Elke Weickelt

Esta Sola. Sind Sie allein?


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      Nach einer geführten Graffiti-Tour geht es die nächsten Tage noch zu den Shopping Meilen und Prachtkaufhäusern. Hier gibt es alles. Es bedeutet mir noch einmal, dass die Schere zwischen Armut und Reichtum gewaltig ist. Aber um das zu sehen, muss man natürlich nicht nach Südamerika.

      Für einen Abend habe ich mir eine Karte für eine Tango-Show besorgt. Tango ist ein Teil von Buenos Aires und Argentinien. Ich werde mit dem Bus abgeholt und wieder ins Hotel gebracht. Das ist gut, weil diese Veranstaltungen ja so spät anfangen und auch erst nach Mitternacht zu Ende sind. Dann muss ich nicht alleine nachts durch die Stadt zurück. Ein Abendessen ist eingeschlossen. Das ist mein Geburtstagsgeschenk für mich.

      Es ist alles sehr fein, weiß gedeckte Tische und die Damen haben sich schwer rausgeputzt. Es sind eher wenige Touristen, viele Einheimische da, was mir schon mal gut gefällt, aber ich liege natürlich mit meinem Outfit in meiner Reisekleidung voll daneben. Tut mir leid, geht nicht anders. Die Argentinierinnen sind wahre Schönheiten. Es sind für mich die attraktivsten Frauen in ganz Südamerika und sehr sexy.

      Ich werde an einen Vierertisch gelotst. Ich teile den Tisch mit einer Kanadierin, sie ist Soldatin, kurzgeschorene Haare, burschikos und ich verstehe mich gut mit ihr. Kleidungsmäßig passt es. Und dann sitzt noch ein sehr junges, sehr aufgemöbeltes, aufgekratzt lautes, expansives und überhaupt auch äußerlich auffälliges Pärchen aus USA mit am Tisch. Er wirkt wie ein Börsianer, sie wie eine Barbiepuppe. Aber sie sind nett, wenn auch irgendwie distanzlos, wie US-Amerikaner eben manchmal sind. Sie wollen uns immer umarmen und Selfies davon machen. Sie bestellen Champagner und laden uns ein und drücken ihre überschwängliche Freude darüber aus, uns kennengelernt zu haben. So ein Quatsch, sie kennen uns überhaupt nicht. Geld scheint keine Rolle zu spielen. Der Kellner wird häufig zum Nachschenken aufgefordert. Dann kommen wieder übertriebene Bewunderungen dafür, dass sowohl die Kanadierin als auch ich alleine reisen.

      Ich lasse mich auf diese Nummer ein und erlebe einen wunderschönen exaltierten und ziemlich verrückten Abend und habe selten so viel gelacht bei einigen Gläsern Champagner. Über was wir gelacht haben, weiß ich gar nicht mehr. Man muss sich auf die Dinge einlassen, auch wenn sie einem so völlig fremd sind. Das werde ich machen – wunderbar. Auf in ein Neuland. Ich werde mal meine ganzen Bewertungen und damit auch Vorurteile, die man so mit sich rumschleppt, über den Haufen werfen für dieses Neuland. Es zumindest versuchen.

      Aber die Hauptattraktion ist der Tango. Zum Weinen schön. Sie tanzen um ihr Leben. Das ist alles so surreal: dieser oberflächliche Barbiepuppen-Wahnsinn im Kontrast zur erotischen und existentiellen Melancholie dieser Musik und des Tanzes, wahrgenommen unter dem Einfluss des wahrscheinlich teuersten Champagners, den ich je getrunken habe, nachts in Buenos Aires. Die Aufführung findet in der Maldita Milonga, Peru 571, statt. In einer Milonga trifft man sich zum Tangotanzen bei Livemusik, aber es gibt auch Shows mit berühmten Tänzern.

      Ein weiterer Höhepunkt meines Aufenthaltes in dieser Stadt ist die Schwulen- und Lesben-Parade auf der Avenida de Mayo, in die ich am Samstag zufällig rein stolpere. Unglaubliche Menschen. Bin ich im Film, im Traum, Schwule, Lesben, Transsexuelle, alles, was es gibt. Faszinierende Kostüme, Auftritte, halbnackte Menschen, Glanz und Glimmer, Musik, Theater, Performances. So etwas, glaube ich, sieht man vielleicht nicht mal beim Karneval in Rio, aber da war ich noch nicht. Sicherlich aber nicht in Europa. Auch Proteste gibt es hier gegen Vorurteile und Diskriminierung, Ausgrenzung und Mord an Transgendern „basta de genozido trans“.

      Ich verbringe viele Stunden dort, schaue mir die Augen aus dem Kopf, rede mit den Leuten, versuche zu verstehen. Oft werde ich angesprochen, bekomme Rosen überreicht oder werde zu einem Drink eingeladen.

      Alle sehen so extrem fremdartig aus und sind so liebevoll und freundlich und friedlich.

