Cédric Herrou

Ändere deine Welt


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      5. Die Kirche Sant’Antonio

      Diese Menschen laufen zu sehen, störte mein kleines Ego, sie konfrontierten mich mit meinen Widersprüchen. Ich konnte nicht länger passiv bleiben, ich musste mich einmischen, auf die Gefahr hin, meine Freiheit zu verlieren. Aber so etwas durfte niemand hinnehmen. Die Männer, das ging ja noch – sie waren erwachsen, sie konnten sich durchschlagen und zwanzig Kilometer kraxeln. Aber den Frauen, den Kindern, den Schwachen musste ich helfen, nicht unbedingt ein Quartier geben, doch sie zumindest zum Bahnhof fahren, damit sie von dort weiterkamen. In normalen Zeiten war ich ein Einzelgänger auf meinem Berg. Damit war jetzt Schluss, zu lange schon hatte mich mein Schweigen zum Komplizen gemacht.

      Den letzten Anstoß gab mir der Zufall. Ich war mitten am Tag nach Ventimiglia unterwegs, um Futter für meine Hühner zu kaufen, als mir am Straßenrand eine Familie entgegenkam. Ich sagte mir: »Wenn sie auf der Rückfahrt noch da sind, halte ich an.«

      Damals glaubten wir Bewohner des Royatals, es sei prinzipiell verboten, Migranten zu helfen. Zumal in Anbetracht unserer Grenznähe. Vier Jahre später hat unser Kampf das Gegenteil bewiesen.

      Auf dem Rückweg holte ich die Familie ein und bot an, sie mitzunehmen. Sie willigten ein und zeigten auf den höchsten Punkt des Tals: »Paris?«

      »No, Breil-sur-Roya! Train first, after Paris.«

      »Ok.«

      Der Mann, der sympathisch wirkte, stieg vorn ein; die Mutter kletterte mit den beiden Kindern hinten in den Kastenwagen und blieb stumm. Ich fuhr sie zum Bahnhof von Sospel, wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Das würde nicht die Welt verändern, aber sie wollten es.

      Am übernächsten Tag rief er mich an. Ich fragte: »Seid ihr gut in Paris angekommen?«

      »No, in Ventimiglia.«

      »Where?«

      »In the church in Ventimiglia.«

      Völlig überrascht rief ich: »Ok, I’m coming.«

      Scheiße. Warum hatte ich das gesagt? Sollte ich wirklich hinfahren? Was könnte ich dort tun? Ich schnappte mir meine abgewetzte Lederjacke, stieg in meine Bergschuhe und rannte den steilen Abhang zu meinem C15 hinunter.

      Ich hatte schon von dieser Kirche in Ventimiglia gehört, die seit Monaten ihre Türen für Geflüchtete öffnete, vor allem, um Frauen, Kindern und Familien einen sicheren Ort zu bieten. Vor dem verschlossenen Tor angekommen, winkte ich einem Typ, der fortging und mit einem Weißen zurückkam, einem Italiener. Durch das Gittertor erblickte ich die kleine Familie, die mir zulächelte. Der Italiener schloss ihnen das Tor auf und ließ sie hinaus.

      In gebrochenem Englisch erklärten die Eltern mir ihr Missgeschick: Sie waren noch im Bahnhof von Sospel im Zug vorläufig festgenommen und dann für die Nacht aufs Kommissariat von Menton gebracht worden, ohne etwas zu essen und zu trinken zu bekommen, und dann hatte man sie auf dem Ponte San Ludovico der italienischen Polizei übergeben. Von dort waren sie nach Ventimiglia gelaufen.

      Sie wollten nach Paris, um Asyl zu beantragen, denn in ihrer Heimat herrschte Krieg. Warum konnten sie den Antrag nicht an der Grenze stellen? Das wäre doch einfacher gewesen.

      Der Italiener lud mich ein, die Kirche zu besichtigen. Die Flüchtlingsaufnahme befand sich im Untergeschoss: eine schöne Küche ganz aus Edelstahl, zwei große Räume, die als Schlafsäle dienten, einer für die Frauen und Familien, der andere für die unbegleiteten Kinder. Mir zog sich das Herz zusammen beim Anblick der Etagenbetten, voneinander abgetrennt durch herabhängende Decken, um ein Gefühl von Privatsphäre zu vermitteln. Unter den Blicken der hilflosen Eltern und den herumtobenden Kindern fühlte ich mich wie ein Voyeur. Aber ich wollte verstehen. Wie lange blieben die Menschen hier?

