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Das Neue Testament - jüdisch erklärt


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dem er es für nötig hielt, zwischen den Anhängern Jesu und den Juden bzw. dem Judentum eine Grenze zu ziehen. Diese Distanzierung dürfte besonders wichtig gewesen sein, wenn die ethnische Zusammensetzung der johanneischen Gemeinde Juden, Samaritaner und Nichtjuden umfasste, wie oben vorgeschlagen. Diese Deutung relativiert die feindselige Rhetorik des Evangeliums nicht, lässt heutige Leserinnen und Lesern aber die Funktion dieser Erzählfigur innerhalb des Prozesses verstehen, bei dem das Christentum zu einer eigenen Religion wurde. Sie ermöglicht außerdem, die Schönheit der Sprache des Johannesevangeliums zu würdigen und die geistliche Kraft zu verstehen, die es nach wie vor auf viele seiner christlichen Leserinnen und Leser ausübt.

      Aufbau und stilistische Besonderheiten

      Das Johannesevangelium teilt sich in zwei große Teile auf, die oft das „Buch der Zeichen“ (Kap. 1–12) und das „Buch der Herrlichkeit“ (Kap. 13–21) genannt werden. (Zu den Details der Unterabschnitte unter dem jeweiligen Hauptabschnitt s. die Überschriften im Kommentarteil).

      Das Johannesevangelium erzählt die Geschichte Jesu zunächst in ihrer galiläischen und judäischen Umgebung in den Jahrzehnten vor dem Ersten Jüdischen Krieg gegen Rom. Zugleich erzählt es eine kosmologische Geschichte vom präexistenten Wort Gottes, das in die Welt kommt, Satan besiegt und zum Vater zurückkehrt. Auf der geschichtlichen Ebene der Erzählung beschreibt das Evangelium die Interaktion Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern und seinen Gegnern. Diese Ebene tritt vornehmlich zutage in der Handlung vom Augenblick der Identifikation Jesu durch Johannes den Täufer (Joh 1,19–36) bis zu seiner Kreuzigung (Kap. 19) und den Erscheinungen des Auferstandenen vor den Jüngern (Kap. 20–21). Die kosmologische Ebene der Erzählung erscheint in den Kommentaren und Reflexionen über das Leben und den Tod Jesu, und zwar sowohl aus der Perspektive des Erzählers als auch aus der von Jesus selbst.

      Wie die synoptischen Evangelien und andere Literatur dieser Zeit auch bedient sich das Johannesevangelium einer Reihe stilistischer Mittel, um die Aufmerksamkeit auf seine Hauptthemen zu lenken und die historische mit der kosmologischen Erzählebene zu verknüpfen. Dazu zählen Wiederholungen (z.B. „es kommt die Zeit“; „es kommt die Stunde und ist schon jetzt“ [Joh 4,21.23; 5, 25.28; 16,2.25.32], Doppeldeutigkeiten (z.B. „erhöht werden“ in Joh 3,14–15 mit der doppelten Bedeutung von Kreuzigung und Erhöhung), Missverständnisse (vgl. Nikodemus‘ Frage, wie es möglich sei, „wiedergeboren“ zu werden, Joh 3,3–5) und Ironie (so denkt die Menge nach Joh 7,34–35, dass Jesus in die Diaspora „hingehen“ werde, während die Leserinnen und Leser wissen, dass er von seinem Tod und der Rückkehr zum Vater spricht).

      Die Komposition des Johannesevangeliums orientiert sich an einigen „Zeichenerzählungen“, die oft von langen Redeteilen begleitet werden (z.B. Joh 6, wo die lange „Brotrede“ auf die Vermehrung von Brot und Fischen und den Seewandel Jesu folgt). Die Erzählungen über „Zeichen“ berichten von Wundertaten Jesu und haben tendenziell folgende Grundstruktur: Auf die Identifikation eines Problems folgt zunächst die Erwartung, dass Jesus die Lösung liefern wird, die jedoch augenscheinlich enttäuscht wird, dann das Zeichen selbst und sein Nachspiel. Bei der Hochzeit zu Kana in Joh 2,1–12 z.B. weist Jesu Mutter ihn darauf hin, dass der Wein ausgegangen ist, und erwartet von ihm, dass er etwas dagegen unternimmt. Er tadelt sie (Joh 2,4) und stellt fest, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist. Schließlich vollbringt er das Wunder. Der Verwalter wundert sich, und der Erzähler erklärt: „Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.“ (Joh 2,11) Dieses Muster legt nahe, dass die Wunder Jesu nicht seine übermenschlichen Fähigkeiten demonstrieren, sondern seine Identität als Sohn Gottes bezeugen sollten. Dieser Aspekt der johanneischen Zeichen erinnert an Ex 10,2, wo Gott Mose mitteilt, dass die Zeichen, die er unter den Ägyptern vollbracht hat, das Volk zu der Erkenntnis führen sollten: „Ich bin der Herr.“ Wie erwähnt, bildeten diese Zeichenerzählungen nach Ansicht einiger Fachleute usprünglich eine eigene Quelle, derer sich der Autor des Johannesevangeliums bediente.

      Ein anderes Beispiel für den Einsatz bestimmter literarischer Stilmittel zeigt sich in den Berufungserzählungen der Jünger. Fast immer handelt es sich bei der Person, durch die neue Anhänger zu Jesus kommen, um jemanden, der vorher selbst sein Anhänger geworden war. Johannes der Täufer etwa befiehlt zweien seiner Jünger, Jesus nachzufolgen. Einer von ihnen, Andreas, erzählt das seinem Bruder Simon Petrus, der daraufhin ein Jünger Jesu wird (Joh 1,42). Jesus findet Philippus, der es wiederum Nathanael erzählt, der daraufhin Jesus begegnet und zum Jünger wird (Joh 1,49). Die Samaritanerin trifft Jesus und legt darüber in ihrer samaritanischen Gemeinschaft Zeugnis ab. Daraufhin laden ihre Mitglieder Jesus ein, bei ihnen zu bleiben, woraufhin sie zu Gläubigen werden (Joh 4,41–42). Am Ende des Evangeliums wird deutlich, welchem Zweck dieses Muster dient, als nämlich Thomas sich weigert, dem Zeugnis der Jünger zu glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden sei, solange er es nicht selbst sehen kann. Jesus kehrt zurück und fordert ihn auf, ihn anzusehen und zu berühren, doch tadelt er ihn auch: „Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh 20,29). Hier wendet sich der johanneische Jesus eindeutig an die Leserinnen und Leser, die Jesus nicht direkt sehen werden, aber dennoch glauben. Die abschließende Erklärung (Joh 20,30–31) weist darauf hin, dass für künftige Generationen das Johannesevangelium das Hilfsmittel sein wird, mit dem Glaubende Jesus begegnen.

      Adele Reinhartz