Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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Berlin–Moskau–Studentenver…“, und auf der anderen Seite ist das weiter unbeachtet vom Winde verweht. In den Wagons rutschen die Scheiben nieder wie wohlweislich entglittene Brote, und belegte Rufe fliegen zu Eltern, Verwandten, Geliebten geschmiert. Eine Jacke schüttelt sich spannungsgeladen, voll von scheckigen Orden behängt, und ihr Träger redet von Auftrag, Ehre und Pflicht. Das Mikrofon versteuert sich leicht. Eine Fernsehkamera surrt, und der Redakteur stellt sich die Gruppen ins Licht. Die Eltern erzählen von Kindern, die Kinder von sich.

      „Freundschaft-Völkerverbund …“ – „Immer bereit!“ –

      Gleich einer welken Mauer bröckelt das Echo, und die Getroffenen rühren sich warm. Dann drückt sich ein Offizier in die Einstellung groß. Hände schütteln Hände wie reife geschwollene Früchte, und Blumen fallen ins Bild. Die Musik salutiert wieder Ohrenlauthals. Ihre Fetzen stoßen gegen das Dach aus der Hülle von Stahl und mischen mit dem Lärm von den Zügen, den Lautsprecherhöhen und dem Stöhnen der Karren Gepäcks. Allein der Himmel scheint lautlos verschmiert.

      Humpelig schürfen zwei Koffer die Treppe hinauf, und der Junge an ihnen tut sich schwer die Menschen zur Seite zu wühlen. Eire Rotblonde dahinter schiebt ihn weich in den Rücken.

      „Los doch, Beeilung!“, kommandiert ihr der Junge.

      „Verzeih! – Deine Hand!“ – Der Bahnsteig, die Leute.

      „Welcher Waggon?“

      „Der dritte!“ Die Rote schaut nach dem Atem.

      „Hier! Endlich.“ – Er fächert in den Korridor mit den Koffern, stellt sie breit auf die Plätze und schleppt sich wieder leer auf den Steig. „War knapp“, sagt er, rundet einen Blick über die Menge und Fahnen, über die Köpfe – im Windzug geschmückt –und zwinkert einem Mädchen ins Auge, das sich weit hinauslehnt zur Schau. Aber es macht ihn nicht sicher mit mal Er haspelt im Wort und verkürzt zu dem Schluss: „Ganz aufgeregt ist man ja schon.“ – Doch die mit dem Farbenhaar Sonne hat nichts gemerkt, bemerkt nur die Tränen um sich, und sie reibt im Gesicht: Die Tusche läuft ihr von den Wimpern und verwischt die Sprossen vom Sommer mit zu. „Ich komme bald wieder …“, heilt sein Trost in dem Lärm. „Vielleicht schon Oktober – oder … Du kommst nach Moskau …“ Er umarmt sie wie alle umarmen: verwandt und bekannt.

      „Ach, Liebe …“, fällt ihm Gott sei Dank ein. Dann trennt er sich abrupt von ihr und zieht fix das blaue Hemd über: „Hätte ich beinah vergessen! – Wir müssen doch alle …“ – Das Mädchen hatte es schon vorher gründlich gebügelt.

      „Zum Sonderzug … einsteigen! Türen schließen!“

      Das letzte Hetzen beginnt, und die Rotblonde heult mit den Rudeln. Der Junge kennt keinen Rat. Was sollte er tun? „In Kürze … Petra, nicht weinen! Ich denke … wir denken …“ Der Zug stößt sich ab, und die Musik stampft mit den Rädern, den Bräuten, den Müttern. Das Schluchzen wird frei. Wagen und Wagen rollen wie ein Film, verschwommen und trüb. Die Hände sind nur noch Zeichen und Schläge. Vergeblich freilich klammern sie sich an dem Bahnsteige dicht, denn sie gehen mit der ersten Biegung unter am Gleis. Es ist Abschied, ist Abstand und Wiedererlangen. So rollt der Zug in die Formen dahin.

      „Wozu? Warum das Fort und die Unrast? Warum dieses Rad?“ – Gedanken spalten in Wehe, und die Weite schmilzt sich in Einsamkeit um. Ungewiss wie die Augen, die dunkelgrund Signale vorholen, sind Martin Sarodnicks Fragen. Indes, im Mund bleibt ein Lächeln verspielt. Er wechselt vom Schaden in Freude – der Weg ist gemacht, er ist auf der Strecke. Alles andere ist lange zurück. Ein paar Nachwehen bleiben, wie das Knie, das bepackt ist mit Bändern aus Mull. Darunter ruhen der Schmerz und ein Sommer.

