Yasar Kirgiz

Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen


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etwa mit eineinhalb Jahren – einen geregelteren Zugang zu Kurmancî bekommen hat (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3). Es ist allerdings schwierig, für dieses Kind eine Annahme darüber zu äußern, nach welcher Dauer des Zuganges es eine Erzählkompetenz in Kurmancî entwickeln und ab wann diese sich der in Deutsch angleichen wird. Denn anders als im Deutschen ist der Spracherwerb in Kurmancî nicht dokumentiert und damit einhergehend ist eine Grundlage für eine solche Annahme nicht gegeben. Daher kann für dieses Kind höchstens vermutet werden, dass es durch den geregelten Zugang im Laufe der Zeit eine Kurmancî-Kompetenz entwickelt. Mit voranschreitender Entwicklung ist zu erwarten, dass es Figuren, Objekte und einzelne Ereignisse der Geschichten benennt/beschreibt, diese mehr und mehr verknüpft und die Geschichten schließlich auch in Kurmancî erzählt. Wann dies jedoch geschieht, kann im Rahmen dieser Studie nicht definiert werden. Dazu wäre eine ausführliche Dokumentation des Spracherwerbs in Kurmancî vonnöten.

      Die zweite Hypothese ist, dass die Studienkinder (abgesehen von einem Kind) in LiSe-DaZ, d. h. im Deutschen, niedrige Werte aufweisen werden. Der Grund dafür ist, dass den Werten von LiSe-DaZ die Annahme zugrunde liegt, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache im Alter zwischen 25 und 48 Monaten in die Kita kommen und fortan einen systematischen Zugang zum Deutschen haben. Dieser Annahme nach sind die Werte ermittelt und Vergleichsgruppen nach Alter und Kontaktzeit gebildet (vgl. Schulz/Tracy 2011: 21). Vier der sechs Studienkinder kamen jedoch älter als 48 Monate in die Kita. Aufgrund dieser Tatsache konnten sie nicht immer mit ihrer tatsächlichen Gruppe, sondern mit der nächsten passenden Gruppe verglichen werden. Bei einem weiteren Kind werden Werte von Deutsch als Muttersprache (DaM) zugrunde gelegt, wobei es in seinen ersten Lebensjahren nicht die üblichen Erwerbsbedingungen eines DaM-Kindes hatte (für genaue Informationen siehe den Abschnitt 6.3).

      Die dritte Hypothese ist, dass die Studienkinder hinsichtlich der Grammatik des Deutschen die meisten Schwierigkeiten nicht mit der Syntax, sondern mit der Morphologie haben werden (vgl. Kauschke 2012, Meisel 2009). Um genauer zu sein: Sie werden ihre größten Schwierigkeiten im Ausdruck der grammatischen Kategorien der Nominalphrase haben. Hier werden Kinder, die das Deutsche sukzessiv erwerben, auf mehr Schwierigkeiten stoßen. Denn in der Spracherwerbsforschung ist dokumentiert, dass der Erwerb der grammatischen Kategorien der Nominalphrase Kindern, und insbesondere sukzessiven Erwerber*innen, schwerfällt (vgl. Kaltenbacher/Klages 2007, Ruberg/Rothweiler 2012).

      Wenn auch keine ausführliche Dokumentation zum Erwerb des Kurmancî vorliegt, so ist dennoch davon auszugehen, dass die Unterscheidung der Stammformen der Verben in Kurmancî zum frühen Spracherwerb gehört. Denn die grammatische Unterscheidung der Gegenwart und der Vergangenheit erfolgt über diese beiden Stammformen. Sobald also Kinder in ihren Äußerungen Gegenwart und Vergangenheit voneinander unterscheiden, müssen sie mit beiden Stammformen operieren. In diesem Zusammenhang geht aus der Studie von Mahalingappa hervor, dass kurdischsprachige Kinder, die im Osten der Türkei mit Kurmancî aufwachsen, ab einem Alter von etwa zwei bis zweieinhalb Jahren sowohl eine Tempusform der Gegenwart als auch eine der Vergangenheit nutzen und somit die beiden Stammformen anwenden (vgl. Mahalingappa 2009: 53ff.) Die vierte Hypothese lautet entsprechend, dass diese Unterscheidung der Stammformen den meisten Studienkindern gelingen wird, da sie zum Zeitpunkt der Erhebung im Erwerb des Kurmancî bereits fortgeschritten sind.

      Die fünfte Hypothese bezieht sich darauf, dass das Kurmancî der meisten Studienkinder regionalen Unterschieden unterliegen wird. Denn das Kurmancî umfasst ein großes geografisches Gebiet, das auch größtenteils durch mehrere Staatsgrenzen geteilt ist. Des Weiteren ist seine Standardvarietät den meisten Sprecher*innen aufgrund soziopolitischer Rahmenbedingungen kaum verfügbar (vgl. Aygen 2007, Haig/Öpengin 2018).

