ergiessen darf.
Aber fangen wir von vorn an. Hier ist meine Geschichte.
Wie ich ums Leben kam
Es war der 17. Juni 1972, ein Samstag. Ein strahlendblauer Morgenhimmel lachte mich herausfordernd an, als ich das Rollo vor meinem Schlafzimmerfenster hochzog und die goldenen Sonnenstrahlen in mein Zimmer drangen. Wochenende!
Ich war kurz vorher zwanzig Jahre alt geworden und angesichts dieses perfekten Frühsommertags schlug mein Herz bis zum Hals vor lauter Lebensfreude und Abenteuerlust. Ein Blick auf meinen Stundenplan dämpfte meinen Übermut allerdings schlagartig: Von zehn bis vierzehn Uhr war das Absitzen von öden Unterrichtsstunden im muffigen Zimmer des Lehrerseminars angesagt, in dem ich mich zum Pädagogen ausbilden liess. Diese Aussicht passte nun überhaupt nicht zu den süssen Verlockungen, mit denen dieser junge Tag mich rief.
Widerstrebend fügte ich mich trotzdem meinem Schicksal, stülpte mir meinen goldenen Motorradhelm auf, schwang mich auf meinen Blechesel – eine zweihundertfünfzig Kubik Yamaha Strassenmaschine in Gold und Weiss mit dem Nummernschild BL 358 – und machte mich auf den Weg in das Unvermeidliche.
Kaum war ich jedoch an der ersten Kreuzung angelangt, begannen zwei Seelen in meiner Brust einen kurzen, aber heftigen Kampf auszufechten. Die pflichtbewusste, vernünftige Seite in mir drängte: nach rechts, Richtung Seminar und Berufsausbildung, wie es sich gehört. Die abenteuerlustige Seite hingegen rief: nach links, in die Freiheit der Jurahügel und auf zum Tanz in den Kurven!
Ach, was soll’s, entschied ich mich kurzerhand, was verpasse ich schon, wenn ich mal ein paar Stunden schwänze. So ein Prachttag will gefeiert sein! Du lebst nur einmal, also stürz dich hinein in die Ekstase des Lebens, man weiss ja nie, ob dieser Tag nicht der letzte ist. Ich liess den Motor zweimal kurz aufheulen, kippte den Blinker nach links, kickte mit dem Fuss den ersten Gang rein und gab Gas. Und so galoppierten der glorreiche Ritter und sein wackeres Rennpferd auf dem Weg zu neuen Abenteuern in einen sonnigen Frühsommermorgen, einem unerwarteten Schicksal entgegen.
Dieses lauerte keine zwei Kilometer vor mir in einer unübersichtlichen Kurve. Ich hatte diese Schleife schon oft befahren und sie war jedes Mal eine lustvolle Herausforderung. Ich bog also von der Hauptstrasse rechts ab in jene Unterführung, die in einem engen Rechtsradius unter der Hauptstrasse durchführt. Der Motor dröhnte und hallte von den Schachtwänden wider, als ich den Gasgriff durchzog, und die Maschine in Schräglage kippte, um wie auf einer Achterbahn meinen atemberaubenden Kreis durch den kurvigen Tunnel zu ziehen.
Mein Herz lachte im Leib in diesem Rausch von Geschwindigkeit und der Lust des Kräftemessens mit der Schwerkraft…
Rums! Was war das? Ich bekam plötzlich keine Luft mehr. Was machte dieser Auspufftopf vor meinem Gesicht? Warum lag ich auf dem Rücken und warum war mein Bein so merkwürdig abgedreht? Blitzartig realisierte ich, dass ich unter einem grossen Amerikanerwagen lag. Ich war mit voller Wucht von hinten in den Wagen hineingeprallt, der da mitten auf der Fahrbahn in einer Kolonne stand. Die Kurve in der Unterführung war so eng, dass die Sicht keine fünf Meter betrug, und ich in der kurzen Distanz nicht mehr hatte reagieren können. Mein Motorrad lag neben mir und heulte mit Vollgas, während Benzin aus seinem demolierten Tank rann. Es hatte sich wie ein Keil unter den schweren amerikanischen Wagen geschoben, dessen Hinterachse leicht angehoben und ich lag hilflos eingeklemmt dazwischen.
Ich spürte, dass mein Körper ähnlich zertrümmert war wie mein stählernes Reittier, das völlig verbogen und verbeult neben mir schrie. Durch den Schlag des Aufpralls auf meine Magengegend waren meine Innereien zu Mus zerquetscht und mein Brustkorb eingedrückt worden, das machte es mir unmöglich, zu atmen. Die Qual des langsamen Erstickens und die Schmerzen trieben mich zum Wahnsinn. Panik erfasste mich, als ich begriff, dass dies wohl das Ende wäre. Ein immenser Zorn wallte in mir auf. »Warum ich? Warum schon jetzt? Das muss ein fataler Irrtum sein! Ich bin doch viel zu jung zum Sterben!«, bäumte ich mich innerlich auf. Aber im Höhepunkt meiner Wut kam eine seltsame, tiefe Ruhe über mich. Sie kam in dem Moment, als ich die Ausweglosigkeit meiner Situation und die Sinnlosigkeit meines Aufbegehrens einsah und mich in mein Schicksal ergab.
