Yasar Kirgiz

Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen


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handelt, ist in der Kurdologie und in der Iranistik Gegenstand von Diskussionen (vgl. Haig/Öpengin 2018, Matras 2017), auf die an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Der folgenden Karte kann indes ungefähr entnommen werden, wo welche Varietäten gesprochen werden.

      Abbildung 3:

      Landkarte zu den kurdischen Varietäten (Haig/Öpengin 2018: 159)

      Aus der Landkarte geht hervor, dass Kurmancî hauptsächlich in der Südost-Türkei, im Nordirak und im nordwestlichen Teil des Irans gesprochen wird. Es ist außerdem in einem kleinen Gebiet Nordostsyriens sowie Westarmeniens beheimatet. Zur Landkarte ist allerdings anzumerken, dass sie einige Regionen nicht oder nicht adäquat berücksichtigt, in denen ebenfalls Kurmancî gesprochen wird. Dazu gehören vor allem Gebiete in Zentralanatolien sowie in Nordsyrien um die Ortschaften Afrin, Kobanî und Hasaka (Hesîçe) (vgl. Havrest 1998: 73, Hajo 1982: 1, Strohmeier/Yalçin-Heckmann 2000: 29). Daher ist festzuhalten, dass Syrien neben der Türkei, dem Irak und Iran über eine beachtliche Anzahl an Kurmancîsprecher*innen verfügt, wenn auch diesbezüglich derzeit wie in den anderen Staaten keine genauen Angaben vorliegen. Es ist ebenso bekannt, dass in den großen Städten dieser Staaten, vor allem in Istanbul und Aleppo, große kurmancîsprachige Gemeinschaften leben.

      Auch innerhalb des Kurmancî gibt es zahlreiche Varietäten. Inzwischen befassen sich einige Studien mit den lexikalischen und vor allem mit den grammatischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser Varietäten (vgl. Haig/Bulut 2017, Haig/Öpengin 2018, MacKenzie 1961). An der Universität Manchester wurde auch eine Varietätendatenbank angelegt, die aus verschiedenen kurmancîsprachigen Regionen Sprachproben mit Transkriptionen sowie grammatischen und lexikalischen Analysen zur Verfügung stellt. Diese Möglichkeiten bietet die Datenbank im Übrigen auch für andere Varietäten des Kurdischen an.1

      Neben der Beschreibung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Varietäten gibt es auch Bemühungen, diese in Gruppen einzuteilen. Haig/Öpengin (2018) unterteilen die Varietäten in drei Gruppen und zeichnen sie in der Landkarte folgendermaßen auf.

      Abbildung 4:

      Die geografische Verbreitung der Varietäten des Kurmancî2 (Haig/Öpengin 2018: 193)

      Auch eine Standardvariante des Kurmancî gibt es, die sich maßgeblich auf das Süd-Kurmancî stützt, jedoch auch Elemente der anderen Varietäten zum Teil integriert (vgl. Haig/Öpengin 2018: 164). Die Standardisierung des Kurmancî erfolgte durch seine Verschriftlichung ab dem Jahr 1932 in der Zeitschrift „Hawar“, die maßgeblich ein Werk von Celadet Bedir Khan war (vgl. Grond 2018: 47). Das Standard-Kurmancî repräsentiert auf dem aktuellen Stand in erster Linie die Schrift- und Mediensprache sowie die Bildungssprache, sofern in Kurmancî Bildung angeboten wird. Der wesentliche Aspekt ist hier, dass der Varietät die nötige Institutionalisierung gefehlt hat, – beispielsweise allgemeinbildende Schulsysteme –, um sich etablieren zu können.

      Mit anderen Worten: Aus dem Kurmancî ist keine Hochsprache für alle Kurmancîsprecher*innen hervorgegangen, die von allen erworben wird (vgl. Grond 2018, Maas 2014 für die Begrifflichkeit der Hochsprache). Daher ist dieser Standard nicht allen Kurmancîsprecher*innen vertraut und wird selten gesprochen. Zu diesem Punkt wird in Bezug auf die Darstellung des Forschungsfeldes der Kita und im Weiteren im Hinblick auf die Kompetenz der Kurmancî-Erzieher*innen noch einiges auszuführen sein.

      Hier kann aber ergänzt werden, dass die Beschreibung der grammatischen Merkmale des Kurmancî im Abschnitt 4.1.4 weitgehend ausgehend von diesem Standard erfolgt. Des Weiteren wird er bei der Erläuterung der sprachlichen Daten von Studienkindern als Orientierung dienen. Da aber dieser Standard – wie dargestellt – den Sprecher*innen kaum verfügbar ist, wird er für die Analyse der sprachlichen Daten nicht als Norm gesetzt.

