Cédric Herrou

Ändere deine Welt


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sah, und nahm sie trotzdem nicht mit, weil sie Flüchtlinge waren! Ich war ein Bündel von Widersprüchen.

      1999, mit neunzehn Jahren, war ich für mehrere Monate nach Afrika gefahren, zunächst ohne recht zu wissen, warum. Vielleicht wollte ich einfach fliehen, anderen Kulturen begegnen und herausfinden, ob sie sich mit meiner eigenen vertrugen. Dieser Trip wurde zu einem Entwicklungsschritt für mich, der mich befreite und mir Zugang zu einem vergessenen, mir abhanden gekommenen Teil meines Ich verschaffte. Denn in der Schule wird intuitives Erfassen nicht gefördert, sondern unterbunden. Ich bin weggefahren, um jene Intuition aus der Kindheit wiederzuentdecken, die mich die Leere, die emotionale Leere der Erwachsenenwelt hatte spüren lassen. Ich fuhr weg, um mir endlich selbst zu vertrauen, und akzeptierte, dass ich mich auch täuschen konnte. Um endlich selbst zu entscheiden, nicht nach dem Zufallsprinzip.

      Manche sagen, man müsse »aufs Schicksal vertrauen«, aber das Schicksal kann mich mal! Daran glauben heißt an eine Allmacht glauben, und das ist nicht mein Fall. Das Einzige, was dem vielleicht nahekommt, ist die schöpferische und erfinderische Erde, aber sie ist zugleich so verletzlich, dass sie alles andere als allmächtig ist. Nur Bauern und Gärtner können die Faszination und die Achtung verstehen, die ich ihr entgegenbringe.

      Der Glaube ans Schicksal macht passiv, da man es ja für vorgezeichnet hält. An eine Bestimmung und einen einzigen Weg zu glauben heißt, die eigene Intuition zu ignorieren, die Verantwortung abzugeben. Ich bin im Gegenteil überzeugt, dass es Tausende mögliche Wege gibt. Statt von Schicksal würde ich lieber von einem tiefen Verständnis sprechen. Auf seinen Instinkt zu hören, hat nicht zwangsläufig angenehme und einfache Dinge zur Folge. Es kann sein, dass man sich in große Schwierigkeiten bringt, wenn man blindlings handelt, wie ich es in meinem Leben allzu oft getan habe. Aber, wie mein Bruder Morgan sagen würde, »Bequemlichkeit schläfert ein«; sie verflacht das Leben.

      Ich fuhr durch Marokko und Mauretanien bis nach Senegal. Eigentlich wollte ich noch weiter nach Ghana, aber ich war in einer prekären Situation und erschöpft; in Dakar hatte man mir mein Geld und meinen Pass geklaut, und in meiner Abwesenheit war meine Großmutter gestorben, an der ich sehr hing. So kehrte ich im Herbst 1999 überstürzt nach Frankreich zurück – ein Schock. Ich traf meine alten Freunde aus Levens wieder, einer kleinen Gemeinde nördlich von Nizza, wohin meine Eltern aus dem Arianeviertel gezogen waren. Nichts hatte sich geändert. Wir saßen auf den Bänken im Park, und ich stieg genau dort in die Gespräche wieder ein, wo ich zuvor ausgestiegen war. Für meine Freunde war die Zeit stehen geblieben, während für mich alles in Bewegung gekommen war.

      Weil ich nicht in Frankreich bleiben wollte, kaufte ich in Deutschland einen Mercedes 300 Break. Mein Ziel: zurück nach Afrika. Bis es losgehen könnte, schlief ich in der Karre. Ich machte Party ohne Ende, verpulverte meine Ersparnisse für Feten und Hasch, suchte jeden Abend Spaß in Bars oder bei Kumpels. Dann knallte mein Auto in einer Regennacht gegen eine Brüstung, Frontscheibe zersprungen, Motorhaube kaputt – mein Afrikaprojekt war gefährdet. Ich schlief weiter in dem fahrbaren Wrack, am Ende eines Waldwegs, bei minus zehn Grad.

      Um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete ich für eine Zeitarbeitsfirma als Automechaniker, wechselte aber immer wieder die Stelle, weil ich nach jeder abfälligen Bemerkung eines Chefs, ohne lang nachzudenken, kündigte. Ich ertrug weder autoritäres Auftreten noch Ungerechtigkeit, ich war nicht gemacht für ein Angestelltenleben. Ich versuchte mich als Saisonnier auf Segelschiffen (auf dem Deck, in der Takelage), aber die Arbeit auf Jachten war nichts für mich, weil man, um angeheuert zu werden, den Kumpel spielen musste. Ich hatte eine Menge verschiedener Jobs, von Drahtseilakrobatik – ein kompletter Bluff, ich hatte meinen Lebenslauf gefälscht – bis zum Beschneiden von Olivenbäumen in Schwarzarbeit.