      Die sechste Hypothese ist, dass Studienkinder, die Kontakt zu einer dritten oder vierten Sprache haben bzw. hatten, diese Sprache(n) auch produktiv nutzen werden, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie ihre ersten beiden Sprachen Kurmancî und Deutsch. Bei der Kontextualisierung der dritten Forschungsfrage wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Lebenswelt der Kinder, die mit Kurmancî und Deutsch aufwachsen, in den meisten Fällen eine bzw. mehrere weitere Sprachen angehören. Die Studie von Şimşek (2016) geht auf diese Tatsache ein und ermittelt, dass die von ihr untersuchten Studienkinder über eine produktive Sprachkompetenz in der dritten Sprache – in dem Fall Türkisch – verfügen. Daran anknüpfend geht die vorliegende Studie von einer produktiven Sprachkompetenz in weiteren Sprachen neben Kurmancî und Deutsch aus, zu denen die untersuchten Kinder Zugang haben.

      Die Hypothesen sieben und acht beziehen sich auf die Umsetzung des Konzepts der Kita und auf den Sprachgebrauch der Kinder in der Kita. Im Hinblick auf Ersteres ist davon auszugehen, dass die Kita Schwierigkeiten in der Umsetzung ihres Konzepts haben wird, da es sich in ihrem Fall um ein Pilotprojekt handelt. Darüber hinaus gibt es bis jetzt nur wenig bzw. kaum Erfahrungen im Umgang mit der institutionellen Vermittlung des Kurmancî (vgl. Akın 2017, Derince 2017, Grond 2018). Mit Blick auf den Sprachgebrauch wird vermutet, dass Kinder aus den kurmancîsprachigen Familien in der Kita vor allem zu Beginn mehrheitlich Kurmancî sprechen werden, da ihnen diese Sprache vertrauter ist.

      3 Design der Studie

      Da die vorliegende Studie als eine explorative Studie definiert ist, wird sie im Format einer Fallstudie entfaltet, die insgesamt sechs Kinder umfasst. Der Vorteil einer Fallstudie ist, dass das gegebene Thema besonders umfassend behandelt werden kann. Diese Herangehensweise ist für das Thema der vorliegenden Studie vonnöten, da es bis jetzt – wie bereits erwähnt – kaum untersucht wurde. Als Fallstudie kann sie ihr Thema „multiperspektivisch“ angehen (vgl. Gürsoy 2016: 18) und einen ersten Einblick in die Spracherwerbskonstellation Kurmancî-Deutsch ermöglichen. Des Weiteren ist es ein Anliegen, „die Kinder in ihren vielschichtigen Lebenslagen wahrzunehmen […].“ (Chilla/Niebuhr-Siebert 2017: 29) Dies ist ebenfalls im Format der Fallanalyse möglich.

      Die sechs Studienkinder wurden aus der Kurdisch-Deutsch bilingualen Kita Pîya ausgewählt. Sie heißen Zozan, Roza, Aram, Azad, Welat und Aras.1 Zozan und Roza sind Zwillingsschwestern und gleichzeitig die beiden einzigen Mädchen der Studie. Die anderen vier Studienkinder sind Jungen. In Bezug auf Zozan, Roza, Azad und Welat ist auch anzumerken, dass sie in den Jahren 2015 und 2016 im Zuge der sogenannten Flüchtlingswelle nach Deutschland kamen.

      Der Auswahl der Studienkinder wurden zwei Kriterien zugrunde gelegt. Erstens sollten die Kinder mindestens drei Jahre alt sein, da die zwei Hauptinstrumente der Studie – MAIN und LiSe-DaZ – für Kinder ab drei Jahren konzipiert sind (vgl. Gagarina et al. 2012, Schulz/Tracy 2011). Zweitens sollten die Kinder über eine produktive Kompetenz in beiden Sprachen verfügen. Damit ist in diesem Kontext gemeint, dass sie in beiden Sprachen Output geben bzw. beide Sprachen sprechen können, indem sie beispielsweise Sätze bilden oder Geschichten erzählen, so dass sprachliche Daten in beiden Sprachen gesammelt werden können. Zumindest sollten sie aber eine der Sprachen – Kurmancî oder Deutsch – sprechen, deren Erwerb untersucht wird. Fünf der sechs Studienkinder sprachen zum Zeitpunkt der Datenerhebung beide Sprachen. Nur ein Kind sprach in der Zeit Deutsch, aber kein Kurmancî.

      Die Informationen über die produktive Sprachkompetenz der Kinder wurden durch Gespräche mit Eltern und Erzieher*innen sowie durch teilnehmende Beobachtungen in der Kita ermittelt. Durch die Gespräche mit Eltern wurde auch sichergestellt, dass die ausgewählten Kinder keine Besonderheiten („Störungen“) im Spracherwerb aufweisen bzw. Einschränkungen haben, die den Spracherwerb beeinflussen, wie z.B. eine Hörschädigung. Im Folgenden werden weitere Angaben zu den Kindern tabellarisch zusammengefasst.



Name des Kindes Geburtsort des Kindes Erstsprache(n) des Kindes Alter bei Ankunft in DE 2 Alter beim Eintritt in die Kita Alter bei der Erhebung Kontakt zum Deutschen bei der Erhebung