Wenn dann noch mehrere Bedrohungen gleichzeitig auf uns einprasseln – oder auch solche, die wir nicht lösen können –, geraten wir möglicherweise in einen überhitzten Stresszustand. Dann kommt es vor, dass wir so müde und zerstreut sind, dass wir nicht einmal mehr mit den Problemen fertig werden, für die der Survive-Channel ursprünglich geschaffen wurde. Am Ende drehen wir uns im Kreis, ziehen uns zurück, erstarren – und so wird oft unsere Fähigkeit, neue Chancen zu erkennen, überwältigt. Wir sind nicht mehr in der Lage, einen Schritt zurückzutreten und kreativ zu überlegen, und schon gar nicht können wir dann unser Verhalten so ändern, dass wir rasch von irgendwelchen Gelegenheiten profitieren. Und wie sollen wir in diesem Zustand andere zusammentrommeln, um Chancen zu nutzen, wenn wir selbst kaum noch funktionieren?
In der heutigen Welt des raschen Wandels, in der immer mehr Bedrohungen und Chancen auftreten, sind überhitzte Survive-Zustände nichts Ungewöhnliches. Das kann entweder an der schier riesigen Zahl der wahrgenommenen Bedrohungen liegen oder an unserer Umgebung, die uns so viele Beschränkungen auferlegt, dass wir nicht einmal einzelne Bedrohungen beseitigen können.
Beispiele für Unternehmen in überhitztem Survive-Modus lassen sich sehr leicht finden. Vor wenigen Jahren hatte ein Konsumgüterhersteller eine zu hohe Produktion für die bestehende Nachfrage. Er hatte Überkapazitäten in den falschen geografischen Regionen und Produktkategorien und gleichzeitig nahm ihm ein Konkurrent, der mit neuer Technologie erfolgreich die Kosten gesenkt hatte, mit billigeren Angeboten Marktanteile ab. Das Leitungsgremium der Firma tat, was es schon unzählige Male beobachtet hatte: Es initiierte eine Restrukturierung. Als bekannt wurde, dass Stellen gestrichen werden sollten, verfielen nicht nur einzelne Beschäftigte, sondern ganze Unternehmensteile in den überhitzten Survive-Modus. Sorge (ebenso wie Wut und Stress) nahmen zu und die Arbeitsmoral sank. So ließ auch die Produktivität nach und die Innovationsfähigkeit wurde von der großen Ermüdung, die durch den Zustand entstand, und von der damit verbundenen eingeengten, rein auf die Bedrohung konzentrierten geistigen Anstrengung außer Kraft gesetzt.
Keines dieser Probleme hielt das Leitungsgremium davon ab, das zu tun, was es widerstrebend als notwendig erachtete, um die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Die Kosten wurden gekürzt, ein paar Niederlassungen wurden geschlossen und Menschen verloren ihre Arbeit. Es waren keine drakonischen Maßnahmen, aber sie waren für alle Beteiligten sehr unangenehm.
Zwei Jahre später war die Restrukturierung offiziell »abgeschlossen« und sie erwies sich nach gewissen Standards sogar als erfolgreich. An Orten, wo wenig Nachfrage bestand, waren die Kosten bedeutend reduziert worden. Doch die Ersparnisse wurden durch die weiterhin niedrige Produktivität vermindert.
Noch wichtiger war jedoch Folgendes: Während des gesamten Restrukturierungsprojekts waren kaum bis gar keine Produktinnovationen entstanden, obwohl Programme zur Schaffung neuer Angebote existierten. Noch vor drei Jahrzehnten wäre eine solche Pause in der effektiven Produktentwicklung kaum der Rede wert gewesen, da sich die Welt damals noch langsamer drehte. Doch jetzt nutzten zwei jüngere Wettbewerber Veränderungen am Markt geschickt aus und brachten neue Angebote heraus. So erwarben sie Marktanteile und schufen auf diese Weise ein neues Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage für die restrukturierte Firma.
Der CEO zog sich in den Vorruhestand zurück. Sein Nachfolger startete einige neue Initiativen zur Kostenkürzung und versuchte, von oben herab starken Druck auf den Produktentwicklungsprozess auszuüben. Doch nichts davon erzeugte die erwünschten Ergebnisse in dem erforderlichen Ausmaß. Die mangelhafte Kenntnis der wahren Problemursachen führte unweigerlich zu mangelhaften Lösungen. So ist es immer.
Aber es gibt Lösungen. Wer sie finden will, muss jedoch sowohl den Survive-Channel als auch seinen jüngeren, weniger dominanten Begleiter, den Thrive-Channel (»Entfaltungskanal«), kennen.