      Ich wusste nicht recht weiter und wünschte mir ein Stück Land, um meine Kinderträume zu verwirklichen: Hütten bauen, Hühner, Hunde, Katzen halten. Ich musste mich wieder auf diese Träume konzentrieren, mir meine kleine Welt schaffen. Aber wo sollte ich mich niederlassen? Wo immer ich hinkam, schaute ich mir noch das kleinste verlassene Stückchen Land daraufhin an, ob sich vielleicht ein heruntergekommenes Gebäude darauf versteckte. Eines Tages zeigte mir Yvan, ein Freund, der ein paar Kilometer von Breil-sur-Roya entfernt einen alten Olivenhain wieder nutzbar gemacht hatte, die andere Hangseite, wo er sich ursprünglich hatte niederlassen wollen. Ein abgelegenes Terrain, nicht zu steil, mit üppiger Vegetation und einigen daraus aufragenden vertrockneten Olivenbaumkronen, Überbleibsel einer früheren Bewirtschaftung.

      Für nicht mal zehntausend Francs erwarb ich dieses kleine Stück undurchdringliches Dickicht: Eichen, Meerkirsche, Sumach, Buchs und Hunderte von Ginstersträuchern. Die Leute in Breil müssen über diesen 23-Jährigen gelacht haben, der ein völlig wertloses Stück Land kauft. Seit der Vorkriegszeit verwahrloste hier alles. Manche nutzten diesen Dschungel nach Gutdünken, wie die Jäger, die knapp an dem Zelt vorbeischossen, in dem meine Freundin Inger und ich schliefen, solange wir nichts Besseres hatten. Ich musste nur lauter sein als sie, das hatte ich im Arianeviertel gelernt und es funktionierte im Royatal wie in der Banlieue – nicht nötig, sich zu prügeln, du knurrst ein bisschen, um zu zeigen, dass du keine Angst hast, und die Lage entspannt sich.

      Unter der Woche arbeitete ich als Automechaniker in Nizza, und jeden Freitagabend stiegen Inger und ich mit der Sichel in der Hand den Berg hinauf, um mit der Hilfe von Freunden und meinem Bruder bis Sonntagabend gegen das Dickicht anzukämpfen. In weniger als einem Jahr wurde das einen Hektar große Gelände von Gestrüpp befreit, die Olivenbäume gründlich beschnitten. Ich würde mich fünf bis zehn Jahre gedulden müssen, bis ich kräftige, Früchte tragende Bäume hätte. Aber woher sollte ich Wasser bekommen? Die Wasserrechte waren Bestandteil des Kaufvertrags, aber die Verbände, die die beiden Bewässerungskanäle betrieben, von denen einer so viel Wasser führte, dass niemand wusste, wohin damit, weigerten sich, mich anzuschließen. Ich warnte sie: »Eines Tages wird dieser Kanal nicht mehr funktionieren, wenn nicht junge Leute da sind, die euch helfen.« Aber sie wollten nicht. Heute ist einer der Kanäle außer Betrieb.

      Da wir keinen Kanalanschluss hatten, trugen wir das Wasser in Kanistern auf dem Rücken hoch, bis ich eines Tages an die hundert Meter unterhalb meines Grundstücks eine Quelle entdeckte. Aber wie sollten wir das Wasser ohne Strom hochbefördern? Ein Freund erklärte mir das Pumpsystem des sogenannten hydraulischen Widders, das der Erfinder des Heißluftballons, Joseph Montgolfier, 1792 ersonnen hatte. Man leitet Wasser zu einer tiefer gelegenen Stelle und stoppt den Wasserlauf dann abrupt, wodurch ein Überdruck entsteht, der das Wasser um weit mehr als fünfzig Meter steigen lässt. Ohne Dieselöl, ohne Strom, einfach und magisch! Ich war begeistert.

      Ein Jahr nach dem Kauf war ich endgültig auf diese grünen Hangterrassen umgesiedelt, die die Bewohner von Breil aufgegeben hatten, um ihren Kindern eine sicherere Zukunft bieten zu können. Es gab eine Zeit, da pflanzten die Eltern Olivenbäume für ihren Nachwuchs, jetzt aber war die Zeit, da sie sie verkauften, um die Zukunft ihrer Kinder zu finanzieren. In Breil ist ein Kind, das es geschafft hat, ein Kind, das weggegangen ist. Dann kreuzten die Hippies, die alternativ angehauchten Wohlstandsbürger und die Stadtflüchter in der Absicht auf, sich auf dem aufgegebenen Nutzland niederzulassen. Eine »Invasion«, die von den Ortsansässigen als Provokation, ja als Beleidigung empfunden wurde.

      Dank biologischer Landwirtschaft und deren Aktivisten konnten sie sich als Kleinbauern im Royatal ansiedeln, sodass die Mehrheit der Landwirte hier inzwischen zugezogene Städter sind. Aber die Unterscheidung zwischen »Einheimischen« und »Aussteigern« besteht weiter. Ich wusste von Anfang an, dass ich nie wirklich integriert sein würde. Man muss nicht aus dem Sudan oder aus Eritrea kommen, um in Breil als Fremder angesehen zu werden. Und so zögerte ich, anderen »Fremden« zu helfen, die die Straße heraufkamen.

      1 Der Ausdruck black, blanc, beur (»schwarz, weiß, arabisch«) entstand in den achtziger Jahren, und zwar in Anlehnung an das »Bleu, blanc, rouge« der Trikolore.