Bo Katzman

Zwei Minuten Ewigkeit


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Klarheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Bloss – irgendetwas war anders an dieser Situation und es dauerte einen Sekundenbruchteil, bis ich erkannte, was es war: Ich war nicht mehr in meinem Körper.

      Ich sah meine leibliche Hülle von oben auf einem Operationstisch liegen, in grüne Tücher gehüllt und vom Brustbein bis unter den Bauchnabel aufgeschnitten. Der leblose Körper, den ich da auf dem Tisch liegen sah, war mir komplett fremd und auch völlig gleichgültig. Ich fühlte nicht die geringste Beziehung zu diesem leblosen Stück Fleisch, das ich zwanzig Jahre lang bewohnt hatte. Das war nicht »ich«.

      Offensichtlich befand »ich« mich an der Decke des Raumes und konnte so die Szene überblicken, in der plötzlich Hektik aufkam. Ich hörte, wie der operierende Professor R. rief: »Jetzt hat es ihm die Pumpe abgestellt! Bringen Sie sofort den Elektroschock-Apparat!« Das war der Moment, in dem mir klar wurde, warum ich mich an der Decke, statt in meinem Körper befand: Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ich war tot.

      Noch etwas war besonders an dieser Situation: Ich konnte wahrnehmen, was die anwesenden Personen, der Chirurg, der Anästhesist, die Assistenzärzte und Krankenschwestern dachten. Ihre Gedanken waren für mich wie ein lautes Gespräch und trotz des Durcheinanders konnte ich jedes dieser stummen Selbstgespräche klar und deutlich vernehmen.

      Ich wunderte mich, dass hier so viel Aufhebens gemacht wurde, bloss weil ich gestorben war. Diese Tatsache war für mich total in Ordnung und genau das wollte ich dem gestressten Chirurgen auch mitteilen. Ich schwebte also von meiner Position an der Decke herunter, wollte ihn am Arm fassen und sagte laut: »Sie können aufhören. Sehen Sie denn nicht, dass ich tot bin?« Mit Staunen stellte ich aber fest, dass mein Arm, mit dem ich ihn packen wollte, durch seinen Körper hindurchfuhr und er mich offenbar nicht hören konnte. Logisch, dachte ich, ich hatte ja gar keinen Arm mehr, überhaupt keinen Körper und auch keine Stimme mehr, ich bestand ja nur noch aus Geist. Ich befand mich in einer anderen Dimension, in der geistigen Welt. Es war nur die Erinnerung an meinen Körper und die Gewohnheit, die mich wie ein körperliches Wesen agieren liessen.

      Dank dieser Einsicht verlor ich das Interesse an der Szene und verliess sie. Das heisst, ich wurde durch die Decke hindurch weggezogen und in eine Umgebung hineinkatapultiert, die mir völlig unbekannt war, ich hatte keinerlei Erfahrungswerte, die einen Vergleich ermöglichten. Ich befand mich in einer Art Nebel und raste für mein Empfinden mit Lichtgeschwindigkeit in eine Richtung, wie von einem gigantischen kosmischen Staubsauger angezogen. Dieser Nebel, durch den ich mich bewegte, war aber keine Ansammlung von kleinen Wasserpartikeln, wie wir es von der Erde her kennen, sondern es war, als würde das gesamte Wissen des Universums in diesem Nebel gespeichert. Es war das Allwissen, das hier in geistiger Form um mich herum vorhanden war, und ich als Geistwesen war ein Teil davon. Es war, als würde man einen Tropfen Wasser ins Meer geben: Er wird selber zum Meer. So war ich ein Tropfen Bewusstsein, der im All-Bewusstsein aufging: Ich wusste alles.

      Mein gewohnt kleiner Verstand erweiterte sich schlagartig um ein Gigafaches seines bisherigen Inhalts. Mir war blitzartig klar, warum, wie und wann das Universum erschaffen wurde, und ich wusste, wann es untergehen würde. Ich wusste alle Antworten auf alle Fragen, die je gestellt werden konnten. Sie waren einfach da!

      Diese unermessliche Erkenntnis war wie eine Explosion und traf mich mit unvorstellbarer Wucht. Ich war nicht mehr nur ich, sondern ich war ein Teil von ALLEM, ich war alles. Der Tropfen war zum Meer geworden. Dabei hatte ich aber immer noch die Gewissheit, ein eigenständiges Individuum, ein Ich zu sein.

      Liebe Leserin, lieber Leser, bitte seien Sie nicht enttäuscht, wenn ich Ihnen nichts über diese Allwissenheit erzählen kann, an der ich in jenem Moment teilhatte. Leider konnte ich nichts davon mitnehmen und die Erinnerung verblasste, als ich wieder in meinem Körper erwachte, so wie ein Traum nach dem Erwachen verblasst. Wenn es nicht so wäre, hätte ich längst bei Günter Jauch und seiner Sendung »Wer wird Millionär« Furore gemacht mit meiner umfassenden Kenntnis.

      Das war das Eine, was mich in dieser Dimension völlig überraschte: die Gegenwart des Allwissens. Das Zweite war die Erfahrung der Zeitlosigkeit: Ich befand mich in der Ewigkeit.

