treffen, die wir bestehen möchten, und wir werden in diese hineingeboren. Wir sind also ausnahmslos selber zuständig für unser Leben und alles, was darin passiert, und alle unsere Entscheidungen tragen dazu bei, unsere weitere Existenz über dieses Leben hinaus zu beeinflussen. Es hat also keinen Sinn, ein böses Schicksal oder einen ungerechten Gott anzuklagen, wenn einem etwas Unangenehmes widerfährt. Gerade wenn man sich in einer leidvollen Situation befindet, hat es nämlich etwas Tröstliches, zu wissen, dass man soeben dabei ist, eine selbst gewählte Aufgabe zu erledigen oder eine alte Schuld abzulegen. Dass diese Prüfung mit Leid verbunden ist, liegt in der Natur der Sache und darf uns nicht gegen unser eigenes Schicksal aufbringen oder uns dazu führen, einen Gott anzuklagen: »Warum lässt du so etwas zu?«
Gott lässt das zu, was wir gewählt haben!
Diese Erkenntnisse durchströmten mich in jenem Moment, als ich von dem Licht der Weisheit und der Liebe umhüllt wurde.
»Nun weisst du es. Geh wieder zurück. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.« Diese Durchsage drang im Augenblick der wunschlosen Glückseligkeit in mein Bewusstsein. Dann riss der Film.
Zurück im Leben
In der Zwischenzeit war es dem Ärzteteam nämlich gelungen, mein Herz wieder zum Pumpen zu bringen. Mit dem ersten Herzschlag war ich wieder in meine sterbliche Hülle gefahren und in die tiefe Bewusstlosigkeit zurückgefallen, in der ich mich vor meinem Exitus befunden hatte. Im Operationssaal beschäftigte man sich nun fieberhaft damit, meine geborstenen Knochen und zerrissenen Innereien zusammenzuflicken. Davon bekam ich aber nicht das Geringste mit, da der Anästhesist gute Arbeit geleistet hatte.
Stunden später erwachte ich allmählich aus meinem Koma. Aber was war mit mir geschehen? Wo war das warme Licht, die atemraubende Erkenntnis der Allwissenheit, wo war das befreiende Schweben in der Zeitlosigkeit?
Ich blinzelte unter meinen geschwollenen Lidern hervor, und was da in mein Bewusstsein drang, traf mich wie ein Keulenschlag. Ich lag in einem grünlich gestrichenen Raum, der mit Apparaturen, Kabeln und Schläuchen vollgestopft war, eingebunden wie eine Mumie, Beine und Arme eingegipst, aus meinen Armen und meinem Bauch ragten zwei Schläuche, die an eine Vakuumpumpe angeschlossen waren, um Blutreste aus meinem Bauchraum abzupumpen. Ein Katheter besorgte den Harnabfluss und durch das eine Nasenloch hatte man einen dicken, grünen Schlauch den Hals hinunter bis in meine Lunge gestossen. Das andere Ende des Schlauchs steckte in einer Maschine, die sich neben meinem Bett befand und regelmässig zischte. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass diese Maschine meine neue Lunge war, die behutsam Luft in mich hineinpresste und wieder heraussog. Da meine Rippen gebrochen und die Bauchmuskeln zerschnitten waren, war ich nicht in der Lage, selber zu atmen. Ich kam mir vor wie ein Cyborg – halb Mensch, halb Maschine.
Mein Zustand war mehr als jämmerlich. Wie ich später erfuhr, war ausser den zahlreichen Knochenbrüchen und einem Beckenbruch auch meine Leber zum Teil zerquetscht, meine Milz war so zermalmt, dass man sie hatte entfernen müssen. Ich hatte literweise Blut verloren, das innerlich ausgelaufen war. Meine Lunge war durch die geborstenen Rippen arg in Mitleidenschaft gezogen, Hüfte und Knie zerschmettert, Muskeln und Sehnen gerissen – kurz, ich war lediglich noch ein armseliges Häuflein Elend, dessen Lebenslichtlein nur noch schwach flackerte und von Minute zu Minute zu erlöschen drohte.
Und dann kamen die Schmerzen.
Wer schon einmal versucht hat, zwei Stunden lang absolut unbeweglich auf dem Rücken zu liegen, der weiss, dass irgendwann langsam die Panik hochkriecht und man nur noch schreien möchte. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen, mich nicht kratzen, nicht schlucken (ich hatte ja einen Schlauch im Hals), nicht einmal selber atmen. In so einer Situation wird jeder Augenblick zur Ewigkeit, man kämpft sich von einer Sekunde zur nächsten und ist heilfroh, wenn wieder eine überstanden ist – um sofort mit der nächsten zu ringen. Wenn dann noch unerträgliche Schmerzen dazu kommen, als wäre man aufs Rad geflochten, von Speeren durchbohrt und von hundert Kampfstiefeln getreten worden, dann lauert die grinsende Fratze des Wahnsinns im unteren Bereich des Bewusstseins.
