Idee für manchen. Also das hat etwas mit meiner Suche nach Ursprünglichkeit zu tun, was immer das auch ist. Entweder in einem Völkerkundemuseum, umringt von Ritualfiguren oder in einer solchen Natur. In beidem hätte ich das Gefühl, ich werde als Teil eines Ganzen aufgenommen.
Ich fühle mich wie bei Freunden. Janina sieht man immer mit einem Becher Mate-Tee schon früh morgens. Frühstück braucht sie nicht, nur Mate, sagt sie.
Mate ist sehr speziell. Mate trinken ist ein soziales Ritual. Der Matestrauch wächst in Südamerika. Die kleingeschnittenen Blätter werden in ausgehöhlten Kalebassen mit heißem Wasser immer wieder aufgegossen. Deshalb tragen Mate-Trinker immer eine Thermosflasche mit heißem Wasser bei sich. Das gehört zur Ausrüstung wie die Kalebasse und die Bombilla, ein Metalltrinkrohr mit Sieb vorne, durch das der Mate geschlürft wird. Dann wird wieder Wasser nachgegossen und die Kalebasse wird wie eine Friedenspfeife weitergereicht. Das ist ein wichtiger sozialer Aspekt dieses Rituals. Mir scheint es wie ein Suchtmittel, obwohl sie das weit von sich weisen, aber bei manchen Menschen geht es nicht ohne den Becher, den Trinkhalm und die Thermosflasche.
Wenn wir in Europa Kaffee, Nikotin und Alkohol konsumieren, was sie hier viel weniger tun, dann trinken sie hier Mate. Janina bestätigt, dass Mate sie fit macht und den Hunger hemmt.
Viele Argentinier sind sehr dick und essen viel Fett und Zucker. Die, die abnehmen wollen, regeln das oft mit Mate, sagt Janina.
Ich habe Mate gekostet und finde ihn grässlich bitter. MateTrinker findet man am meisten in Uruguay, Paraguay, Argentinien, aber auch in Brasilien. Schon die Ureinwohner haben das getrunken.
Janina ist Lehrerin und erzählt, dass das Hauptproblem für viele Kinder sexueller Missbrauch ist. Das ist sehr häufig in Zentral- und Südamerika und eben auch in Argentinien. Das Bewusstsein eines Verbrechens ist bei vielen Menschen nicht vorhanden und die fatalen Folgen für die Kinder auch nicht. Die Aufklärung darüber fehlt in der öffentlichen Diskussion, auch bei den Indigenen. Für viele ist das normal. Sie würden es auch nicht Missbrauch nennen.
Ist das eine kulturelle Frage? Kann etwas schlimm sein, wenn es in einer Kultur normal ist? Wenn es für uns eine Horrorvorstellung ist, aber in einer anderen Kultur dazugehört?
Was ist schlimm? Frage ich mich. Für jeden etwas anderes? Eine Frage der unterschiedlichen Traditionen? Die Frage reicht vom sexuellen Missbrauch bis zum Meerschweinchen essen.
Die kleinen Straßen am See sind gesäumt von blühendem gelben Ginster. Diese Farbe vor dem Hintergrund der schneebedeckten Berge und tiefblauen Seen, das ist wie ein Gemälde.
Man kann hier tagelang wandern. Einmal verlaufe ich mich. Vereinzelt gibt es am See teure Wochenendhäuser. Nach vier Stunden finde ich den Weg nicht zurück. Ich habe kein Googlemap und werde mich auch wider alle Ratschläge bis zum Ende der Reise dem verweigern. Ich habe die Traveller gesehen, die in ihr Gerät starren und niemals jemanden nach dem Weg fragen. Ich habe so viel Freundlichkeit, Information und Kontakte erfahren durch das Ansprechen von Menschen, durch das Fragen nach dem Weg, das möchte ich niemals missen.
Abgesehen davon habe ich das Smartphone meist im Hotel, damit es nicht geklaut wird. Das ist sicher nicht klug, denn wenn mir etwas passiert – und ich bin ja meist allein unterwegs, wäre es eine Hilfe, aber ich kann mich nicht daran gewöhnen. Ich will es nicht und immer kann man auch nicht vernünftig sein. Wo es Menschen gibt auf der Welt, da kann man fragen.
Also klopfe ich an einem dieser Wochenendhäuser an und frage nach dem Weg. Da ich natürlich auch die genaue Adresse meiner Unterkunft nicht dabei habe, wird es ein längeres Gespräch mit dem freundlichen Besitzer – nur der Hund ist nicht so freundlich, er scheint gar fremdenfeindlich zu sein, – wird aber gut im Zaum gehalten.
