Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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      „… ohne Kostüm“, wiederholte Martin stur, „ganz ohne – oben und unten wie nichts.“

      „Gut, ich nehme es bar“, toppte Dieter faustdick dem lästigen Freund hinter die Ohren. „Du nackt, oder sagen wir, in Unterhosen ‚verkleidet‘. Das wäre für mich womöglich ein Grund …“

      „Das ist doch wohl nicht dein Ernst?“, stöhne Sarodnick und stand da ohne Hose. „Dann eben nicht. Tschüs! Ich muss den Brief weiterschreiben an Ilse.“ – „Hier“ – wieder ging Martin sich an den Gurt: „Ich werd’ es dir zeigen!“ Und kurzbeinig, peinlich – der Gummi war schlaff – watschelte er ohne Schuhe in wollenen Socken, und der Mut sank ihm in den Schnee vor der Tür an der Höheren Schule. Aber dahinter war Fasching, und er zog ihn mächtig hinein.

      „Du warst doch schon drin!“, sagte einer noch auf der Straße und stieß ihn zur Tür, ohne zu fragen, ohne Billett.

      Frederike malte im letzten Studienjahr Träume. Sie war groß und begabt und nahm Martin zu sich erfahren nach Haus. Ihr geliehener Mantel schlotterte ihm als bloße Stafette ums Knie. Sie aber gab den Stab an ihn weiter. Er fummelte dran, fand nichts dabei, fand überhaupt nichts bei sich und war drüber erstaunt: Frederike war seine erste richtige Frau, und er hatte nicht einmal richtig geschlafen mit ihr. Die Angst schlief mit ihm, er wusste nicht wie, nicht wohin, und das Mädchen wusste nicht mehr oder wusste, dass Männer nicht unbedingt sind, und nahm den Jungen wie Sahne. Der leckte es ab, machte sich nass, und die Frau schlief unter dem Mantel in Ruhe. Weit war der Weg zu den Mädchen, und große Worte gehörten nicht zu. Die Furcht saß bei Martin dazwischen, Kompromisse im Satz, das Abstreifen der eigenen Grenze.

      „Ihren Pass bitte!“ – Sarodnick zeigt seinen Vermerk „Gültig für alle Staaten“. Und der erste Stempel drückt sich im Pass, und ein Gruß des Soldaten – gültig in jeder Armee – klappt hinter ihm zu: „Gute Reise für Sie!“

      „Elende Fahrt!“ Zuhause jetzt hätte er Ferien, wie Petra, mit Petra im schönen August, im Zelt an der See, hätte ihren Mund in dem seinen – ihren, der schmal war und schnittig. Lange hatte es gedauert, bis der Kuss ihnen „saß“, und sie hatten sich festgeklammert im Glück. Am Morgen dann waren ihre Lippen geschwollen, und sie schämten sich beide darüber. Ihre Zärtlichkeit war ohne Lippen viel mehr, war ein vorsichtendes Grüßen, ein Ausweichen vor Zittern, vor Schmerz, war Bruder und Schwester, war eher Spiel als Berührung und Schmelzfluss im Sinn.

      „Monika küsste sehr gut, unsinnig besser – o nein! nicht besser, nur voller – nach dem Festball in Halle vor ihrer Tür.“ – Vielleicht war sie zu offen mit ihm, war ein Mund bloß als Rand – sicher ein Schwungrand, aber doch Rand. Und Martin riss die Lippen mit auf, wie bei Linda, der Germanistin aus der Deutschen Bücherei in der Stadt, in der er fast jeden Tag saß und die Philosophie verschlang wie den Nachschlag zum offiziellen Gericht: Er hatte von Linda eine Sondergenehmigung für Nietzsche, C. G. Jung, Stephan George … bekommen. Es war wie ein Geheimnis für ihn, und er wühlte darin, war eine Einführung in okkulte Bereiche, ein trotzdem zum Leben, zum Wertlosen, das wertlich beschrieben, und die Schwermut nahm sich darin schwer und sehr ernst.

      Sarodnick lag in seinem gemieteten Bett, im gemieteten Zimmer für dreißig Mark in der Vorstadt von Leipzig und wog seinen Mut: Konnte er leben mit hundert Mark unter dem Kissen, mit Unvermögen sich Wege zerstreuen, mit abgerissen von gestern, von Eltern, von Freunden und mit keiner Richtung in Sicht? Er klang sich in Reue, im Schatten, und er wärmte darin, klammerte an den Büchern, um die Triebe in Nachsicht zu setzen, die Analyse zum Reif in die Leere – sein eigenes Ich.

      Die Bänke im Saal waren schwer von den Köpfen, und Martin las in Märchen und Typen, die in Archen verpackt waren und ruhten. Er fand den Mann in der Schwüle der Endproduktion, den Hauch der Bürgerentsammlung, die Hochzeit im Beinhaus. Er spürte überall künstliches Licht, und das zog ihm über das Herz, diese Sprache im Tritt, die Krankheit verschmierte in Ordnung, die vor dem Meer einen Breitstrom, ein Delta abgab. „Drei Noten im Tristan“ und der Klang von gekippten Betten darin, das hohe Fieber mit Ironie – wer könnte da lachen im Krampf?