Da mein Hals von dem Lungenschlauch ausgefüllt war, war es mir nicht nur unmöglich, zu schlucken, sondern ich konnte auch weder essen, trinken noch sprechen. Alle paar Stunden kam eine Schwester mit einer kleinen Saugsonde. Sie koppelte den Luftschlauch von der Lungenmaschine ab, sodass ich sofort panische Erstickungsängste bekam, weil keine Luft mehr zugeführt wurde. Die Schwester führte die Saugsonde in die Luftröhre ein und schob das Schläuchlein nach, bis es zuunterst in die Lunge gelangte. Dort saugte sie das angesammelte Wasser ab. Diese Sonde rief schrecklichen Würge-, Husten- und Brechreiz hervor, den ich aber irgendwie aushalten musste, da ich wegen meiner operierten Innereien gar nicht würgen oder husten konnte. Die Todesangst trieb mir die Augen aus den Höhlen und den kalten Schweiss aus den Poren, ich konnte nur noch weinen vor Qual und Hilflosigkeit.
Das Schlimmste aber war der Durst. Meine einzige Flüssigkeitszufuhr tröpfelte aus einem Plastiksack, der an einer Stange neben meinem Bett hing, in meine Vene. Es war ein schwüler und heisser Sommer und nach zwei Tagen war mein Durst so gross, dass ich mein Herz herausgerissen hätte für einen kleinen Schluck Wasser. Meine Gedanken schrien immer nur das eine Wort: Wasser! Wasser! Es sollte aber fast vier endlose Wochen dauern, bis ich mein erstes Tröpfchen bekam.
Um meine Schmerzen ein wenig zu betäuben, verabreichte man mir alle vier Stunden eine starke Spritze mit einem Opiat, das in mir einen seligen Flash auslöste, der zirka eine halbe Stunde anhielt und dann langsam abflaute. Danach war ich wieder dreieinhalb Stunden dem zermürbenden und qualvollen Kampf gegen die Sekunden ausgeliefert und wurde nur noch von der verzehrenden Gier nach dem nächsten Schuss am Leben gehalten.
Meine Überlebenschancen standen so schlecht, dass die Ärzte meinen Eltern mitteilten, es wäre gut, wenn sie mich noch einmal besuchen kämen, so wie es aussehe, werde der Überlebenskampf nicht zu meinen Gunsten ausgehen.
Da kamen sie also an mein Bett, um Abschied zu nehmen, in grüne Überkleider gewandet mit Mundschutz vor dem Gesicht, meine von Mitleid und Kummer zerrissene Mutter, mein betretener, schweigsamer Vater, der sichtlich gegen die Tränen kämpfte, meine fünf Geschwister, die eines nach dem andern herantraten und mit verwirrtem Blick verlegen meine Hand tätschelten und leise Tschüss sagten, um sich dann befangen abzuwenden. Ich glaube, dieser Moment bewegte mich mehr als sie. Ich wollte sie so gerne trösten, ihnen sagen, dass ich weiterleben würde. Ich erinnerte mich an die Worte: »Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen«, die ich in der geistigen Welt vernommen hatte, aber ich konnte sie meiner Familie nicht mitteilen. Dieser verfluchte Schlauch in meinem Hals verhinderte jede Kommunikation. So weinte ich stumme Tränen der Verzweiflung und lag einfach nur da. Als sie gegangen waren, winkten mir meine jüngeren Schwestern noch einmal zaghaft durch die Glastür zu und diese kleine Geste war so rührend, dass ich vor innerer Aufgewühltheit litt wie ein Hund.
Die einzigen Lichtblicke in jenen qualvollen Wochen waren die Besuche von meiner Freundin Marianne. Sie kam in jeder freien Minute und sass dann neben meinem Bett, hielt meine Hand und sprach mir Mut zu. Marianne symbolisierte das blühende Leben: Kerngesund und schön, voller Optimismus und Lebensfreude strahlte sie genau das aus, was ich so dringend benötigte. Das Zusammensein mit ihr gab mir so viel Kraft und Zuversicht, dass ich schon allein ihretwegen wieder gesund werden wollte. Diese tapfere junge Frau zog mich durch ihre liebevolle Anwesenheit wieder ins Leben zurück. In jenen Momenten wusste ich, dass Marianne die Frau war, mit der ich mein Leben verbringen wollte. So gern wollte ich ihr sagen, wie sehr ich sie liebte, aber ich konnte ihr nur schwach die Hand drücken und sie ansehen, aber Marianne verstand. Sie drückte mir auch die Hand und sah mich mit einem so herzigen Lächeln an, dass mir ganz weh ums Herz wurde vor Sehnsucht.
»Wenn du gehst, dann geht ein Teil von mir«, heisst es in einem Lied und genau so fühlte ich mich, wenn Marianne mich wieder verliess. Ich wollte leben, um mit ihr zu leben!
Jedenfalls überlebte ich die meisten meiner Leidensgenossen in der Intensivstation. Alle paar Tage wurden bei anderen Patienten die Schläuche abgehängt, wurde das Leintuch über das Gesicht gezogen und leise das Bett aus dem Raum geschoben. Es war ein Kommen und Gehen in dieser Station. Stöhnende, schreiende, weinende Menschen wurden hereingefahren und nach ein paar Tagen wieder hinausgeschoben,