Elke Weickelt

Esta Sola. Sind Sie allein?


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In die Zimmer kommt es nicht, aber trockenen Fußes kommt man auch nicht auf die Straße. Die Leute nehmen es cool. Offensichtlich ist es nicht das erste Mal. Bei uns würde man anders reagieren.

      Ich helfe beim Wasser entfernen mit Eimern. Improvisation ist angesagt, das können sie mit einer selbstverständlichen Gelassenheit, die uns wohl völlig abgehen würde.

      Die nächsten Tage herrscht Unwetter: Flüge fallen aus und das Fußballspiel. Wenn ein Fußballspiel in Argentinien ausfällt, ist das für die Leute eine der größten Katastrophen, die sie sich vorstellen können, lerne ich. Die Argentinier sind verrückt nach Fußball.

      Im 19. Jahrhundert wurde er von englischen Einwanderern nach Argentinien gebracht. Darauf verweist der Name eines der wichtigsten Vereine: River Plate. 1986 holte die argentinische Nationalmannschaft den Weltmeistertitel gegen Deutschland.

      Ich verstehe nichts von Fußball, aber man kann sich dem nicht entziehen, wenn man hier Kontakt zu den Menschen haben will und man muss sich dafür interessieren, weil es ihr Leben so bestimmt.

      Genauso populär wie River Plate ist der auch aus Buenos Aires stammende Verein Boca. Die Begegnung der beiden Clubs gilt als Kampf zwischen zwei Klassen: Boca, der Arbeiterklasse, und River Plate, der Mittel- und Oberschicht. Bei vielen dieser Begegnungen gibt es Gewaltaktionen der Fans schon vor der Begegnung. Das habe ich unmittelbar miterlebt, zumal es fast das einzige beherrschende Thema der Nachrichten war und auch das Gesprächsthema überall. Es ging dann so aus, dass das Spiel nach Madrid verlagert werden musste, um überhaupt gewaltlos über die Bühne gehen zu können.

      Ich besuche den Stadtteil La Boca. Bei einer großen Stadtrundfahrt kann man überall aussteigen und dann in den nächs­ten Bus wieder einsteigen. Diese Touristenbusse fahren alle 20 Minuten. Das ist prima und bequem.

      Vor La Boca wurde ich gewarnt. Der Stadtteil liegt im Armenviertel von Buenos Aires und es wird dort wohl viel gestohlen. Überfälle soll es auch geben in den Randgebieten des Viertels. Das Zentrum ist fantastisch. Es ist ein einziges Kunstwerk mit bunt angestrichenen Wellblechhäusern. Eine Touristenattraktion mit vielen Restaurants und Bars. Man kann draußen sitzen und es werden Kunstwerke und Souvenirs verkauft. La Boca liegt am Riachuelo-Fluss und hat ein Museum für Moderne Kunst: Fundacion Proa mit dem Blick auf die alten Hafenanlagen.

      Als ich die Touristengassen mit den bunten Häusern verlasse, wird es öde und die Armut ist unübersehbar.

      Schaut man hin, sieht man viel Armut in Buenos Aires. Ich habe schon viel auf meinen Reisen gesehen, aber dass ein Säugling im Bordstein der Straße liegt, das habe ich auch noch nie gesehen. Keiner kümmert sich, es scheint niemanden aufzuregen. Die Eltern lehnen an einer Häuserwand, offensichtlich vollgepumpt mit Drogen.

      Ich spreche einen Polizisten an, aber der tut auch nichts, die Leute gehen daran vorbei. Kann ich etwas machen?

      Heute gibt es eine Demonstration von Frauen auf der Avenida de Mayo. Es sind viele. Sie kämpfen für Gleichberechtigung, für Abtreibung. Hinterher kommen die Frauen, die gegen Abtreibung sind. Und Gewalt gegen Frauen, das Thema Femizid wird auf den Plakaten aufgegriffen. Dazu erfahre ich später mehr. Die Frauenbewegung ist hier sehr aktiv. Es geht um Themen, die uns in Europa so intensiv vor vielen Jahren beschäftigt haben.

      Die Argentinier denken viel nach, diskutieren über gesellschaftlichen Wandel, sind kritisch, mutig und energiegeladen und machen ihren Mund auf: klar, deutlich, rigoros, modern, offen. So erlebe ich es jedenfalls. Das hätte ich nicht gedacht.

      Buenos Aires ist auch eine laute Stadt, ein Moloch, voll, hektisch, schlechte Luft, viel Verkehr, aber immer spannend. Eine anstrengende Stadt, am frühen Abend, ich bin müde und schlafe viel.

      Meine vornehme Zurückhaltung und mein defensives Auftreten, empfohlen in allen Reiseführern, besonders für allein reisende Frauen, gebe ich nach zwei Tagen auf. Erstens bin ich das nicht, zweitens bin ich allein und will Kontakt haben und drittens: Wenn ich die Menschen nicht anspreche, dann lerne ich auch kein Spanisch.

