Heike Vullriede

TENTAKEL DES HIMMELS


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und sah sich um. An der Tür hing kein Schild, keine Nummer, kein Name. Ein kräftiger blonder Mann mit ernstem Gesicht und grauem Anzug wachte davor. Nachdem er den Raum näher in Augenschein genommen hatte, vermutete Jan, dass es das Büro des Chefs war.

      Halber Chef, berichtigte er sich sofort, die Hälfte dieser Nobelfirma gehört mir!

      Er nahm nicht an, dass der Mann aus dem Fahrstuhl sein eigentlicher Geschäftspartner war, denn so riesig, wie beschrieben, war dieser keinesfalls. Jan setzte sich in einen der bequem aussehenden, schwenkbaren Ledersessel und hatte zunächst nur einen Gedanken – seine nassen Socken auszuziehen, die sich inzwischen in seinen Turnschuhen wellten. Mit Schwung warf er seine Beine übereinander, zog nach und nach erst seine Schuhe und dann die Socken aus. Beides ließ er achtlos zu Boden fallen, um anschließend seine nackten Füße auszustrecken.

      Anna konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Jetzt wusste sie, worauf sie mit Spannung gewartet hatte. Mit hin und her wippenden Füßen lehnte sich Jan nach hinten und schloss für einen Moment die Augen. Da fiel ihm Annas nicht ganz verkniffenes Kichern auf und er beugte sich im Sitzen ein Stück vor, um sich nach hinten umzudrehen, soweit es mit ausgestreckten Beinen eben ging. Dann blickte er von einem zum anderen, und als er das empörte Gesicht von Wolff erfasste, verharrte er eine Weile. Was gab es denn zu sehen, außer seinen nackten Füßen auf diesem Teppich? Ein nackter Fuß war immerhin sauberer als ein beschuhter, und außerdem fühlender, konnte er doch jede Faser des teuren Hochflors spüren, der weich und dicht seinen ausgekühlten Fuß wärmte.

      »Aber bitte, nehmen Sie doch auch Platz«, bot Jan vom Sessel aus den anderen gönnerhaft an.

      Niemand reagierte und es entstand eine vorwurfsvolle Pause.

      »Ich hasse nasse Socken.«

      Damit hielt er die Sache für erledigt.

      Anna musste hinausgehen. Ihr Maß an Beherrschung war überschritten. Sie schloss leise die Tür hinter sich und lief ein Stück den Flur entlang, bog um eine Ecke, um unbeobachtet die Hände vor das Gesicht zu schlagen und ausgiebig zu lachen.

      Kemal wäre ihr aus anderen Gründen gern gefolgt. Er hatte das Gefühl, als Gewissen dieses Mannes umherzulaufen, schämte er sich doch für zwei. Ihm war bewusst, dass man sie bei Besprechungen stets zusammen betrachtete, nicht einzeln, und er konnte sich innerlich nicht von Torbergs skandalösem Benehmen distanzieren. Unaufhaltsam stieg eine peinliche Hitze in seine Kopfhaut, die – Allah sei Dank – mit ihrer natürlichen Bräune die schlimmste Offenbarung seiner Gefühle vorerst verhinderte.

      Wolff nahm am Schreibtisch vor der Sitzgruppe Platz und griff zum Telefon. Während er wählte, ließ er seinen ungehobelten Besucher nicht aus den Augen. Torbergs Arroganz stand er ohnmächtig gegenüber. Der Armleuchter war ein Gast des Padre, kein Opfer, das er drangsalieren durfte, und das hätte er am liebsten bereits im Fahrstuhl in die Tat umgesetzt.

      »Hier ist Wolff – ja, er ist jetzt da. Wenn Sie jetzt kommen, können wir mit dem Meeting beginnen.«

      Er legte den Hörer auf und beobachtete seinen Gegner.

      »Wo ist dieser … wie heißt der noch gleich … Alonso?«, fragte Jan mit der verächtlichsten Miene, die er ausdrücken konnte.

      »Unterwegs hierher, er wird in fünfzehn Minuten hier sein.«

      Wolff ahnte, dass es alles andere als geplant laufen würde. Ein unterschätzter Gegner gewinnt fast jede Schlacht. Und dann stand Torberg auf, nahm seine durchgeweichten Schuhe vom Teppich und verließ auf nackten Füßen wortlos den Raum. Er verschwand einfach, ließ Wolff zurück, wie ein Stück Abfall auf seinem Weg.

      Kemal folgte ihm verwirrt bis zur Tür. Was jetzt?

      »Äh … wir setzen uns mit Ihnen in Verbindung«, rief er hilflos in den Raum hinein. Wie er das jemals erklären sollte, wusste er nicht.