Der Thrive-Channel hat ebenfalls ein Radarsystem, aber es sucht nicht nach Bedrohungen, sondern nach Chancen. Wenn das System Möglichkeiten erkennt, wird ein interner Mechanismus aktiviert (das parasympathische Nervensystem), der eine andere Kombination chemischer Stoffe ausschüttet als der Survive-Channel (beispielsweise Oxytocin und Vasopressin). Die Thrive-Reaktion erhöht ebenfalls unseren Energielevel, treibt ihn aber nicht auf die Spitze. So weckt der Thrive-Modus nicht Sorge und Wut, sondern geht mit Gefühlen wie Leidenschaft und positiver Aufregung einher. Unser Blickfeld wird nicht eingeengt, sondern oft noch vergrößert, da die Wissbegier bezüglich der neuen Gelegenheit das Gesichtsfeld erweitert. Wenn also keine Reaktion der Angst um unser unmittelbares und persönliches Überleben ausgelöst wird, sondern positive Emotionen fließen, sind wir offener für Kooperation, Kreativität und Innovation. Körper und Geist suchen nach Möglichkeiten, wie wir uns auf die neue Chance zubewegen können. Und wenn wir dann auch noch Hinweise auf Fortschritte erkennen, lässt sich das erhöhte Energieniveau bemerkenswert lange aufrechterhalten, ohne dass wir uns ausgebrannt fühlen.
Wir stehen heute vor der grundlegenden Tatsache, dass intelligente Veränderungen in ausreichendem Tempo und Ausmaß nur zu erreichen sind, wenn wir verhindern, dass der Survive-Channel überhitzt, und wenn wir gleichzeitig bei einer genügend großen Zahl von Personen den Thrive-Channel aktivieren. Mit dieser Herausforderung haben die Unternehmen aus zahlreichen Gründen zu kämpfen.
Die fundamentalste Ursache der Schwierigkeiten liegt darin, dass eine Vielzahl von Veränderungen in den letzten Jahrzehnten die Stressreaktion übermäßig stimulieren. Das Problem reicht von der C-Suite bis hinunter an die Frontlinie und es blockiert die ausreichende Aktivierung der Entfaltungsreaktion. Die breitere Verfügbarkeit von Daten und ihre häufigere Anwendung ist beispielsweise in vielerlei Hinsicht ein Vorteil für verlässliche Resultate und hilft gelegentlich sogar beim Aufspüren neuer Chancen. Aber die konstante Bombardierung mit Daten und Messwerten, die alle potenziell auf Probleme hinweisen, kann den Survive-Channel auch übermäßig stimulieren. Damit werden wir uns an anderer Stelle in diesem Buch noch ausführlich beschäftigen.
Abbildung 2.1: So wirken die natürlichen Anlagen positiv
Auch die dauerhafte und rund um die Uhr bestehende Vernetzung der ganzen Welt kann die Aktivierung des Survive-Channels verstärken. Wenn um vier Uhr morgens eine E-Mail-Nachricht eintrifft, stuft das Gehirn sie automatisch als Krise ein, auch wenn sie gar keine ist. Das Gleiche gilt für die Textnachricht, die uns unerwartet beim Morgenkaffee stört.
Die sozialen Medien mit ihrer unendlichen Kapazität, uns anderen gegenüber unvorteilhaft darzustellen, können den Survive-Channel aktivieren. Sie beeinflussen immer größere Bereiche unseres Lebens und bringen sowohl Vorteile als auch unbeabsichtigte Probleme mit sich.
Durch die persönlichen und beruflichen Bedrohungen im Rahmen der Covid-19-Pandemie wird das Überlebensradar in höchste Alarmstufe versetzt. Die Bedrohungen scheinen mit immer größerer Häufigkeit in den Abendnachrichten über uns hereinzubrechen und sie lösen eine langfristige Unsicherheit bezüglich unserer eigenen Gesundheit und der Gesundheit der Menschen, die wir lieben, aus, und ebenso große Sorgen um unsere Arbeit und die globale Wirtschaft.
Weil wir immer mehr Informationen aus aller Welt erhalten, haben wir auch viel mehr, über das wir uns Sorgen machen können. Terrorangriffe an fernen Orten oder Naturkatastrophen auf anderen Kontinenten stellen zwar rational betrachtet in diesem Augenblick keine Bedrohung für uns dar, aber der Überlebensinstinkt ist kein rationaler Mechanismus.
Außerdem haben wir wenig bis keinerlei Kontrolle über viele der »Bedrohungen«, die der Survive-Channel wahrnimmt. Alle diese Faktoren zusammengenommen sind das perfekte Rezept für eine Überhitzung des Überlebensmodus.
So viele von uns haben die Probleme erkannt, die ein überstimulierter Überlebensmodus verursacht, dass wir nun manchmal glauben, ihn abstellen zu müssen. Viele Leute sagen zu uns: »Wir bewegen uns nun von Survive nach Thrive!« Damit implizieren sie meist: »Ist das nicht großartig?« Doch ein gut funktionierender Überlebensmechanismus trägt tatsächlich sehr stark zur Aktivierung des Entfaltungssystems bei. Wenn er weder unter- noch überstimuliert ist und wenn er ein Repertoire effektiver Reaktionen auf die vorliegenden