      Wir Menschen stellen uns in der Regel unter »Ewigkeit« eine unendlich lange Zeit vor und setzen Ewigkeit mit »Endlosigkeit« oder »Unendlichkeit« gleich, eben einer Zeit ohne Ende. Das sind aber alles menschliche Zeitbegriffe, die davon ausgehen, dass es eine Zeit gibt.

       Die Ewigkeit ist jedoch das Gegenteil von zeitlicher Endlosigkeit, sie ist die Abwesenheit von Zeit.

      »Zeit« ist ja ein Phänomen, das nur im Zusammenhang mit Materie auftritt. Sie ist gebunden an Abläufe wie Planetenbewegungen, Jahreszeiten, Beschleunigung und Distanzen, die zurückgelegt werden müssen. »Zeit« ist ein Phänomen, das von der Materie erzeugt wird. In der geistigen Welt fällt die Zeit schon deswegen aus, weil da keine Materie ist, die sich in Abläufen bewegen könnte. »Geist« bewegt sich nicht, Geist ist.

      Es gab also keine Zeit in dieser Dimension. Alles war gleichzeitig vorhanden: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft waren verschmolzen zu einem »Alles-ist-immer«-Zustand, und zwar einschliesslich aller möglichen Varianten und Optionen. Das bedeutet, dass alles, was in der Vergangenheit je hätte geschehen oder in der Zukunft je wird passieren können, als realer Entwurf vorhanden war.1 (Anmerkung Seite 343)

      Diesen Zustand in Worten zu beschreiben – das spüre ich jetzt, da ich es versuche –, ist selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es war ein richtiger Tsunami an Wissen und Erkenntnis, der da über mich hereinbrach und mich geradezu überschwemmte. Ich wurde aber nicht behutsam von der einen zur nächsten Bewusstseinsebene geführt, sondern einfach in dieses Wissensmeer geworfen und musste irgendwie darin zurechtkommen. Ich erinnere mich, dass ich mich aber nicht überfordert gefühlt habe, das alles aufzunehmen. Ich war einfach ein Teil davon und als solcher ganz natürlich integriert, genauso wie ein Wassertropfen sich auch nicht überfordert fühlt, weil er ein Teil des Meeres ist. Nur: Wie soll ein solcher Tropfen beschreiben, wie es sich anfühlt, das Meer zu sein?

      Ich sah aber nicht nur alle Möglichkeiten von Ereignissen, diese unendliche Vielfalt betraf auch sämtliche Erscheinungsformen und Gestalten: Gegenstände, Lebewesen, Materialien, kurz: Alles, was in der materiellen Welt in irgendeiner Form existiert oder existieren wird, ist in der Ewigkeit bereits als Entwurf »auf Lager«, bereit zur Materialisierung. Oder anders gesagt: Alles, was in der materiellen Welt in Erscheinung tritt, existiert bereits zuvor als gedankliche Vorstellung in einer geistigen Dimension.2 (Anmerkung Seite 344)

      Wenn wir denken, erfinden oder sonst wie geistig tätig sind, machen wir eigentlich nichts anderes, als das grosse geistige »Wissensmeer« anzuzapfen, in welchem sämtliche Ideen bereits gedacht sind, wir zupfen uns eine Variante heraus, die wir dann umsetzen. Da unser Geist nicht materiell ist, kann er mit der geistigen Welt jederzeit korrespondieren. Jeder kreative Künstler kennt diesen Moment der Inspiration, in dem ihm aus heiterem Himmel eine Idee »einfällt«.3 (Anmerkung Seite 345)

      Mir wurde in jenem Augenblick zweifelsfrei klar, dass der Geist über der Materie steht, oder, auf eine kurze Formel gebracht: Geist erschafft Materie. Die Wissenschaft ist allerdings gegenteiliger Meinung und vertritt die Umkehrung dieses Prinzips: Materie erschafft Geist.4 (Anmerkung Seite 346)

      Nun kann man sich aber fragen: Wenn unsere Gedanken und Ideen aus dem grossen geistigen Wissenspool stammen (C. G. Jung nannte einen Teil dieses Bereichs das »Kollektive Unbewusste«), sind dann unsere Gedanken überhaupt »unsere« Gedanken oder sind wir lediglich Wiederkäuer von bereits vorhandenem Gedankengut? Oder, um diese Frage zu erweitern: Was ist denn eigentlich noch originär an unserer Person, wenn sogar unsere Gedanken nicht von uns sind, sondern wie in einen Radioempfänger eingegeben werden? Sind wir tatsächlich nichts anderes als eine Art Computer, der zuerst mit Daten gefüttert werden muss, um Ergebnisse von sich zu geben? Was macht ein Individuum aus, wenn nicht seine ureigenen, persönlichen Gedanken?

      Oder stimmt vielleicht die wissenschaftliche These, dass es die Gehirnwindungen sind, die aufgrund chemischer Prozesse »Geist« erzeugen, und somit Gedanken, Ideen und Gefühle nichts anderes sind als chemische Produkte? Dass wir also eine Art Bioroboter sind mit einem Biocomputer darin – dem Gehirn?