Yasar Kirgiz

Mehrsprachigkeit im Kontext des Kurmancî-Kurdischen und des Deutschen


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den Weg (vgl. Zeydanlıoğlu 2012: 114). Diese Reformen haben die Restriktionen gegen das Kurdische gelockert und gaben der Sprache zum ersten Mal die Möglichkeit, in den öffentlichen Bereich zu gelangen. Die Kommunen in den kurdischen Gebieten der Türkei nutzten beispielsweise in begrenztem Maße die Sprache bei ihren Dienstleistungen (vgl. Derince 2017: 188). Ebenfalls im Zuge dieser Reformen wurde an einigen Universitäten unter diversen Namen die kurdische Sprache und Literatur als ein Studiengang angeboten. Ein wesentlicher Beitrag hinsichtlich Bildung in der kurdischen Sprache wurde dadurch geleistet, dass zwischen 2013 und 2015 einige Grundschulen und Kindergärten als Pilotprojekte in Kurdisch eingerichtet wurden (vgl. Baysu/Agirdag 2019: 1087, Derince 2017: 190). Allerdings änderte die Türkei ab etwa Mitte 2015 ihre Politik gegenüber den Kurd*innen wiederum stark (vgl. Grond 2018: 59f.). Damit einhergehend wurden die kurdischen Schulen wieder geschlossen und fast alle Kommunen, die den Erhalt und die Entfaltung des Kurdischen förderten, unter Zwangsverwaltung gestellt. Letztere schlossen wiederum umgehend die kurdischen Kindergärten (vgl. Derince 2017: 190f.). Auch andere Vereine und Institutionen wie Kurdî-Der oder das Kurdische Institut Istanbul, die vor allem in der Vermittlung des Kurdischen an Erwachsene tätig waren, wurden geschlossen. Die Schließung des Kurdischen Instituts Istanbul zeigt das Ausmaß der neuen Repressionen, das zum Teil die Zeit vor dem Jahr 2002 weit übertrifft. Denn das Kurdische Institut Istanbul wurde 1992 gegründet und hatte die vorherigen Repressionen überlebt (vgl. Evrensel 2016). Gegenwärtig sind in der Türkei die meisten Vereine, Institutionen, Fernsehsender etc., die in irgendeiner Weise das Kurdische fördern, geschlossen worden, es sei denn, sie sind vom Staat selbst eingesetzt und agieren in seinem Sinne. Es gibt aber jenseits des Staates immer wieder Bemühungen, Strukturen sowie Möglichkeiten zur Förderung des Kurdischen zu schaffen.

      Es gab und gibt zahlreiche Kooperationsvorhaben zwischen Bildungseinrichtungen in Deutschland und der Türkei. Insbesondere die Berliner Kita Pîya bemühte sich darum, mit den kurdischsprachigen Kindergärten in der Türkei zu kooperieren, um Erfahrungen auszutauschen, Material zu akquirieren und Weiterbildungsmöglichkeiten hinsichtlich der Erweiterung der Kurmancî-Kompetenzen ihrer Erzieher*innen zu schaffen. Die geplante Kooperation kam jedoch unter den oben beschriebenen sprachpolitischen Bedingungen nicht zustande.

      4.1.3 Kurmancî in der westeuropäischen Diaspora, in Deutschland und in Berlin

      Auch wenn die Anfänge der kurdischen Diaspora in die westeuropäischen Staaten bis ins späte 19. Jahrhundert zurückreichen, kam es zu einer zahlenmäßig bedeutsamen kurdischen Emigration erst ab den 1960er Jahren (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 217f.). In diesem Jahrzehnt erlebten die westeuropäischen Staaten, vor allem Deutschland, eine rasante wirtschaftliche Entwicklung. Die benötigten Arbeitskräfte wurden u.a. aus der Türkei durch Gastarbeiterverträge rekrutiert (vgl. Ammann 2019: 34). Unter diesen Gastarbeiter*innen waren auch Kurd*innen (vgl. Karataş 2019: 26). Die Migration der Kurd*innen in die westeuropäischen Staaten hielt auch in den siebziger und achtziger Jahren an, hatte aber immer mehr die Flucht als Ursache. Zum einen hatten im Jahr 1975 die Kurd*innen im Irak den Krieg um die Autonomiebestrebungen gegen die zentrale Regierung verloren, die während des Krieges und danach brutal gegen Kurd*innen vorging. Zum anderen fand im Jahr 1979 ein Regimewechsel im Iran statt und in der Türkei erfolgte 1980 ein Militärputsch. Beide Entwicklungen waren zu Ungunsten der Kurd*innen, und die Repressionen ihnen gegenüber nahmen zu, insbesondere auch sprachlich.

      Im Jahr 1991 wurde im Irak in einem Teil der Gebiete, in denen Kurd*innen leben, auf Initiative der US-Regierung eine Sicherheitszone geschaffen. Die kurdische Migration aus dem Irak in westeuropäische Staaten ging aber weiter, da die politische Unsicherheit und mangelnde wirtschaftliche Entwicklung bestehen blieben (vgl. Ghaderi 2014: 137, Hassanpour/Mojab 2005: 218). Die neunziger Jahre waren jedoch geprägt durch die Fluchtmigration der Kurd*innen aus der Türkei. Das Hauptzielland der geflüchteten Kurd*innen war dabei Deutschland. In den Jahren zwischen 1991 und 2001 sollen etwa 197.250 Asylbewerber*innen aus der Türkei nach Deutschland gekommen sein. Es wird davon ausgegangen, dass ein erheblicher Teil davon Kurd*innen waren (vgl. Engin 2019: 12).