      Es gibt fast keine Polizisten, es scheint alles erlaubt. Am meisten aber staune ich, dass das in Buenos Aires möglich ist. Ich habe alle Länder in Südamerika für viel strikter, autoritärer, konservativer gegenüber solchen Aufzügen und überhaupt gegenüber Demonstrationen gehalten. In Buenos Aires ist das aber offensichtlich nicht so.

      Jeden Tag, den ich länger hier bin, habe ich mehr das Gefühl, alles, was ich meinte schon zu wissen, trifft so nicht zu.

      Sonntag ist mein Hotel voll. Die Einheimischen haben Feiertag und reisen ebenfalls gerne und viel auf ihrem Kontinent, immer mit Familie. Man trifft aus fast allen anderen Ländern Südamerikas Touristen: Chile, Peru, Uruguay, Brasilien.

      Sie gehen im Schlafanzug zum Frühstück, sicher auch ungewaschen, für mich gewöhnungsbedürftig. Aber sie sind locker, begrüßen mich und fragen gleich, was ich hier tue und wo ich herkomme und überhäufen mich mit Reisetipps und guten Ratschlägen.

      Touristen aus Europa oder Asien sehe ich nicht die ersten Tage und auch später nicht so viele. Backpacker habe ich auch nur wenige gesehen.

      14 Tage bin ich in Buenos Aires geblieben. Zum Einstieg in Südamerika nicht schlecht, modern und schrill, eine Weltstadt. Aber jetzt brauche ich Ruhe.

      Bariloche

      Genug mit Großstadt, ich sehne mich nach der Weite Patagoniens. Jedenfalls habe ich diese Vorstellung vom Süden Argentiniens. Mal sehen, ob das zutrifft.

      Meine erste Station ist Bariloche, 1.600 Kilometer von Buenos Aires entfernt. Die Strecken in diesem Land sind riesig.

      Das Zimmer in meiner Hosteria ist einfach, sauber und klein. Die Dusche spendet einen dünnen heißen Strahl. Nachts ist es kalt, aber es gibt eine Heizung. Es wird spät dunkel. Diese Gegend wirkt reich und teuer. Das sieht man an den Häusern und alles ist relativ sauber.

      Bariloche, eigentlich San Carlos de Bariloche, liegt in der Provinz Negro in einem Tal der südlichen Anden am See Nahuel Huapi. Blauer Himmel, glasklarer See, schneebedeckte Berge, das Panorama unglaublich schön. Man nennt diese Gegend deswegen auch argentinische Schweiz.

      Das Wort „Bariloche“ kommt von „Vuriloche“, das ist ein Mapuche-Wort und heißt „Menschen hinter dem Berg“. Das indigene Volk der Mapuche, „Menschen der Erde“, lebt heute überwiegend in den zentralen und südlichen Regionen Chiles und Argentiniens. „Mapu“ heißt Erde und „che“ Menschen. Die Erde ist den Mapuche heilig. Sie würden sie niemals grundlos oder aus Profitgründen zerstören. Sie sind das einzige indigene Volk, das sich lange Zeit erfolgreich gegen die Inka und auch gegen die Kolonisation der Spanier gewehrt hat und unabhängig geblieben ist. Die Mapuche sind die größte ethnische Minderheit, besonders in Chile, und sie führen immer noch einen zähen Kampf um ihren Grund und Boden.

      In Bariloche leben auch viele Deutsche. Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich einige ehemalige SS-Führer hier versteckt. In einem deutschen Viertel entdeckt man Schwarzwaldhäuser, eine deutsche Schule und deutsche Bäckereien mit heimischen Backwaren, z. B. Brezeln und Streuselkuchen.

      Das wirkt auf mich befremdlich.

      Die Stadt ist bekannt auch für ihre Schokolade. Sie wird in der Hauptstraße in fast jedem Geschäft angeboten, auch in großen Schokoladenkaufhäusern. Ich bin kein Schokoladen- fan, aber probieren muss ich und tatsächlich – schmeckt gut.

      Ich könnte stundenlang am See sitzen und auf dieses Bergpanorama starren. Das befriedigt mein Fernweh und erfüllt mich gleichzeitig mit einer inneren Ruhe.

      Die vielen frei lebenden Hunde hier werden von den Einwohnern gefüttert. Ein kleiner Hund schleppt eine Plastikflasche von einem Menschen zum anderen und möchte sie geworfen haben, um sie zu apportieren. Fast jeder beteiligt sich. Jetzt bin ich dran. Er steht mit dem Ding im Maul zu meinen Füßen und stupst mich auffordernd an. Ich werfe sie in Richtung eines jungen Paares. Das funktioniert, sie sind als Nächstes dran.

      Ein junger Spanier setzt sich zu mir. Er erzählt, dass er hergekommen ist, weil sein Name wie der des Sees ist. Seine Mutter ist Argentinierin und sein Vater Spanier. Er war noch nie hier und ist fasziniert, berührt, wie schön dieser See ist, nach dem er benannt wurde.

      Menschen gehen immer wieder weite Wege oder nehmen beschwerliche Reisen auf sich, um ihren Ursprüngen auf die Spur zu kommen. Eigentlich mache ich das auch, weil ich zum Kap Hoorn will, das für