nicht zu denken. Die Schmerzensschreie und das verzweifelte Gestöhne der Mitpatienten bildeten eine permanente Geräuschkulisse, die sich nicht verdrängen und mich ununterbrochen mitleiden liess.
Endlich wieder vier Stunden überstanden. Die Spritze nahte. Wo bleibt denn die Schwester? Was macht sie denn so lange, meine Spritze ist doch überfällig! Masslose Wut, rasende Ungeduld und Schweissausbrüche begleiteten die letzten Minuten vor der erlösenden Morphinspritze. Nach einer Woche unbewegten Liegens und unter dem regelmässigen Einfluss der Droge, begann ich zu halluzinieren. Der unerträgliche Durst, das ewige Geschrei und Gestöhne, die unaufhörlichen Schmerzen, die Gier nach der nächsten Spritze und die quälende Unbeweglichkeit trieben mich langsam, aber sicher an den Rand des Wahnsinns. Die Schwestern verwandelten sich vor meinen Augen in menschengrosse, eisgekühlte Colaflaschen, an denen die Kondensationstropfen langsam herunterperlten. Trinken, trinken! Wo bleibt die Spritze? Wasser!
Meine Organe begannen, laut miteinander zu streiten. Die Lunge jammerte, sie sei wieder voll Wasser, das sei eine Zumutung, man solle sofort Abhilfe schaffen. Die Leber keifte, sie solle gefälligst die Schnauze halten, wenn es jemandem dreckig gehe, dann sei sie es, schliesslich habe man die Hälfte von ihr weggeschnitten. Das Herz mischte sich ein und herrschte die beiden an, sie sollten sich zum Teufel scheren mit dem Gequengel und es seine Arbeit tun lassen, schliesslich habe es die anstrengende Aufgabe, diesen jungen Mann am Leben zu erhalten, und könne nicht auf der faulen Haut liegen, wie Madame Lunge, die sich komfortabel beatmen lasse. Die gebrochenen Knochen wimmerten vor Schmerzen, der Rücken stöhnte, er habe nun genug gelitten, man solle diesen elenden Körper endlich mal in eine andere Position bringen, das Hirn explodierte schier, weil dieses ganze Gekeife und Gezeter seine Kapazität überlastete.
Alles in mir war in Aufruhr, in meinem Körper war ein Krieg ausgebrochen, der unerbittlich und pausenlos geführt wurde, und ich musste mir das alles anhören, ob ich wollte oder nicht. Schlichtungsversuche meinerseits fruchteten nicht das Geringste, man nahm meine Interventionen nicht einmal zur Kenntnis. Ich war in die Hölle geraten und sie fand in mir drin statt. Jahre später las ich, dass die inneren Organe eines Menschen Stationen sind, die, ähnlich wie das Gehirn, über eine eigene Intelligenz verfügen und darum genau wissen, was sie tun müssen. Diese Intelligenzen nahm ich in meinem hypersensiblen Zustand offenbar überdeutlich wahr, sodass ich sogar ihre Stimmung »hörte«. Es war ein Zustand, der dem Irrsinn nahe kam.
So vegetierte ich ein paar Wochen lang vor mich hin, ein schmerzendes, lebensunfähiges Stück Fleisch, dessen Bewusstsein sich nur noch darauf konzentrierte, den Panikimpuls einigermassen zu unterdrücken, den Lärm seiner ausser Kontrolle geratenen Innereien, den alles überlagernden, omnipräsenten Schmerz und den schreienden Durst zu ignorieren und einfach bloss die nächste endlose Sekunde zu überstehen.
Nach vier Wochen in diesem apokalyptischen Zustand verkündete eine perlende Spriteflasche, meine Wunden seien nun zufriedenstellend zusammengewachsen, sodass man als Nächstes den Luftschlauch aus der Lunge ziehen werde. Die Chance sei gross, dass ich wieder selber atmen könne. Ich solle anfangs nur nicht zu tief Luft holen, sondern lediglich oberflächlich hecheln, damit sich mein Zwerchfell wieder an seine Arbeit gewöhnen könne.
Eine freundliche Rivellaflasche machte sich dann an mir zu schaffen, kappte den Kontakt zur Lungenmaschine und begann, langsam den Schlauch durch meine Nase aus der Lunge zu ziehen. Das dauerte endlos und ich bemühte mich krampfhaft, bei dieser unangenehmen Prozedur nicht zu ersticken. Das selbstständige Atmen erwies sich in den nächsten paar Stunden als einziger Überlebenskampf, der äusserst erschöpfend war. Mithilfe eines Sauerstoffschläuchleins, das man mir an der Nase befestigte, bekam ich es nach zwei anstrengenden, schlaflosen Tagen hin, dass ich nicht jeden Atemzug willentlich ausführen musste, sondern diese Arbeit allmählich dem vegetativen System übergeben konnte.
Nachdem ich diesen wichtigen Schritt in mein neues Leben überstanden hatte, wurde ich endlich in ein helles Krankenzimmer verlegt.
Genesung
Dieses Zimmer sollte für die nächsten zwei Monate mein zu Hause sein. Aber wenn ich gedacht hatte, das Schlimmste sei nun überstanden und von nun an könne es nur noch bergauf gehen, dann lag dieser Irrtum hauptsächlich daran, dass ich bis anhin noch nie von Mister Murphy und seinem Gesetz gehört hatte.
