Heike Vullriede

TENTAKEL DES HIMMELS


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im Regen zwischen Kirschlorbeeren und Kastanienbäumen, gebeichtet hatte – dass er Menschen im Auftrag des Padre bestraft hatte – sie wusste alles. Er wollte sogar gemordet haben für ihn. Doch das weigerte sie sich, zu glauben.

      All das ließ die schleichende Furcht in ihrem Kopf zu, hinderte sie daran, ihr eigenes Bad ohne Angst zu betreten, bevor sie sich nicht zwanzigmal in der Wohnung umgesehen hatte. Sich Alonso entgegenzustellen, war gefährlich. Bisher war sie selbst von seiner strafenden Hand verschont geblieben. Wahrscheinlich dank ihrer Gabe, sich in der richtigen Dosierung anzupassen – nicht zu viel und nicht zu wenig. Doch sie schwankte. Sie balancierte auf einem schmalen Grat über einem sich immer tiefer aufreißenden Abgrund.

      Lange Ohren wackelten vor der Terrassentür. Anna erschrak, als sie es im Augenwinkel bemerkte. Dann riss sie sich zusammen, stand auf und öffnete, um das hoppelnde Untier, das weder Hund noch wirklich Kaninchen sein wollte, in die Wohnung zu lassen. Na bitte, sie lebte ja nicht allein in Haus und Garten. Natürlich war dieses feige Zwölf-Kilo-Karnickel kein Schutz. Aber – idiotisch – sie fühlte sich dennoch ein kleines bisschen weniger ausgeliefert. Merlin hoppelte bedenkenlos vor ihr durch den finsteren Spalt der Dielentür. Wie sie dieses Tier beneidete, das sich um nichts als genügend Karotten und Streu Gedanken machte.

      Mutig folgte sie ihrem Haustier in die Diele, tastete hastig nach dem Lichtschalter und hasste ihren heftigen Herzschlag währenddessen. Der kleine Gang war menschenleer – wie zu erwarten. Schnell knipste sie das Licht im angrenzenden Schlafzimmer an und wagte einen Blick hinein. Nichts schien angerührt, weder die zurückgeschlagene Bettdecke noch die halb geöffnete Wäschetruhe. Auch der Schrank, hinter dessen Tür sich ein gepackter Koffer versteckte, schien unangerührt. Langsam entspannte sie sich. Im Bad warf sie ihre Jacke über die Badewanne und griff in die Hosentasche. Zwei Fünfzig-Euroscheine, heute nach dem Einkaufen am Morgen zur Seite gelegt, um ihre Ersparnisse aufzufüllen, kamen zum Vorschein. Ein täglicher Betrag, den sie sich seit drei Jahren von ihrem Gehalt in bar abzwackte, um doch noch irgendwann ihre Weltreise anzutreten. Einhundert Euro, Tag für Tag. In bar, damit es auf keinem Konto auftauchte. Geld für den Fall, dass sie es einmal sehr eilig haben würde, von hier wegzukommen. Sie öffnete den Deckel einer großen, leeren Badeschaumflasche und stopfte die Geldscheine zu den anderen. Der größte Teil ihres Gesparten lag jedoch längst auf zwei Schweizer Bankkonten.

      Auf das Duschen direkt nach der Arbeit verzichtete sie heute. Es ließ sich nichts mehr abwaschen. Die Zeiten waren vorbei, in denen sie die teuflische Schmiere abseifen konnte. Forschend betrachtete sie sich im Spiegel und überlegte, ob man ihre Mitwisserschaft an Alonsos widerlichen Machenschaften im Gesicht ablesen konnte. Dunkelblondes Haar, halblang und brav gebunden, dezent geschminktes Gesicht – darunter tiefliegende Augen, erste Falten um die Mundwinkel, zu keinem noch so kleinen Lächeln bereit, es sei denn, es wäre ein hämisches Grinsen. So hätte sie die verlockende Stelle damals sicher nicht bekommen.

      Nach ihrem Jurastudium war sie unentschlossen gewesen. Eine sichere Anstellung hatte sie gesucht. Hätte sie doch nur das Angebot bei der Stadt angenommen! Stattdessen war sie auf Alonso hereingefallen, der ihr mit seinem großzügigen Geldsegen die Augen verschleierte, obwohl ihr bei seinem Anblick gleich unwohl im Bauch geworden war. Hätte sie vorhersehen können, dass sie sich einmal nichts mehr wünschen würde, als von hier zu verschwinden? Irgendwohin, um nur in Ruhe zu leben? Das Bauchgefühl trügt nicht, das wusste sie jetzt.

      Torbergs Socken fielen ihr wieder ein, die sie unsinnigerweise mitgenommen hatte, in einem Anflug von Schadenfreude und Übermut. Mit spitzen Fingern zog sie das feuchte Etwas aus ihrer Jackentasche und schüttelte sich.

      Torberg, dieser unbequeme, aufsässige Unruhestifter, und Alonso, sein scheinheiliger, steinharter Gegner, in unvergleichbar besserer Position … einerseits freute sie sich auf das bevorstehende Duell zwischen den beiden, andererseits ahnte sie, was aus einem Streit mit dem Padre erwachsen könnte. Immer größer wurde das Gefühl, Torberg warnen zu müssen. Dieser Sturkopf wusste nicht, mit wem er sich da anlegte, konnte es nicht wissen, sonst wäre er vorsichtiger gewesen. Das glaubte sie, wollte sie glauben – das musste so sein, denn so bescheuert oder so mutig konnte nicht einmal Torberg sein.