      Im Waggon drei schweben Gespräche und Nachsicht. Namen fallen ins Spiel. „Dieses Bohren und Brennen!“ – Er hätte Arzt werden sollen, wie es der Vater gedacht, der bis heut’ noch böse sich gibt und die Absage, den Trotz nicht verzieh. „Der Arzt wüsste Bescheid.“ – So ist das Knie. Und die Schmerzen. Und so waren die Ferien gemischt, die letzten mit Petra: ein Sommer am Meer, ein Zeltsommer auf kieseligem Sand mit Schaum in den Haaren und Wind. „Als ob das Nichts dieses Sommers den Schmerz retten kann!“ – Oder gilt er als letzter Stein in den Fragen? Darf ein Sturz mit dem Krad in den Graben mit überdrehendem Tempo den Abschied nicht abhalten können? „Glück gehabt, es hätte schlimmer sein können!“ – Schlimmer für wen? Für Petra bestimmt nicht, sondern wäre nur ein Verzögern für sie, eine Hoffnung auf Bleiben, gar auf „Zu-Hause-Verblieben“. Hatte sie ihm nicht schon die Ringe in der Auslage in Leipzig gezeigt? Er hatte dazu nur ironisch gelacht: „Wie komisch die aussehen: dickgebogen und Gold!“ – Rot war sie dabei geworden, verstand nicht den Spaß und sprach nie wieder darüber. „Also wird es ein später noch geben.“ Für Petra. Und für Sarodnick auch? –

      Monika aber sitzt jetzt jedenfalls neben, wickelt den Jungen ein übers Knie, und ihr Blick ist der eines Sieges von heute – oder wenigstens „wie“, wenigstens „dicht“. „Soll die Zeit ruhig rollen und spielen.“ – Aber noch ist Moskau nicht da, und Rückkehr fädelt Nadeln in Öhre, dringt durch wie gesiebt. Monika ist die Brücke schon einmal gelaufen, nicht fremd und von der Erde – wer weiß schon wohin? – in ihre Augen zurück:

      klar, ohne Wolken, blau, deutschblau, mit Wasser am Rand und dem Wissen vom Ich: „Ich sehe mich tief, fleißig und zornmütig gar – vorher und nachher aber gemütlich.“ – Auch Petra hat dieses Reine, ähnelt ihr, und Monika wiederum ähnelt denen, die er gekannt, ist ein wenig heller, fahlgelber bloß und dazu mit einem Polster aus Herz. Sarodnicks Mutter dagegen hat die braunen, die so auch seine Augen geworden. Der Sohn aber sucht in dem Blau, in den Flecken Metall-Spiegel und glatt wie gefallen. Verflacht seine Kindheit darin? „Petra, Monika – sind sie gleich wie zwei Augen?“ – Sein Mund formt sich zur Klage, hat eine Absicht bewirkt, und die Hände des Mädchens binden sich zart, sie lindern Bescheid. –

      In Halle, um Liebfrauen und Händelaltar, wo Bettina von Arnim zwischen zwei Männern entschied, traf Sarodnick dieses Mädchen zum nächsten Mal wieder. Denn vorher war Leipzig – die gleiche Universität, die Korridore, die um das Gleiche sich wanden. Doch es war damals bloß ein flüchtiges Sehen darüber, ein Fluchtsehen nur. Der schale Kaffee an verschiedenen Tischen, und ein Lächeln war ungezählt nichts – eine nichtgezählte Begegnung. Da in Halle freilich zählte es plötzlich schon, und grundlos fand sich der Anlass: „Du hier?“ Sie hatten den Flirt – ein Dutzend von Tagen. In der Stimmung lag Grund, der Zubereitung beließ: das Studium vor Moskau, das Ausrichten, das Gleichrichten für mehr und mit staatlichen Richtern als Beilage zu, die sich spiegelgleich glichen, das Konzept in der Hand, und mit dem sie Zweifel zerhieben in Bande. Begeisterung und etwas Entgeisterung blieb. Die Halbtausend wachsenden Kinder spürten – wenn sie nicht lange schon ahnten! –, warum sie gerufen, wozu dieser Trab: Man baute die Fronten, gab ein Erlauben in Ehre fanfarig, und das Band sprach bis zum Ostbahnhof Bände, war breitstirnig dort um die Wagen gerollt.

      Natürlich war für Monika alles weniger voll und aufregungsgeladen. Sie stand in den Dingen, hatte ihr Studium schon weg und hängte ein Jahr nur hinzu. „Es werden verlängerte Ferien für sie“, dachte Martin und kratzte am Bein: „Fünf Jahre dagegen für mich.“ – Fünf Jahre sprechen und schreiben in einer Sprache, die sich nicht gibt, mit der ihn höchstens Grammatik verband. Es war nicht seine eigene Sache. „Ich sollte mich an Monika halten, am nützlichen Bier.“

      Steht sie nicht immer noch unter dem Torbogen im Vorgestern-Halle?

      Sarodnick hatte das Gas heulen lassen vom Krad, und die Radspur schabte im Moos, gassengerecht, an den Freistellen fürs Wohnen, fürs Grade-noch-Wohnen, fürs Neuwohnen in der Nichtmöglichkeit.

      Monika hielt – die Erfahrung bei sich – , hielt aus bis „unmöglich“, bis zum Sturz ab gegen den Zaun, und sie wusste, dass das Motorrad nicht das erste Mal fiel und noch weitere Male wird werfen – bis zu dem Umsturz mit Petra am Meer.

      „Wann wirst du bloß klüger?“, sagte sie und hatte sich das Bein nur gerieben. „Klüger ist Klugscheiß“, antwortete Sarodnick und schlug sich auf seine Knochen. – War sie verliebt? War sie angezogen vom Lärm, von dem Drumherum