      4.1.2 Soziolinguistische Rahmenbedingungen des Kurmancî in den Herkunftsländern

      Beim Überblick zum Kurmancî wurde angeführt, dass dessen Herkunftsregion hauptsächlich vier benachbarte Staaten umfasst, nämlich die Türkei, Syrien, den Irak und den Iran. Dabei lebt der größte Teil der Kurmancîsprecher*innen in der Türkei. In jedem der genannten Staaten hat Kurmancî unterschiedliche soziolinguistische und soziopolitische Rahmenbedingungen, die – bis auf den Irak – weniger von den Kurd*innen selbst definiert werden als vielmehr von der machthabenden Politik (vgl. Hassanpour/Sheyholislami/Skutnabb-Kangas 2012: 14).

      Im Irak genießen die Kurd*innen seit 1992 einen autonomen Status und können ihre Sprache in der autonomen Region neben dem Arabischen sowohl in der Bildung als auch im öffentlichen Raum in Anspruch nehmen. Aber auch schon vor dem autonomen Status war die Sprachenpolitik des irakischen Staates gegenüber dem Kurdischen verglichen mit den anderen drei Staaten weniger restriktiv (vgl. Skubsch 2002: 267). In der neuen Verfassung des Iraks aus dem Jahre 2005 ist Kurdisch für das gesamte Land sogar als die zweite Amtssprache neben dem Arabischen definiert worden (vgl. Akın 2017: 160). Damit hat das Kurdische, mit dem Begriff von Maas (2014) ausgedrückt, im Irak einen „Verfassungsrang“ erlangt (vgl. Maas 2014: 41).

      In der autonomen Region Nordirak muss Kurmancî – in der Region eher Behdînanî (Badînî) genannt – sich allerdings gegenüber dem Soranî behaupten, das dort im Gegensatz zum Kurmancî verbreiteter und, damit einhergehend, die dominante Varietät des Kurdischen ist (vgl. Hassanpour/Sheyholislami/Skutnabb-Kangas 2012: 8, Thackston 2006: VII).

      In Syrien war Kurmancî, das dort als die einzige Varietät des Kurdischen gesprochen wird, weder die Sprache der Öffentlichkeit noch der Bildung1. Es war bestenfalls die Sprache der Familie und des nahen Umfeldes. Die Situation änderte sich, als die Kurd*innen ab Mitte 2012 begannen, die Kontrolle in den vorwiegend von ihnen besiedelten Regionen zu übernehmen und sich autonom zu organisieren. Über einige Regionen haben sie aber inzwischen die Kontrolle verloren, wie z.B. über Afrin. In den Regionen, die sie weiterhin verwalten, versuchen sie Kurmancî in der Öffentlichkeit und in der Bildung zu etablieren. Die von ihnen verwalteten Regionen sind aber ständigen Gefahren, u.a. Invasionen, ausgesetzt. Zudem ist der Status der autonomen Verwaltung weder durch die aktuelle syrische Regierung noch durch die internationale Gemeinschaft anerkannt (vgl. Brizić/Grond 2017: 23).

      Im Iran und in der Türkei ist die Situation der kurdischen Varietäten und damit auch des Kurmancî derzeit am ungünstigsten. Es ist anzumerken, dass von dieser Situation nicht nur die kurdischen Varietäten, sondern – bis auf die jeweilige Staatssprache Farsi bzw. Türkisch – auch alle anderen (Minderheiten-)Sprachen in diesen Ländern betroffen sind. Motiviert durch die Vorstellung „ein Staat, eine Nation, eine Sprache“ sind alle anderen Sprachen einer einzigen Sprache – dem Standard-Farsi im Iran und dem Standard-Türkisch in der Türkei – untergeordnet (vgl. Derince 2017: 177, Grond 2018: 36, Skubsch 2002: 259f.). Im Iran, wo die kurdischen Varietäten dem Farsi untergeordnet, aber zugleich mit ihm eng verwandt sind, wird diesen im öffentlichen Raum und Bildungswesen kein Platz eingeräumt. In Bezug auf das Bildungswesen stellt Sheyholislami die Situation folgendermaßen dar: „In fact there is no evidence that any of the minority languages such as Azerbaijani, Kurdish and Baluchi have been officially taught in any elementary or secondary public or private school that operates under the auspices of the Iranian Ministry of Education and Training.“ (Sheyholislami 2012: 35)

      Die Türkei ist nicht nur das Land, in dem die meisten Kurmancîsprecher*innen leben, sondern sie ist auch das Land, in dem die meisten Kurd*innen insgesamt leben. Die Praktiken der Türkei gegen Kurdisch – gemeint sind hier die beiden Varietäten Kurmancî und Zazakî2 – seit ihrer Gründung (1923) bis zum Jahr 2002 waren dermaßen restriktiv, dass sie in der Gesamtheit manchen Forscher*innen zufolge einem „Linguizid“ gleichkamen (vgl. Zeydanlıoğlu 2012: 106). Die Restriktionen erreichten im Jahr 1983 ihren Höhepunkt, als die Anwendung des Kurdischen verboten wurde, ohne dabei im Verbotstext das Kurdische zu nennen (vgl. Coşkun/Derince/Uçarlar 2011: 36, Grond 2018: 53f.). Das Verbot der kurdischen Sprache wurde 1991 teilweise gelockert, doch zu einer tatsächlichen Verbesserung kam es erst im Jahr 2002.

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