      Wolff starrte ihnen nach – perplex, ratlos. Anna hatte nicht übertrieben. Dieser Mann würde ihn eine Menge Nerven kosten. Er besann sich, griff erneut zum Telefon und versuchte Alonso noch aufzuhalten.

      Währenddessen fuhr unten im Hof das Taxi auf das Tor zu. Kemal, der fast nicht mitgekommen wäre, saß mit aufgestütztem Kopf neben Torberg auf dem Rücksitz, voll unerfüllter Erwartungen, nutzloser Aufregung und das unangenehme Gefühl durchnässter Kleidung auf der Haut.

      »Das können Sie nicht machen! Sie können jetzt nicht einfach gehen. Herr Alonso ist in diesem Moment auf dem Weg hierher.«

      »Warum nicht?« Jans Augen blitzten wütend. »Man lässt mich von Hamburg nach Düsseldorf kommen, um mich warten zu lassen?«

      »Bedenken Sie – wir sind zwei Stunden zu spät gekommen. Hätte Herr Alonso etwa zwei Stunden auf Sie warten sollen?«

      »Ja, das hätte er. Verstehen Sie nicht, Kemal? Das war pure Absicht. Wäre ich pünktlich erschienen, wäre die Situation nicht anders gewesen. Man wollte mich herabsetzen, Dampf herauslassen, indem man mich wie einen dummen Jungen warten lässt. Glauben Sie mir, das kenne ich. Ich habe es nicht nötig, mich herabsetzen zu lassen.«

      Kemal staunte über diese Antwort. Torbergs Abgang eine überlegte Reaktion? Diese Leute in Düsseldorf waren sicher ausgekochte Geschäftsleute. Er hatte sich in Hamburg aus verschiedenen Quellen über die Kirche des Lichts informiert. Was er gelesen und gehört hatte, war alarmierend. Diesem Alonso hingen einige Prozesse und Menschenrechtsorganisationen am Hals, allerdings betraf das Fälle im Ausland. Hier, in Deutschland, stand seine sogenannte Kirche bisher am Anfang, waren die Strukturen der Organisation noch nicht mächtig genug.

      Als sie das Tor erreichten, blieb es verschlossen. Der Fahrer hielt an und wartete. Entschlossen verließ Torberg den Wagen, entriegelte das Tor von Hand und stieg wieder ein.

      »Woher wussten Sie, wie man es aufbekommt?«, fragte Kemal.

      »Lebenserfahrung.« Jan zwinkerte ihm zu. »Von innen muss man es immer manuell öffnen können – als Fluchtweg.«

      »Sind wir denn auf der Flucht?«

      »Flucht würde ich es nicht nennen, eher taktisches Manöver.«

      Der Taxifahrer blickte besorgt in den Rückspiegel.

      »Muss ich mir Sorgen machen? Sie sind doch keine Diebe?«

      »Würden Sie mich das wirklich fragen, wenn Sie es glauben würden? Fahren Sie einfach.«

      »Und wohin, wenn ich fragen darf?«

      »Richtung Innenstadt.«

      »Und was haben Sie jetzt vor? Sie wollen die Angelegenheit schließlich auch geklärt wissen«, fragte Kemal.

      Jan überlegte eine Weile, während er aus dem Fenster sah. Er war müde und hatte die Fahrerei satt. Außerdem hatte Kemal recht. Seine Konfrontation mit diesem Kirchenmann war gewollt. Er musste den Mann kennenlernen, dem seine Eltern zwei Jahre lang wie Äffchen hinterhergerannt waren, dem sie Intimes anvertraut hatten, die sie ihrem einzigen Sohn verschwiegen. Jan wollte wissen, was diese Sekte dort trieb. Jetzt nach Hamburg zurückzufahren, wäre sinnlos gewesen.

      »Wir werden uns hier in der Nähe eine Bleibe suchen. Morgen rufen Sie dort an und vereinbaren einen neuen Termin – mit der Bitte um pünktliches Erscheinen! Und für morgen besorgen Sie mir, was man so für einen kürzeren oder längeren Aufenthalt hier braucht.«

      Vor seinem geistigen Auge schwebten eine gemütliche Suite, geile Filme, ein kulturelles Highlight oder bloß das Kinoprogramm, Knabbereien und vor allem ein paar kühle Helle.

      Anna sah ihnen vom Flurfenster des Gebäudes aus nach. Das war wohl nicht so gelaufen wie vorgesehen. Neugierig schlich sie ins Büro zurück, um nach Wolff zu sehen. Neben dem Sessel, auf dem Torberg sich ausgestreckt hatte, fand sie die nassen Socken auf dem Boden liegend. Angewidert, aber belustigt und mit angehaltener Luft, pickte sie die eingekringelten schwarzen Haufen mit zwei Fingern auf. Herausfordernd hielt sie die Strümpfe Wolff unter die Nase.

      »Wollen Sie die nun Alonso vorstellen?«