      Mein Spanisch ist in der ersten Zeit miserabel. Ich habe einen Fernseher im Zimmer und die Idee, beim Fernsehen mit einem Wörterbuch spanisch zu lernen. Es ist mir wichtig, wann immer möglich, die Nachrichten zu sehen. Sehr rasch kenne ich Worte wie Mord, Raub, Verhaftung, Opfer, Femizide, Vergewaltigung auf Spanisch. Das ist das wesentliche Vokabular der Nachrichtensendungen. Sie bringen immer wieder die gleichen Bilder dazu, stundenlang, den ganzen Tag, das ist eine Art Gehirnwäsche. Es wird den ganzen Tag immer wieder über Verbrechen gesprochen in vielen Gesprächsrunden. Reißerische Szenen, Mord, Überfälle, Raub und sonstige Katastrophen werden ständig wiederholt. Keine gute Idee, um Spanisch zu lernen und nicht gut für die Psyche.

      Derzeit findet hier der Weltkongress der Psychoanalytiker statt. Ich erfahre, dass es in Buenos Aires mehr davon gibt als in jeder anderen Stadt der Welt.

      Am nächsten Morgen ist überall Polizei und alles Mögliche ist abgesperrt, auch immer wieder die Avenida de Mayo. Es gibt noch mehr Demonstrationen. Es findet hier in einer Woche der G7-Gipfel statt, das internationale Treffen von sieben Außenministern. Kein Wunder, die viele Polizei.

      Ich flüchte zum Recoleta Friedhof. Mit der U-Bahn ist das völlig unkompliziert. Dieser Friedhof liegt in einem der teuersten und wohlhabendsten Viertel von Buenos Aires. Eine Ruhestätte vieler prominenter Einwohner mit eindrucksvollen Gräbern und Mausoleen. Es ist wie eine eigene Stadt, durch die man stundenlang spazieren kann.

      Am nächsten Tag lautet die Schlagzeile: Bombe auf dem Recoleta-Friedhof. Diese Bombe an einem Grab, an das ich mich gut erinnern kann, vor dem ich lange gestanden habe, muss kurz nachdem ich den Friedhof verlassen habe explodiert sein. Glück gehabt. Es wurde niemand verletzt.

      Dieses Erlebnis beschäftigt mich aber doch noch ein paar Tage. Es ist alles ziemlich ungewohnt hier und man muss doch wohl immer auf der Hut sein. Das ist anstrengend. Kein Wunder, dass ich so viel schlafe. Das kommt mir aber entgegen, weil ich nicht allein im Dunkeln durch diese Stadt gehe. Ich bin erst mal sehr vorsichtig.

      Es gibt so viel zu sehen, was mich veranlasst, zwei Wochen zu bleiben. Ich möchte alles sehr langsam machen und auch viel ausruhen, in Cafés sitzen und nur alles beobachten, ohne mich zu bewegen. Ich habe Geburtstag und überlege, was ich mir da Gutes tun kann und möchte mir etwas schenken.

      Es gibt das Café Tortoni direkt neben meinem Hotel. Ein wunderschönes altes Kaffeehaus, das 1858 von einem französischen Immigranten eröffnet wurde. Es soll das älteste Kaffeehaus von Buenos Aires sein, mit einer eleganten Inneneinrichtung, vielen Kunstwerken an den Wänden und ein Treffpunkt für Literaten, Künstler und berühmte Tangotänzer.

      Die Tangoveranstaltungen hier sind meistens ausverkauft. Mir ist das Café aufgefallen, weil sich draußen immer eine Warteschlange gebildet hat, auch schon morgens früh. Man wird durch den Portier eingelassen, wenn ein Tisch frei ist und betritt den Raum durch ein prächtiges Portal. Manche warten, je nach Tageszeit, bis zu einer Stunde auf einen Platz.

      Dieser Ort scheint mir nun für meinen Geburtstag angemessen. Dort möchte ich einen Sekt trinken und eine Köstlichkeit essen, auch wenn das wahrscheinlich sehr teuer ist und mein Tagesbudget übersteigen dürfte. Das hat es dann aber zu meinem Erstaunen gar nicht.

      Ich stoße mit mir selber an und bin sehr stolz, hier zu sein, und es ist ein Moment großer Freude. Die Verwirklichung meines Traumes hat begonnen. Ich habe in dieser kurzen Zeit schon so viel erlebt, dass ich mir abends ganz diszipliniert immer Tagebuchnotizen mache, damit ich nichts wieder vergesse. Es geht mir richtig gut und in diesem Moment vermisse ich absolut nichts.

      Nachmittags fahre ich mit der Metro ins Malba-Museum nach Palermo und sehe Spitzenwerke lateinamerikanischer Kunst; danach ins ethnografische Museum. Ich werde auf dieser Reise jedes Museum besuchen. Erstens liebe ich Museen und zweitens kann man nirgends mehr lernen.

      Einige Museen sind auch geschlossen oder in einem schlechten Zustand, ungeschützt, keine Aufsichten und mit schlechter Beleuchtung. Insbesondere die kleineren.

      Auch die Oper und das Teatro Colon kann man nicht auslassen in dieser Stadt.

      Mir brennen die Augen von der schlechten Luft.