target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_5577631e-d6bd-5ac3-acb8-6b4d868cb17e">2 https://1000-zitate.de/autor/Benjamin+Franklin/
2 Die neue Wissenschaft der Veränderung
Die Vielzahl der Ansichten darüber, weshalb sowohl Menschen als auch Organisationen oft so schwer mit weiteren Veränderungen zu kämpfen haben, ist alles andere als gering. Dasselbe lässt sich auch über die Zahl der möglichen Lösungen sagen, die vorschlagen, wie sich Individuen und Organisationen so mobilisieren ließen, dass sie sich rascher und intelligenter anpassen. Die große Vielfalt der Möglichkeiten lässt einen häufig verwirrt zurück oder vermittelt sogar das Gefühl, dass wir auf diesem schwammigen und komplizierten Gebiet kaum nützliche Verallgemeinerungen treffen können.
Wir sind derzeit an einem Punkt angelangt, an dem sich sogar unser Verständnis von Veränderung verändert. Man könnte wohl davon sprechen, dass es eine neu aufkommende Wissenschaft von der Veränderung gibt – und hier speziell von den komplexen Transformationen, die heute mit höherer Frequenz, in schnellerem Tempo und auch unter Bedingungen größerer Unsicherheit vollzogen werden müssen. Diese neue Wissenschaft erzählt uns mehr darüber, warum wir Menschen mit Veränderungen so stark zu kämpfen haben, warum einige dennoch erfolgreich sind, was diese Leute anders machen und wie wir dieses Wissen in unseren Organisationen anwenden können.
Wie in Kapitel 1 bereits kurz dargestellt, hat diese neu entstehende Wissenschaft mit ihrem Set aus Konzepten, Grundsätzen und Methoden drei wichtige Wurzelsysteme. Das erste dieser Systeme erforscht das Individuum und hier speziell unsere »menschliche Natur« sowie ihren Widerstand gegen beziehungsweise ihre Fähigkeit zur Veränderung. Diese Untersuchungen beruhen auf jahrhundertealten Erkenntnissen, die aber gerade in letzter Zeit um einen riesigen Fundus neuer Erkenntnisse aus der Hirnforschung erweitert wurden.
Die zweite Wurzel liegt in der Untersuchung der modernen Organisation. Diese Arbeit nahm in den 1930er- und 1940er-Jahren Fahrt auf und ihr erstes, sichtbarstes Beispiel war das Buch The Concept of the Corporation von Peter Drucker. Einige sehr informative Projekte in derselben Tradition wurden während der letzten zehn Jahre veröffentlicht.
Das dritte Fachgebiet beschäftigt sich mit der genauen Untersuchung moderner Organisationen und der Menschen, die in diesen Organisationen die Veränderung anführen wollen. Dazu gibt es Kommentare über die Ergebnisse und Spekulationen über ihre Ursachen. Erste Beispiele für diese Arbeit findet man bereits in den 1950er-Jahren, doch der Großteil der Erkenntnisse ist wesentlich jünger. Die vermehrte Arbeit zu den Themen interne Veränderung und Leadership läuft sehr stark parallel zur Erhöhung des Tempos, mit dem sich der Kontext, in dem die Organisationen heute operieren, wandelt.
Die menschliche Natur: Das System von Überleben und Entfaltung
Die menschliche Natur wird zwar bereits seit vielen Jahrhunderten untersucht und diskutiert, aber wir sind erst seit Kurzem in der Lage, intensive Beobachtungsforschung mit Methoden zu kombinieren, die die Schaltkreise im Gehirn sowie zwischen Gehirn und Körper verfolgen und aufzeichnen können. Die Erkenntnisse aus diesem Forschungszweig können sehr starke Wirkungen entfalten, wie wir in unseren Ausführungen über Strategie, digitale Transformation, Restrukturierung, kulturellen Wandel, Fusionen und Übernahmen, Scaled Agile und breitere soziale Initiativen zeigen werden.
Wenn wir den Fokus auf die Erhaltung und Vermehrung von Wohlstand in einer immer unbeständigeren und komplexeren Welt richten, sollten wir uns auf diese neuesten Forschungsergebnisse stützen. Das Bild, das die meisten Menschen von der menschlichen Natur im Kopf haben, ist dagegen leider nicht besonders brauchbar. Vor allem neigen die weitaus meisten Menschen dazu, die Macht unseres Überlebensinstinkts sehr stark zu unterschätzen. Sie erkennen nicht, dass er oft unwillkürlich unsere Fähigkeit außer Kraft setzt, Chancen rasch wahrzunehmen, erfinderisch zu denken, uns anzupassen, zu führen und uns zum Besseren zu verändern.