Und genau in diesem Augenblick geschah etwas sehr Merkwürdiges. Wie durch Zauberhand waren meine Schmerzen verschwunden und mir war, als würde die Zeit stehenbleiben. Und nicht nur das: Die ganze Welt hielt inne, wie in dem Märchen von Dornröschen, in dem alle Bewohner des Königreichs in ihrer Bewegung erstarren und hundert Jahre in dieser Stellung verharren. In diesem Stillstand der Welt öffnete sich mir ein Zeitfenster, in dem ich mich als Einziger bewegen konnte.
Bestimmt haben Sie schon einmal gehört oder gelesen, dass viele Menschen im Angesicht des Todes ihren »Lebensfilm« gesehen haben sollen. Es mag wie ein Klischee klingen, aber genau das passierte mir auch, nur war es mehr als bloss ein Film. In diesem Zeitfenster lebte ich nämlich mein gesamtes bisheriges Leben noch einmal durch. Ich erlebte meine Geburt, meine Kindheit, alle meine Geburtstage, meine Kindergarten- und Schulzeit … Jeden Gedanken, jeden Geruch, jedes gesprochene Wort und jeden Traum erlebte ich noch einmal, aber nicht etwa in einem Zeitraffer, sondern in voller Länge und Intensität. Ich lernte noch einmal laufen, rechnen und schwimmen, ich las noch einmal alle Bücher, zankte mit meinen Geschwistern, verliebte mich und tat alle meine kleinen Gemeinheiten und Fehler noch einmal.
Bei dieser Retrospektive stand ich aber gleichzeitig als Beobachter dabei und schaute mir das ganze Geschehen aufmerksam an. Ich war also zwei Personen: eine, die es erlebte und eine, die es beobachtete, zugleich aber war es ein und dieselbe Person. Während dieses Erlebens und Beobachtens gewahrte ich zudem ein liebevolles Wesen neben mir, das ich zwar nicht sehen, dessen Anwesenheit ich aber ganz stark spüren konnte. Als ich am Ende des Rückblicks angekommen war, forderte mich das Wesen wohlwollend auf, nun mein Leben, und was ich daraus gemacht hatte, zu beurteilen. Es hatte nicht mit mir gesprochen, sondern direkt in mein Bewusstsein gedacht und ich nahm die Gedanken wie gesprochene Worte wahr, ein Phänomen, das ich in naher Zukunft noch einmal erleben sollte.
Mir war völlig klar, dass ich aus dem Lebensmaterial, das mir in den zwanzig Jahren zur Verfügung stand, nicht gerade ein Kunstwerk gestaltet hatte. Mit anderen Worten, ich hatte meine Lebenszeit eher vergeudet als genutzt oder gar gewinnbringend angelegt und gab mir die Note »Knapp genügend«. Das Wesen neben mir liess mich ein verständnisvolles Lächeln spüren, aber kein Anflug von Missfallen oder Bedauern ob meiner nicht gerade rühmlichen Leistung trübte seine liebevolle Ausstrahlung. Im Gegenteil, es gab mir das Gefühl, hundertprozentig geliebt und akzeptiert zu sein, und gab mir zu verstehen, dass meine Wertung lediglich meine persönliche Sicht der Dinge sei, die aber keine weiterreichende Bedeutung habe. Der einzige Zweck dieser Bewertung sei, dass ich die Einsicht gewänne, in welchen Momenten ich gut und liebevoll und in welchen ich schlecht und lieblos gehandelt hätte. In Wirklichkeit seien alle meine Erfahrungen wertvoll gewesen und unterlägen keiner negativen oder positiven Beurteilung.
Da schloss sich das Zeitfenster und ich wurde wieder in das irdische Zeitgeschehen zurückgeworfen. Wie von ferne vernahm ich eine grosse Aufregung um mich herum, entsetzte Menschen standen am Unfallort und liefen hilflos und händeringend hin und her. Autoschlangen blockierten den Verkehr in einem grossen Umkreis. Ich bemerkte, wie jemand einen Wagenheber anschleppte und versuchte, den schweren Wagen anzuheben, unter dem ich lag, um mich aus der misslichen Lage zu befreien. Ich badete in einer Lache von ausgelaufenem Benzin, das meine Kleider durchtränkte und dessen Geruch mir zusätzliche Übelkeit und Brechreiz bereitete. Ein verzweifelter Gedanke durchzuckte mich: Jetzt soll nur niemand einen Zigarettenstummel wegwerfen! Die Vorstellung, unter einem Wagen eingeklemmt zu verbrennen, steigerte meine Panik ins Unermessliche. Da erblickte ich das verschwommene Gesicht eines weisshaarigen Mannes über mir, offenbar ein Arzt, der mich zusammen mit anderen Helfern behutsam unter dem Fahrzeug hervorzuziehen versuchte. Ich hörte einen Mann fluchen, eine Frau weinen und wie durch einen meilenlangen Tunnel drang das Martinshorn eines Krankenwagens an mein Ohr. Blaulicht flackerte, Stimmen schrien durcheinander, alles schien so unwirklich, als würde ein absurdes Theaterstück aufgeführt, das gar nichts mit mir zu tun hatte. Mit schwindendem Bewusstsein und von sinnraubenden Schmerzen begleitet, fühlte ich endlich, wie mehrere Hände mich auf eine Bahre hoben. Dann fiel ich in eine erlösende Bewusstlosigkeit.
Erwachen in einer anderen