      

      Teil 2

      

      Lara

      Gleich nach dem Aufwachen zündete Lara eine Kerze an. Die anderen fünf jungen Mädchen und zwei Männer ihrer Wohngruppe dösten auf ihren Futons. Sie schnarchten und wälzten sich müde unter ihren warmen Decken hin und her, hoffend, dass ihre Mentorin sie nicht so bald weckte.

      Lara setzte sich im gekonnten Lotussitz auf die Reismatte, direkt vor den kleinen Altar, der als Mittelpunkt des schlichten Raumes die Augen aller Anwesenden sofort in den Bann zog. Ihre Fußsohlen zeigten in den Himmel, die Schultern waren weit, der Nacken locker. Mit den Händen formte sie einen flachen Kelch, um zu empfangen, was Gott ihr an diesem Morgen schenkte. Das Herzstück des Altars, die bronzefarbene Skulptur einer strahlenden Sonne, hellte sich im Schein der sich sanft wiegenden Kerzenflamme auf. Sie schloss die Lider und atmete ein paar Mal tief ein und aus, um sich auf die Meditation einzustimmen. Ihre volle Konzentration galt nun dem Atem. Bald nahm sie nur noch die Luftbewegung wahr, die kaum merklich von ihrer Nase aus auf die Oberlippe strömte. Sie öffnete sich innerlich und registrierte mit entspannt geschlossenen Augen die Geräusche ihrer Umgebung: das Schnarchen, das Rauschen der Decken, Taubengegurre draußen. Ihr Geist nahm all das wahr, ohne es zu bewerten, ganz so, wie sie es gelernt hatte. Dann schickte sie ihn in Richtung Altar. Sie begrüßte die strahlende Sonne, bevor sie weiterwanderte, in einen virtuellen Gottesdienst, zu einem großen, segnenden Mann in weißem Gewand. In ihrer Meditation lächelte er sie an, wie ein Vater ein Kind anlächelt. Seine Liebe ergoss sich über sie, umhüllte ihren Körper und bildete einen Kokon, der sie vor allen Übeln der kapitalistischen Welt da draußen schützte.

      Wie gern hätte sie den Padre berührt, wie bereitwillig noch einmal seine Hand auf ihrem Kopf gespürt, wie damals beim Segnen während der feierlichen Weihe. Wenn sie in der Zentrale, ein paar hundert Meter weiter, Unterlagen ihrer Schüler abgab, war sie ihm oft ganz nah. Manchmal konnte sie ihn durch die Glasscheiben eines der Büros sehen. Und doch blieb er stets unberührbar für sie, ein Symbol ihrer brennenden, ungestillten Sehnsucht. Wenn er sie nur mehr wahrnehmen könnte. In der Schar seiner Gläubigen blieb ihre besondere Hingabe zu ihm unentdeckt, wie ein Juwel unter tausend Halbedelsteinen. Lara überschüttete ihn geistig mit Liebe und guten Wünschen. Sie hätte alles getan, um seine Wertschätzung zu gewinnen.

      Wie jeden Tag schloss sie den Padre in ihr Gebet zu Gott mit ein, damit er seine unendliche Weisheit behielte und seine Kirche des Lichts in diesem Land weiter wachse. Jeder hatte es verdient, erleuchtet zu sein, wie Lara selbst. Sie hätte am liebsten die ganze Welt bekehrt. Das Glück, das sie empfand – das hatte sie gelernt – lag in der Einfachheit ihres irdischen Daseins. Das hieß Arbeiten, Beten, Meditieren, für die Gemeinde da sein, die Menschen der Gemeinde lieben. Hier war sie wichtig. Als Mentorin nahm sie einen wichtigen Platz ein, für eine Anzahl der Jüngsten, der neuen Schüler auf Gottes richtigem Weg.

      Kai tauchte in ihrer Versenkung auf. Lara zuckte. Kai hatte diesen Weg verlassen und den falschen eingeschlagen. Unglücklicherweise konnte sie seine Erscheinung nicht wieder abschütteln. Seine Gestalt blieb vor ihrem geistigen Auge, sosehr sie sich auch bemühte, ihn gehen zu lassen. Das war das Ende ihrer morgendlichen Meditation. Mit einer Mischung aus Ärger und Trauer löste Lara den Lotussitz und streckte die Beine langsam nacheinander aus. Sie lehnte sich zurück, mit den Händen auf der Matte abstützend, und legte den Kopf in den Nacken, sodass sich ihr Zopf in der Kapuze ihres goldschimmernden Pullovers einkringelte. Warum nur hatte er sie verlassen und das so beschämend. Ohne ein Wort war er gegangen. Kai hatte nicht nur sie verlassen, sondern die gesamte Gemeinde, den Padre, ihre komplette Welt. Bei dem Gedanken an ihn schossen Tränen in ihre Augen. Wie konnte er ihr das antun? Er war zum Verräter geworden. Das Schlimmste, was es gab. Schlimmer noch als die ungläubigen, habsüchtigen Menschen außerhalb der Kirche. Das warf auch ein schlechtes Licht auf sie selbst. Jeder wusste, dass sie ein Paar waren. Sein Vergehen war ihr Unheil.