Menschen tragen etwas in sich, das wir als Survive-Channel (»Überlebenskanal«) bezeichnen. Er beinhaltet das biologische Äquivalent zu einem Radarsystem, das unablässig nach Bedrohungen Ausschau hält. Vor sehr langer Zeit waren dies zunächst wohl vor allem körperliche Bedrohungen. Heute dagegen wird dieses fundamentale System von der Gesellschaft und von persönlichen Erfahrungen darauf programmiert, auf Bedrohungen für die Karriere, Finanzen, Psyche oder andere Faktoren unseres Wohlergehens zu achten.
Wenn das Gehirn etwas als Gefahr wahrnimmt, läuft blitzschnell und unterbewusst immer die gleiche Stressreaktion ab. Zuerst sendet die Amygdala augenblicklich ein Signal an das »Kontrollzentrum« des Gehirns, den Hypothalamus. Das Signal aktiviert das sympathische Nervensystem, also den Mechanismus, der für die Reaktion auf potenziell gefährliche Situationen verantwortlich ist. Epinephrin, das unter dem Namen Adrenalin besser bekannt ist, fließt durch den Körper. Es erhöht den Blutdruck, beschleunigt Herzschlag und Atmung, damit mehr Sauerstoff in den Blutkreislauf gelangt, und setzt Blutzucker und Fette frei, um uns auf die »Kampf- oder Fluchtreaktion« vorzubereiten: Entweder stellen wir uns der Bedrohung oder wir laufen weg. Wenn das passiert, konzentriert sich unser Verstand laserscharf einzig und allein auf die wahrgenommene Gefahr. Der erhöhte Energielevel und die vollständige Konzentration dienen dem Versuch, ihr durch eine rasche Reaktion zu entrinnen. Wenn wir Erfolg haben, ist das wahrgenommene Problem gelöst, die chemischen Stoffe werden nicht mehr ausgeschüttet, wir beruhigen uns und der Körper kehrt zurück in den Zustand vor dem »Angriff«.
Wir alle haben diese Überlebensreaktion im Privat- und Berufsleben schon zahllose Male erlebt. Manchmal geraten wir sogar in ähnliche Situationen wie unsere Vorfahren. Wir wollen gerade die Straße überqueren, doch plötzlich nehmen wir über unseren »Survive-Channel« und das periphere Gesichtsfeld wahr, dass ein Bus genau auf uns zufährt. Augenblicklich werden chemische Stoffe ausgeschüttet, Blut strömt in die Muskeln, alle anderen Gedanken sind blockiert und wir springen zurück auf den Gehsteig. Dieser ganze Prozess spielt sich innerhalb einer Sekunde ab, oft noch bevor wir überhaupt bewusst erkennen, was wir da tun.
Noch häufiger kommt es heute jedoch vor, dass der Überlebensinstinkt mit nuancierter Komplexität zurechtkommen muss. Er muss auf die Bedürfnisse und Erfordernisse des Lebens in der komplizierten Realität des 21. Jahrhunderts reagieren. Ein Kollege weist uns darauf hin, dass einer unserer wichtigsten Kunden wegen einer verloren gegangenen Lieferung verärgert ist. Unser Radar meldet einen Bedrohungsalarm, chemische Stoffe fließen, der Herzschlag beschleunigt sich und der Verstand vergisst alle anderen Probleme, während wir sofort in einen Konferenz-Call, ein virtuelles Meeting oder einen echten Konferenzraum eintreten. Sechs Personen versammeln sich, um alle Fakten über das Problem zusammenzutragen und die Optionen zur Wiedergutmachung der ausgefallenen Lieferung und Besänftigung des Klienten zu prüfen. Jeder übernimmt einen Teil der Verantwortung, erledigt seine Aufgaben und nach angespannten 24 Stunden erfahren wir, dass das Problem vom Tisch ist. Der Kunde ist anscheinend von unserer schnellen Reaktion beeindruckt und wieder zufrieden.
Der Überlebensinstinkt ist ein äußerst mächtiger Teil unseres Wesens. Wir verdanken es hauptsächlich ihm, dass die Menschheit in den letzten hunderttausend Jahren nicht ausgelöscht wurde, wie so viele Millionen anderer Arten. Doch als unser Gehirn sich vor langer Zeit entwickelte, sah die Welt noch völlig anders aus. Während also der Survive-Channel weiterhin entscheidend für unser Überleben ist, weil er bei echten Gefahren für die richtige Reaktion sorgt, nützt er uns ansonsten unter den sehr stark veränderten Bedingungen der heutigen Zeit nicht immer auf optimale Weise.
Wenn wir heutzutage ein Problem nicht erfolgreich beseitigen können – in der Regel, weil die Bedrohungen außerordentlich komplex sind und es keine Möglichkeit gibt, ihnen schnell aus dem Weg zu gehen oder sie zu beenden – befinden wir uns oft ziemlich lange in einem solchen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft im Überlebensmodus. Der Körper schüttet dann immer weiter chemische Stoffe aus (Cortisol