      »Nur so lange, bis sie es nach Frankreich schaffen«, antwortete der Italiener. »Den meisten gelingt es nach mehreren Versuchen. Aber manche Familien werden bei der Festnahme getrennt. Und die Jugendlichen riskieren viel: Sie laufen die Autobahn entlang, verstecken sich in den Zügen, zwischen den Waggons, auf dem Dach oder in den Schaltschränken, sie klettern nachts gefährliche Gebirgspfade hinauf. Manche wohlhabenden Familien haben zwar die Mittel, einen Schleuser zu bezahlen, die meisten aber nicht, und junge Mädchen müssen sich prostituieren, um es zu schaffen.«

      Ich war erstarrt, empört. Warum zwang man sie zu so riskanten Aktionen? Warum zwang man sie in die Illegalität, bevor man sie am Ende doch legalisierte? Wieder hatte mich jenes neue Gefühl gepackt, das Schuldbewusstsein, dass ich achtlos gewesen war, weit weg von dem, was in meinem Tal passierte. Mein Körper verkrampfte sich, als erfüllten ihn meine Tränen mit Schmerz. Ich hatte Angst, Angst vor mir selbst, vor den anderen, vor dieser Kirche, Angst vor den Gendarmen, Angst vor dem, was ich sah, und vor diesem Gefühl in meinem Bauch, das mich zwang zu sehen, was ich nicht sehen wollte. Meine Fragen machten mich verrückt.

      Ich blieb eine Weile stumm, dann überließ ich mich dem Instinkt, der mich drängte, meine Ängste zu überwinden. Ich nahm all meinen Mut zusammen und bot der Familie an, sie zu mir nach Hause mitzunehmen. Dann würde ich bei der Bürgerinitiative Roya Citoyenne um Rat fragen. Dieser Entschluss brachte mich in Gefahr, denn es war verboten, Personen ohne gültige Aufenthaltspapiere zu befördern, selbst wenn sie später vielleicht einen legalen Status erhielten. Aber für mich war jedes Individuum, auch ohne Papiere, ein vollwertiger Mensch und hatte Anspruch auf Hilfe.

      Kurz darauf war die Familie mit nichts als zwei kleinen, ein paar Kilo leichten Rucksäcken startklar. Sie konnten wieder lächeln, ihre Augen leuchteten. Der Italiener straffte sich und sah mich argwöhnisch an: »Was tust du da?«

      »Nichts, wir gehen nur in der Stadt was essen.«

      Er wusste, dass ich log, ließ uns aber fahren. Wir gelangten ohne Probleme nach Breil. Einige Wochen zuvor hatte ich einen Wohnwagen gekauft, als Unterkunft für die WWOOFer, jene Freiwilligen, die eine Zeitlang beim Bioanbau helfen. Mein Bruder, der sich regelmäßig Baumaterial mit dem Helikopter zu seinem hoch gelegenen Haus bringen lässt, vermittelte mir den Kontakt zu der Firma, die den Wohnwagen dann zu mir hinaufbeförderte. Die Mitglieder dieser Familie waren meine ersten Gäste.

      6. Das aufgegebene Royatal

      Damals wusste ich weder etwas über Asylrecht noch über Eritrea oder den Sudan. Von Libyen hatte ich dank Sarkozy und seinem Freund Gaddafi schon gehört, aber mehr auch nicht. Ich bin weder Historiker noch Geograf und schon gar kein Politiker, aber ich lebte seit dreizehn Jahren in diesem Tal, und zu sehen, wie diese Grenzen aus ihrer Asche wiederauferstanden, stellte mich vor Fragen. Wie konnte im Schengenraum die Personenfreizügigkeit derart eingeschränkt werden? Warum blieb Frankreich gegenüber dem Los dieser Menschen gleichgültig? Die Art und Weise, wie der Staat mit dieser Situation umging, erschien mir verantwortungslos. Wie konnten sie von Paris aus entscheiden, das Royatal aufzugeben und diese Migranten im Stich zu lassen?

      Für unser Tal war die plötzliche Grenzschließung ein Schock, ein Angriff. Das Royatal war seit jeher eine Durchgangsstation, in der man auf Grenzen pfiff. Bestimmten Personen, die aus Südeuropa kamen und im Allgemeinen dunkelhäutig waren, war das auf einmal nicht mehr möglich.

      Das Verrückteste war, dass die Grenzkontrollen im Westen des Royatals wieder eingeführt wurden, als läge es nicht in Frankreich. Das Ergebnis: Es war sehr leicht, von Ventimiglia nach Breil zu kommen, ohne kontrolliert zu werden. Doch wenn man von Breil nach Nizza wollte, sah die Sache ganz anders aus. War man erst mal drin, erwies sich das Royatal als Fischreuse, aus der man praktisch nicht mehr entkommen konnte.

      Ich konnte den Blick der Kinder in der Kirche nicht vergessen. Die Worte des Italieners klangen mir noch in den Ohren: auseinandergerissene Familien, Kinder auf der Autobahn,