Knien auf. Ihr nach unten gerichteter Blick wanderte über die eingekuschelten Körper ihrer Mitbewohner. Alle sieben waren ihr untergeben. Sie nannten sie nicht nur so, sie fühlte sich auch wie eine Mutter für sie. Diese Stellung hatte sie sich mit strenger Disziplin und großer Leidenschaft erarbeitet. Mentorin konnte nicht jeder werden. Dazu musste sie ihre tiefe Gläubigkeit und die Fähigkeit, anderen ein Vorbild zu sein, beweisen. Kai hätte ihr das fast verdorben. Niemals mehr wollte sie diesen Judas wiedersehen.
Sie klatschte laut in die Hände.
»Los, aufstehen, ihr Schlafmützen!«
Lara musste mehrfach klatschen, bis alle unter den warmen Decken hervorgekrochen kamen. Übermüdet zogen sie sich ihre weißen Kapuzenpullover über. Tiefe Ringe unter den Augen zeugten von zu wenig Schlaf. Ihre Blicke zeigten kaum Regsamkeit, doch sie setzten sich gehorsam um den Altar herum und begannen unter Laras Anweisung die morgendliche Meditation.
»Lea, sitz gerade! Du siehst aus, als ob du gleich einschläfst«, ermahnte sie ein Mädchen mit auffallend gekrümmter Haltung. »Ich kann gar nicht oft genug betonen, dass nur echte Hingabe zur Erfüllung führt.«
Sie ging zu ihr hin und fasste ihre Schulter an. Lea blickte erschrocken zu ihr auf.
»Komm doch bitte nachher zu mir, damit wir darüber sprechen.«
Schnell senkte Lea die Augen wieder. Nach der Ermahnung aber und der zu erwartenden moralischen Belehrung fiel ihr die richtige Versenkung ihres Geistes noch schwerer. Lara sah ihre Augäpfel unter den Lidern während der gesamten Meditation hin und her wandern.
»Lara!« Carstens Stimme zerschnitt die friedliche Atmosphäre der Meditationsgruppe.
Aufgeschreckt drehte sich Lara um. Der Familienälteste der Siedlung stand im Türrahmen und winkte ihr harsch zu. Offenbar hatte er sie und die Schüler unbemerkt beobachtet und sogleich spekulierte Lara, ob sie unbeabsichtigt etwas falsch gemacht hatte. Der überaus ernste Gesichtsausdruck prophezeite ihr ein eher unangenehmes Gespräch mit ihm. Warum nur? Die Unannehmlichkeiten der letzten Wochen seit Kais Verschwinden schienen kein Ende zu nehmen. Sie bemühte sich Tag für Tag, wieder gutzumachen, was Kai der Gemeinde angetan hatte. Was sollte sie denn noch tun, um ihre Treue und Zuverlässigkeit zu beweisen? Leise, um die anderen nicht in der Meditation zu stören, stand sie auf und näherte sich dem Familienältesten.
Der Mann mit der Halbglatze, den etwas zu langen Haaren und der stets kritischen Miene lebte seit der Gründung in dieser Siedlung. Vier Jahre also, bevor Lara hier ein Zuhause gefunden hatte. Sie respektierte ihn als ihren Lehrer, aber mochte ihn nicht besonders, denn sie fürchtete seine Vorträge über die Ansprüche der Gemeinde und ihrer mangelnden Fähigkeit, diesen zu genügen. Das geschah nicht nur in diskreten Gesprächen, sondern ebenso häufig in vielen Bemerkungen über diesen und jenen kleinen Fehler, der ihr unterlief.
»Warum gibt es immer wieder Probleme mit dieser Lea?« Er klang gereizt.
Sie hob ratlos die Schultern.
»Ich glaube, sie ist eine derjenigen, für die es ein sehr langer Weg sein wird, den Pfad der Jüngsten zu verlassen, um die Weihe zu empfangen«, sagte sie.
»So, wie es aussieht, wird sie es nie schaffen«, mäkelte Carsten.
»Vielleicht. Sie ist ein schwieriger Fall.«
»Du, als ihre Mentorin, bist verantwortlich dafür, dass sie funktioniert. Lea ist in jeder Hinsicht mangelhaft. Sie arbeitet langsam, sie ist ungeschickt, und sie bringt nichts ein. So ist sie für unsere Gemeinschaft eine Belastung. Sag ihr das! Sie muss sich schon anstrengen.«
Lara nickte nur. Ihm etwas entgegenzusetzen, stand ihr nicht zu.