      In den darauffolgenden Jahren kamen weniger Geflüchtete aus Kurdistan in die westeuropäische Diaspora und nach Deutschland, aber die Migration ging weiter, z.B. durch Heirat und Familiennachzug. Diese Situation sollte aber nicht lange anhalten. Ab 2011 begann der Bürgerkrieg in Syrien, und die soziopolitische und sozioökonomische Lage im Irak verschlechterte sich. Dies führte dazu, dass in beiden Staaten radikale Gruppen erstarkten und große Gebiete unter ihre Kontrolle brachten. Sie griffen im August 2014 Şengal im Nordirak an und verübten dort ein Massaker. Außer Şengal griffen sie auch weitere Gebiete der Kurd*innen im Irak und in Syrien an. Als Folge flüchteten viele Menschen direkt in die westeuropäischen Staaten oder zunächst in einen benachbarten Staat, beispielsweise in die Türkei oder in den Libanon und im Anschluss weiter nach Westeuropa. Auch die Repressionspolitik der Türkei gegenüber den Kurd*innen nahm ab etwa Mitte 2015 wieder zusehends zu. Das Hauptzielland der geflüchteten Menschen war wiederum Deutschland.

      Die Folge ist, dass im Zeitraum zwischen 2014 und September 2019 etwa 330.000 Kurd*innen in Deutschland Asyl beantragt haben. Über die Hälfte davon kommt aus Syrien, etwa 36 Prozent aus dem Irak und 6 Prozent aus der Türkei. Über die Kurd*innen aus Syrien ist bekannt, dass sie etwa 30 Prozent der Asylanträge ausmachen, die von syrischen Staatsbürger*innen gestellt wurden (vgl. Pürckhauer 2019).

      Insgesamt besteht also seit den 60er Jahren eine dynamische Migrationsbewegung der Kurd*innen in die westeuropäischen Staaten, insbesondere nach Deutschland. Über ihre genaue Zahl sind jedoch keine verlässlichen Informationen vorhanden, da die Staaten bei der Einwanderung für die statistische Erfassung in der Regel nicht die ethnisch-sprachliche, sondern die Staatsangehörigkeit zugrunde legen (vgl. Derince 2020: 10, Ghaderi 2014: 135f.). Nur in bestimmten Fällen – wie im Asylverfahren – können Migrant*innen ihre ethnische Zugehörigkeit angeben und diese wird dann ggf. miterfasst (vgl. Engin 2019: 8). Daher gibt es nur grobe Schätzungen und ungefähre Angaben über die Zahl der Kurd*innen in den westeuropäischen Staaten (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 214). Ihre Anzahl in Deutschland wird dabei unter Einrechnung der neuen Geflüchteten auf 1,2 Millionen Menschen geschätzt (vgl. Engin 2019: 9). Damit dürfte die Anzahl der Kurd*innen in Deutschland die Gesamtanzahl der Kurd*innen in allen anderen westeuropäischen Staaten übertreffen (vgl. Grond 2018: 78, Skubsch 2002: 225).

      Da die Kurd*innen aus der Türkei bereits in den 60er Jahren in der westeuropäischen Diaspora anwesend waren und später in den 80er und vor allem in den 90er Jahren in großer Zahl und zum Teil politisiert dazukamen, haben sie auch die Aktivitäten der kurdischen Diaspora geprägt bzw. prägen diese weiterhin. Als Folge wurde/ist Kurmancî die Sprache dieser Aktivitäten. Denn die überwiegende Anzahl der Kurd*innen aus der Türkei spricht diese Varietät, wenn auch die Anzahl der Zazakîsprecher*innen dort nicht gering geschätzt werden sollte. Es besteht sogar die Annahme, dass Kurmancî sich in der westeuropäischen Diaspora zu einer Art lingua franca unter Kurd*innen entwickelt hat (vgl. Ammann 2019: 28, siehe auch Derince 2020: 58)1. Der erste kurdische Sender Med-TV – gegründet in der westeuropäischen Diaspora im Jahr 1995 – bot beispielsweise Programme meistens in Kurmancî an (vgl. Hassanpour/Mojab 2005: 219). Auch die meisten kulturellen Aktivitäten, wie z.B. Newroz-Feierlichkeiten, fanden/finden überwiegend in Kurmancî statt. Für die Zukunft kann erwartet werden, dass diese Tendenz nicht ab-, sondern eher zunehmen wird. Denn die Kurd*innen aus Syrien, die in den letzten Jahren in einer großen Anzahl Asyl beantragt haben, sprechen ausschließlich Kurmancî (vgl. Ammann 2019: 28).

      Auch in den Bemühungen zur Integration des Kurdischen in den Bildungsprozess stand/steht das Kurmancî im Vordergrund. Im Kontext von Deutschland gilt dies sogar nahezu ausschließlich (vgl. Skubsch 2002: 302). Viel wichtiger ist jedoch, dass es weder Kurd*innen noch ihren Aufnahmeländern gelungen ist, das Kurdische – sei es Kurmancî oder andere Varietäten – in das Bildungssystem des jeweiligen Staates übergreifend und durchgängig einzugliedern (siehe die Ausführungen unten zur Lage in Deutschland). Schweden dürfte dabei die einzige Ausnahme sein, denn dort sind kurdische Varietäten neben anderen Sprachen der Migrant*innen in das Gesamt-Bildungssystem inkludiert. Die Eingliederung der kurdischen Varietäten in das Bildungssystem hat auch die Infrastruktur dafür geschaffen, dass in Schweden Lehr- und Lernmaterial sowohl für den vorschulischen