Kennen Sie Murphy’s Gesetz? Bestimmt kennen Sie es. Dieses Gesetz, das der amerikanische Ingenieur Edward A. Murphy herausgefunden und formuliert hat, lautet verkürzt etwa so: »Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch schief.«
Nun, ich bekam eindrücklichen Erfahrungsunterricht, was dieses Gesetz betraf. Es fing damit an, dass ich entdeckte, dass meine Stimme weg war. Der Schlauch in meinem Hals hatte meine Stimmbänder so stark gedehnt, dass sie nur noch flatterten. Es kam nichts als warme Luft aus meiner Kehle. Der Arzt erklärte mir verständnisvoll, dass dies halt eines der Opfer sei, das ich habe bringen müssen, als man mir den lebensrettenden Schlauch in die Lunge gestossen habe. Stimme oder Leben, alles kann man nicht haben. Mit etwas Glück und Training würden sich aber meine Stimmbänder mit der Zeit wieder ein wenig straffen, sodass ich mich wenigstens sprachlich verständlich machen könne.
Danke, da beerdigte dieser freundliche Weisskittel gerade meine ganze gloriose Zukunft als Sänger. Ich habe gehört, dass es blinde Maler geben soll. Auch gelähmte Sprinter, die auf den Rollstuhl gewechselt haben und nun auf diesem Medium ihr Sprinter-Gen ausleben, gibt es. Da gab’s sogar mal einen gehörlosen Komponisten, der es zu Weltruhm gebracht hat. Aber ein stummer Sänger? Wozu hatte ich ein Talent bekommen, wenn es so mir nichts, dir nichts wieder weggenommen wurde?
Ich konnte immer noch ein schweigsamer Handwerker werden. Mit viel innerer Gefasstheit versuchte ich, dieses neue Element der Stimmlosigkeit in mein Leben zu integrieren, aber es gelang mir nur schwer. An manchem Morgen konnte man mein Kissen auswringen, aber nicht, weil ich geschwitzt hatte.
Als Nächstes zog man mir die beiden Vakuumschläuche aus dem Bauch und nähte die Löcher zu. Dann kam der Katheter dran, der aber in der langen Zeit irgendwie angewachsen war und nur mit einem brutalen Ruck aus der blutenden Harnröhre gerissen werden konnte. Die Folge war, dass das Wasserlösen jedes Mal zu einer höllisch brennenden Folter wurde, die ich so lange wie möglich hinauszögerte. Umso grösser waren dann der Druck und die Qual, wenn ich es nicht mehr zurückhalten konnte.
Zum Glück hatte ich aber immer noch meine vierstündlichen Spritzen, die ich mit zunehmender Inbrunst herbeisehnte. Um die Intervallzeit zu verkürzen, begann ich, laut zu stöhnen und unerträgliche Schmerzen zu veranschaulichen. Leider hatte ich das Pech, von einem Arzt betreut zu werden, der dieses Verhalten richtig deutete und Lunte roch. Zu meinem Leidwesen vergrösserte er die vier Stunden Abstand zwischen den Spritzen auf sechs. Schlimmer noch: Als es eines Tages wieder so weit war, hielt ich den Arm hin, die Schwester band ihn ab und fixte mir die beglückende Droge ins Blut. Aber nichts geschah.
Ich wartete noch zwei Minuten. Nichts. Sonst war der Flash immer nach kurzer Zeit eingefahren. Ich gab bedrohliche Laute von mir und bedeutete der Schwester, sie habe mir das falsche Zeug gespritzt, da passiere überhaupt nichts. Schweigend ging sie hinaus und kam mit dem Arzt wieder, der mir behutsam beizubringen versuchte, dass ich durch den monatelangen Drogenkonsum in eine Abhängigkeit geraten war und dass man mich nun wieder entwöhnen müsse. Man habe mir aus diesem Grund eine Salzlösung injiziert.
So war das also! Man hatte mich zum Junkie gemacht, weil man gedacht hatte, der kratzt sowieso ab, erleichtern wir ihm die letzten Tage und dröhnen ihn mit Drogen zu. Ich tobte, ich schrie, was meine zerfledderten Stimmbänder hergaben, ich verdammte innerlich die ganze verlogene, weiss gekleidete Bande und wand mich wie ein Wurm vor Entzugsschmerzen. Ohne die Spritzen wollte und konnte ich nicht weiterleben. Sie waren die einzigen Lichtblicke in meinem armseligen Dasein. Jetzt hatte man mir auch dieses letzte Glück noch genommen. Ich war ein Junkie auf Turkey und ich konnte mich nicht wehren, weil ich immer noch ans Bett gefesselt war. Selbstverständlich tat ich meinem ärztlichen Team mit diesen Vorhaltungen Unrecht, aber damals war mir das egal.
Mittlerweile wog ich bei meinen hundertdreiundneunzig Zentimetern noch knappe vierzig Kilo. Essen war nicht drin, aber ich durfte ab und zu aus einer Schnabeltasse etwas dünnen Tee schlürfen.
Nach