Im Hotel
Greller Sonnenschein weckte Jan Torberg am nächsten Morgen. Er kniff die Augen zusammen und drehte sich zur Seite. Aber das Licht durchstach seine Lider, bevor er sie öffnete. Blinzelnd schickte er einen Blick zum Fenster und entdeckte Kemal Akdas, der sich mit ekelhafter Lebensfreude bemühte, die Vorhänge so weit wie möglich aufzureißen.
»Gleich verpassen Sie Ihr Mittagessen.«
Kemal streckte sich ausgiebig am offenen Fenster.
»Heute Nachmittag steht ein neues Treffen mit Herrn Alonso an. Die Herrschaften waren nicht gerade begeistert von Ihrem gestrigen Auftritt, aber ich habe mich richtig für Sie ins Zeug gelegt und die Wogen haben sich geglättet.«
Nun verging Jan erst recht die Lust, aus dem Bett zu steigen. Die Sache nagte schon jetzt an seinen Nerven. Unangenehme Angelegenheiten erledigte er am liebsten knallhart sofort oder gar nicht – meistens das Letztere. Obwohl er diese Sache selbst verzögert hatte, gefiel es ihm nicht, dass es sie noch gab. Um die Nase wehte ihm der kalte Novemberwind und er war froh um die bauschige Bettdecke auf seinem Körper. Kemal überkam indes der pure Leichtsinn. Er zog mit einem Ruck an dieser Wärmequelle, um Torberg aus dem Bett zu locken. Doch der reagierte schnell. An einem Zipfel bekam er sie zu fassen und er klammerte sich daran fest. Kemal ließ nicht los. Er zog, legte sein ganzes Gewicht in sein Vorhaben, gewann, und lag schließlich mit seiner flauschigen Beute an der Tür. Blitzartig folgte ihm ein Kissen, ein unbenutzter Wecker verfehlte seine Stirn, und ein Turnschuh traf ihn schmerzhaft am Oberarm. Ohne zu zögern, hätte ihm Jan auch die Nachttischlampe nachgeworfen, wenn nicht das Hoteltelefon geläutet und ihn abgelenkt hätte.
Kemal waren die überschüssigen Reaktionen seines Chefs eine Nummer zu hart. Freund oder Feind? Für ihn war das nicht einschätzbar. Beleidigt suchte er an seinem Arm nach blauen Flecken und verließ fluchend das Zimmer. Sollte Torberg doch den gesamten Tag lang schlafen! Innerlich verklagte er ihn wegen gefährlicher Körperverletzung.
Das Telefon läutete und verstummte mehrmals. Seufzend kam Jan unter dem Bett hervor, wo er vergeblich nach seinen Socken gesucht hatte. Langsam näherte er sich dem Störenfried. Immer noch hoffte er, dass der Anrufer aufgab, doch letztlich ging er ran.
»Torberg!«
Seine Stimme klang so, wie er sich fühlte: ungeduldig und wütend. Die Anruferin war für einen Moment dermaßen irritiert, dass sie einige Sekunden brauchte, um sich zu fassen. Doch bevor sie sich mit Namen melden konnte, versiegte die Geduld ihres Zuhörers. Er wartete genau diese Sekunden ab, um krachend aufzulegen.
Sprachlos saß Anna mit ihrem Smartphone in der Hand im Büro. Zweifel stiegen in ihr hoch, ob Torberg es wirklich wert war, gewarnt zu werden. Warum ließ sie nicht den Ereignissen ihren Lauf, wie sie es immer tat? Wichtig war für sie doch nur ihre eigene Sicherheit und die hätte sie mit diesem dämlichen Anruf an Torbergs Hoteltelefon fast gefährdet. Als sie ihr Handy einsteckte, war sie längst froh über das Misslingen ihrer Aktion. Nebenbei hatte sie das beste Alibi, das ihr Gewissen brauchte: Sie hatte es versucht! Alles andere war allein Torbergs Sache und sie würde sich heraushalten. Verächtlich warf sie ein Paar muffige Socken auf den nächstbesten, ziemlich hohen Aktenschrank.
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