Ich finde dann zurück – obwohl mich unterwegs nochmals Zweifel packen über die Richtung und es dauert noch einmal vier Stunden. Ich bin ein großer Verläufer – Orientierung schwer mangelhaft. Aber bislang bin ich trotzdem noch überall hingekommen. Leichte und schwere Frustrationszustände eingeschlossen. Dann bin ich fix und fertig, aber es war trotzdem ein wunderschöner Tag. Als Souvenir habe ich einen kleinen Sonnenbrand im Gesicht mitgebracht, trotz 50-prozentigem Sonnenschutz. Die Sonne ist hier ganz anders als bei uns.
Mit einer Tour fahre ich nach San Martin de los Andes. Das Städtchen liegt am Lago Lacar und ist bekannt für Fischen, Wandern, Kanu- und Skifahren. Hübsch, aber mir zu touristisch.
Die Straße von Villa la Angostura nach San Martin de los Andes nennt sich die Route der sieben Seen, eine der schönsten Straßen in Patagonien. Sie führt an sieben Seen vorbei. An jedem machen wir eine ausgedehnte Pause.
Man sieht hier viele Fahrradfahrer, Reisende, die sich schnaufend mit dem gesamten Gepäck die Anden hochquälen und immer einen, wie ich finde, leidenden Gesichtsausdruck haben. Aber sie scheinen es zu lieben. Jedes Mal wenn der Bus einen überholt, frage ich mich, warum machen sie das. Und bei den Straßen hier und wie die Busse manchmal fahren, finde ich es total gefährlich, aber das ist nur meine Sichtweise.
Von Villa la Angostura geht es mit dem Bus nach El Bolson weiter.
Ich bin ein pünktlicher und zuverlässiger Mensch. Diese Eigenschaften kann man gleich mal total vergessen in Südamerika. Da sind sie eher peinlich. Sie weisen einen im Übrigen auch immer als Deutschen aus. Und man kommt damit nirgends weiter und rutscht von einer Blamage in die andere. Obgleich die Südamerikaner die Deutschen wegen ihrer Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit und ihrer strengen Regeln bewundern, wie sie mir oft bestätigt haben, und dass sie deshalb auch gerne in Deutschland leben würden. Dass sie sich selbst entsprechend verändern können, glaube ich nicht, weil sie so eben nicht sind. Das ist ein Teil ihrer Kultur.
Der erste Bus, um zehn Uhr soll er gehen. Um halb elf – der Busfahrer steht neben dem Bus – frage ich dann mal nach, wann denn der Bus nun abfährt. Die Antwort ist: zehn Uhr.Darauf zeige ich dem Fahrer meine Armbanduhr und weise ihn darauf hin, dass es halb elf ist. Er äußert sich erstaunt und gibt dann an: „O passe“.
Das war’s. Was immer das nun bedeuten mag. Ich kann es nicht herausfinden. Also: Warten, warten warten ... um kurz vor elf Uhr fährt der Bus ab. Als ich endlich drin sitze, denke ich über das Glück des Wartens nach, wenn man sich denn darauf einlässt und das tut man in dem Moment, indem man aufhört zu hadern, z. B. mit der Ungeduld und sich einmal umschaut, was um einen herum gerade los ist. Und es ist immer etwas los, meist sind auch Menschen da und Menschen sind immer interessant.
Warten als etwas ganz Eigenständiges, Erfüllendes, ein Geschenk, eine Chance, nicht eine Frustration.
Mir fällt dabei ein Gedicht von Gabriele Stolz ein, zum Scheitern, zum Suchen, zum Finden ohne Fundstück, ohne Ende, die Vielfalt, die es zu entdecken gibt im Unterwegssein.Sie hat es mir für meine Reise geschickt.
An einem schönen Augusttag scheitern
ist wie aus einem unbestimmten Ausland
in eine Heimat zurückkehren.
Nicht wandern in einem Raum, hin und her,
auf Gedankenwegen unterwegs.
Gedankengänge –
ohne einen zu verfolgen,
ohne von der Stelle gekommen zu sein;
das eröffne den Ausweg.
So jedenfalls erzählt es die Geschichte vom Finden.
Aber sie hat keinen zureichenden Grund,
sondern führt nur durch ein Gelände
der Übergänge.
Auch Warten ist für mich jetzt eine Form des Unterwegs-seins.
Viele Monate später hatte ich in Ecuador das erste Mal in meinem Leben den Bus verpasst und ging dann einfach eine Stunde später zum Busbahnhof, in der Hoffnung, dass noch einer an diesem Tage fahren würde. Da war meiner gerade gestartet, ich winkte und auf der Straße hat mich der freundliche Busfahrer wie selbstverständlich aufgelesen. Ich war froh. Ich liebe Südamerika.
El Bolson
El