichtisraelitischen Ursprung des Wortes „Nabi“ (Prophet), jedoch nur, um zu betonen, welche „originale Kraft“ und welchen „Gedankenbesitz“ es in Israel erhalten habe. Diese Kraft zur Assimilation heterogener Inhalte und Begriffe schreibt Baeck der „gestaltenden Kraft des israelitischen Genius“58 zu, der sich kaum an Fremdes verloren, sondern seinen eigentümlichen „Charakter“ im Lauf der Zeiten nicht geändert habe. Die israelitische Religion, die Baeck nicht klar vom Judentum trennt, war durch eine vorgezeichnete Grenze von allem Fremden getrennt, gegen das sie oft einen langen und harten Kampf zu kämpfen gehabt hatte, der keineswegs immer mit dem gleichen Erfolg geführt worden sei. Zeiten der Gefahr und Versuchung seien im Gegenteil Zeiten der weiteren Herausbildung der religiösen Eigenart gewesen. Diese Eigenart bestimmt Baeck vor allem, ohne es hier schon namentlich zu nennen, in Abhebung vom Christentum, das durch den Glauben an Geheimnisse und Dogmen gekennzeichnet sei, durch ein von höheren Autoritäten verbürgtes „Glaubensgut“. Im Unterschied dazu kenne das Judentum weder Heilstatsachen noch Gnadengaben, noch einen einmaligen, Erlösung verbürgenden Glaubensakt, sondern sei eine wesentlich undogmatische Religionsphilosophie, der auf der anderen Seite das Gebot, das Rechte zu tun, entspreche. Der Inhalt, das Thema dieser Religionsphilosophie, der monotheistische Gedanke jedoch – und hier hat Baecks Geschichtspsychologie ihren Ort –, sei vor allem von „Persönlichkeiten“ geprägt: „Israels nicht unwesentlichste Selbständigkeit“.59 Persönlichkeiten aber sind Menschen, die nicht das bleiben, was sie geworden sind, sondern etwas aus ihren Erkenntnissen und Vorzügen erwachsen lassen. Die Lektüre der Heiligen Schrift, namentlich der Erzväter und der großen Schriftpropheten verweist auf den Gedanken einer durch „Persönlichkeiten bestimmten Entwickelung“, womit das Programm einer historischen Psychologie angesprochen ist, das Baeck aber als solches nicht entfaltet hat, sondern am konkreten Beispiel der „prophetischen Religion“ entwirft.

      III.

      Baecks Methode läßt sich also als ein auf historisches Material gestütztes, konstruktives Verfahren kennzeichnen, das den Eigensinn mindestens des jüdischen Volksgeistes beziehungsweise der jüdischen Religion durch den Eigensinn inspirierter, an einem oder zwei zentralen Gedanken orientierter Persönlichkeiten erklären will, wobei die Frage, wie diese Persönlichkeiten zu ihren Gedanken kommen, beziehungsweise unter welchen Umständen diese Persönlichkeiten zu dem werden konnten, was sie schließlich geworden sind, offen bleibt, oder vielmehr durch sich selbst erklärt wird: „Die Religion ist ihnen der Sinn, der erste innerste Kern ihres Daseins, nichts Äußerliches und nichts Hinzugekommenes, nichts Erworbenes und nichts Gelerntes.“60 Der Glaube als seelisches Leben vermochte die Propheten deshalb zum unnachgiebigen und unerschütterlichen Verkünden ihrer Botschaft zu bewegen, weil dieser Glaube – so drückt sich Baeck aus – seine Sicherheit und Rechtfertigung in sich selbst trug. Dabei bleibt freilich offen, was es heißen soll, daß ein Glaube seine Rechtfertigung in sich selbst trägt. Kann die Rechtfertigung eines Glaubens wirklich in sich selbst bestehen? Es scheint als verwechsele Baeck hier in folgenreicher Weise ein je subjektiv gefühltes Evidenzerlebnis mit einer wie auch immer von Gott erlassenen und dadurch beglaubigten Botschaft. So jedenfalls berichten es die biblischen Schriften selbst. Am Übersehen dieses Umstandes, am Übergehen der in dieser Hinsicht unbezweifelbaren Textgrundlage wird deutlich, wie hoch der Preis ist, den Baeck für seine von Dilthey übernommene Psychologisierung entrichten muß. Wie die meisten jüdischen Religionsphilosophen jener Epoche, namentlich Hermann Cohen, sieht auch Baeck das Wesen des Judentums minder in einem spekulativen Monotheismus, denn in einer gefestigten, universalistischen Sittlichkeit begründet. Indem er aber die auf dieser Einstellung sockelnde Religion umstandslos in den Begriff des „Lebens“ überführt, und dieses Leben nicht als Leben des Geistes, sondern als Leben des Einzelnen – in diesem Fall jenes prophetischer Menschen – bestimmt, ist er gezwungen, einen nicht weiter reduzierbaren Kern jeder menschlichen Persönlichkeit zu beschwören, die indes systematisch unbestimmt bleiben muß: „Es ist der über alles Wissen und allen Witz erhabene Rest, worin jeder wahre Mensch sein innerstes Persönliches hat.“61 Die methodische Maxime zum Verstehen der biblischen Schriften besteht daher darin „Menschen zu begreifen“. Wie aber, so möchte man fragen, soll das möglich sein, wenn der innerste Kern dieser Persönlichkeiten seinerseits einem rationalen Verstehen nicht zugänglich ist? Des Rätsels Lösung ist wiederum der Begriff des Lebens, des Weges Gottes zum Menschen, der auf die Klarheit, den Weg des Menschen zu Gott trifft. Hier wird deutlich, daß der Begriff des Lebens, ohne jemals präzise ausgewiesen zu sein, die Funktion eines theoretischen Passepartouts spielt, der stets dort, wo die Kette rationaler Argumentation abreißt und Glaubenssätzen den Raum überläßt, einspringen muß. Dabei hat Baeck später, 1932, zugunsten dieser lebensphilosophischen Argumentation in Theologie und Geschichte vorgebracht, daß es der Gedanke der Aktualisierung und Vergegenwärtigung des Glaubens über die Erstarrung des Historismus hinweg sei, der zur damals auch im Protestantismus aufbrechenden Vergegenwärtigungstheologie nötigte.62

      IV.

      Nun hat Baecks Werk, trotz einer beeindruckenden Einheitlichkeit, doch eine Entwicklung durchlaufen, weshalb an einer seiner durchdachtesten und systematischsten Arbeiten, der 1922, zehn Jahre vor Theologie und Geschichte entstandenen Romantischen Religion zu überprüfen ist, ob die im Wesen des Judentums angelegten theoretischen Kurzschlüsse im Sinn einer stringenteren Argumentation behoben sind.

      In der Romantischen Religion wird nun das, was noch im Wesen des Judentums als von innen her treibende Kraft jeder Religion postuliert wurde, auf die Objektseite gerückt, freilich so, daß eine bestimmte Art religiöser Erfahrung als „romantische“ kritisiert wird, während die Ausdrucks- und Erlebnisformen der „klassischen“ Religion gerechtfertigt werden. Einen um Objektivität auch nur bemühten, methodologischen Standpunkt jenseits von „romantischer“ und „klassischer“ Religion kann Baeck nicht vorweisen – seine Kritik der romantischen Religion setzt sogleich material ein, ohne sich vergewissert zu haben, daß sie genau jenes vermag, ohne das der geisteswissenschaftliche Forscher nicht auszukommen im Stande ist. Die Romantik sei besonders geeignet, den Stimmen