      Drei Bänke weiter saß Linda, drei Straßen weiter von ihm in dreißig Mark Miete. Sie schied sich in Psychologie, schied sich die Geister, scheute bescheiden den Lärm und kannte Bescheid: Saß sie doch schon Jahre einige Reihen weiter im Saal. So kam für beide die Trauer gemeinsam, der Zweifel, der Einsang zu fragen und die Harmonie im einfachen Schweigen. Stumm hatte Martin sie zu küssen versucht, und sie staunte darin: Ihr Mund war weit vor der Antwort, klappte nicht zu, war ein Wochen- und Monatestaunen. Später dann nahm Martin die Hand mit zur Hilfe, und er öffnete zum Mund ihr die Bluse. Ein Knopf rollte ab, und Linda schlug die Empörung an ihn: „Wie konntest du nur?!“ – Fortab saß sie wieder ferner drei Bänke und suchte in ihren Büchern allein. Sarodnick aber war zum Fasching gegangen, lag Frederike selber Modell und stellte sich nie mehr für fünf Mark splitternackt aus: Er hatte seinen eigenen Preis. Oder ging er nur Gefahren zur Seite? –

      „Clever wie sie“, sagte er sich und sah auf Monika seitlich. Sie hatte gewartet, bis der Zug den Bahnhof verließ, bis Martin abklang in sich, sacht und entschieden. Alsdann schickte sie ihre Freundin voraus mit dem Gruß: „In unserem Abteil ist ein Platz über.“ – Wie hätte er abschlagen, nicht überschlagen sollen – einen Platz zwischen den Mädchen? Er reute es nicht – gesorgt und gehegt von den Formen, geboten in Wahl und in Reihen – und Selbstruhe lag in dem, ein Grund in der Sache: „Ein Mädchen ist verteilt keine Frau.“ – Sarodnick muss sich nicht zeigen, vermag nicht und muss nicht vermögen; er kriecht in die Streuung und macht allen den Hof. Aber er schlief doch mit Petra? – Eben. Das einzige „Richtig“, das einzige Mal, die einzige Frau. Darum die Bindung, die Trauer, die Furcht. – Der Zug geht durch Fremde, durch Gebiete, die Sarodnick nur aus dem Schulunterricht kennt: wohlige Namen, die einstmals anders geheißen – deutsch-endig und -stämmig. Sie sind polnisch geworden, neulich und wieder, sind vom Leide gelöst, von dem Tod, den sie gaben, und sie sind Ausland, ausladend für die, die sie nahmen.

      Noch niemals war Martin im Ausland gewesen – das eine Mal als Kind kann er nicht zählen, im Lager, als er sich verlief in den Bergen und nach dem Weg einen Bauern fragte, der ihn in einer fremden Sprache erschreckte. Und der Junge weinte damals davor. Tschechisch war es, und Polnisch ist dem verwandt, wie Russisch, wie alle slawischen Sprachen. Zehn Jahre hat er Russisch gelernt – und wie! –, mit Zensuren, die stimmten wie die anderen auch, und mit nichts, fast gar nichts, das hängengeblieben wäre davon. Monika indes hat zwei Sprachen in ihrem Hals, das ist wie eine Kette, ein Schmuck. Und er bittet: „Sag etwas in Russisch, ein Wort!“ – Dampf, Schienen und Müdigkeit schlagen auf Schwellen. Nacht zieht hinter die Fenster, und ungewohnt breitet der Schlaf sich in Fahrt. „Unter dem Weg, auf dem Wege, wegig, unterwegs – Kilometer im Leben, rollendes Leben …“ Im Sinken, im Eintauchen legt sich Vergessen, legen sich Träume zum bald, und Martin greift in die Tiefe, klammert die Hände daran. Allein in den Welten, Gleiten im Sein, mitten von löschenden Sinnen – nichts tun, ein Flackern, ein Blasen, ein Scheitholz im Feuer des Wagens, ein Silberton im Gesicht. Nacht. Endlich. Räder laufen im Atem. Eine Hand drückt die seine – gleichviel von wem. Man ist noch. Zählt. Und man hält in den Händen und sinkt. –

      Als der Tag in den Wagen sich gießt, ist man in der Sowjetunion schon, in Weiß-Russland, und die Waggons laufen jetzt breit, auf breitbeinigen Schienen, anders genormt.

      „Die könnten sie bei uns auch installieren“, meint jemand. „Unmöglich“, erwidert sein Gegenüber. „Der Westen macht da aber keineswegs mit, und wir sind leider immer noch abhängig von ihm.“ – Breitspurig erklärt er die Lage, und die Lage wird klar: Sarodnick ist in dem Land mit den anderen Normen. Schicksale gehen die Runde, und an die Türen klopfen Studenten in Uniformen und verteilen Broschüren, formen, was noch nicht ist geformt, Abteil an Abteil. In jedem Kopf stecken Plaketten, man fährt in die Sonne, und Martin bangt in der Frage nach Ankunft.

      Berlin–Leipzig war klar. Er studierte hier, dort wohnte Petra. Martin nahm den Koffer, kam an, „zuhause“ bei ihr. In Berlin war seine Wohnung, in einem Gartenhaus bei einer vergessenden Dame, in einem Haus außer Häuschen, mit Musik und Festen darin. Dahinter lag Berlin als Hinterhalt,