Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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und Martin blähte gelähmt, flimmerte den Schein und den Spott in den Kegeln. „Das ist schon das Größte, weiter geht es nicht mehr – Kerzen in Schlössern und Sphären!“ – Er schluckte die Masken – Leipziger oder Berliner – die Drachen, die Bärte, den Sommernachtstraum, und er fiel über die Steine, die man ihm absichtlich stellte: Bert Brecht, die Zweifel im Hoch, die Krise als Zucht und die Maßnahme als Regel – das elfte Plenum als Spiel. Für Sarodnick waren es ausgelegte Karten zum Greifen, und er griff nicht daneben, noch nicht. „Glatt wie ein Scheit“, – und glatt rollten die Gespräche mit Monika über die Bühne. „Wir haben in der Oper herzlich gelacht.“

      „Zum Kotzen, der ‚Faust‘! Der zweite Teil ist zum Vergessen.“ – Monika schaute die Könige alle in Leipzig, und Sarodnick hinkte voraus. „Über das Leipziger Ballett kann ich wohl richten“, spürte er und kannte ihre Tänzer sehr gut, ihr FF, ihre wie Faltern schwebenden Finger, ihr Freifeist und -geist, ihr fahrendes Fisteln, und er lockte sich mit in dem Spiel an den Hoden und ließ sich austanzen am Schweif. Ein Ausguss lief über die tanzenden Körper, lief über und goss manche Male aus Martin heraus. Es war ein Ringeltanz zum Anfassen unter dem Bauch. Petra freilich zog ihn vom Buhlen in ihren Sommer, und sie blitzte im Zimmer mit Teppich und Blumen. Da konnte Martin nicht anders, kroch in ihr Sofa und stellte die Schuhe auf ihre Löcher. Geborgenes Nest, eine Schwalbe im Herbst, Schwesterngeliebte – so nahm sie ihn auf. Sein Vater und seine Mutter waren entschuldigt mit ihr und ihre Flüche vergessen gemacht.

      Der erste Geliebte. Die Erste geliebt. Zweiseitig klebte die Angst, es zu nehmen, und erst nach langen Monaten hemmte sie aus: Sie gruben sich ein – vorsichtig, rücksichtig, den anderen nicht störend im Tun. Es war Liebe ohne Schreie und Schmerzen, ein Dahinschaukeln, ein Interruptus – man unterbrach sich mitten im Wort: „Was wolltest du eigentlich sagen?“ – „Ach, nichts.“ – Zu hoch mutete die Erziehung im Fleisch, war eine Not nur verrichtend: „Nichts. Mache nur weiter“ – es war der Schreck vor dem Später, und weil es nun einmal anders nicht ging, war eine Bindung, die bindet und löscht – gleichgerichtet auf Flammen zu Glut: „Das Feuer schüren, solange es löscht.“ – Jetzt ist es in Sehnsucht verstellt, ist „nicht wichtig“, und Petra ist eine Fiktion – Petra ist Liebe. Wie soll er da raus? –

      „Wir sind angekommen!“, erinnert ihn Monika unversehens an Moskau. „Was? Schon?“ Ein Wischen auf Scheiben, ein Tuscheln, und das Stechen im Hirn. Wieder Musik und wieder Plakate und Fahnen und Menschen.

      Der Junge irrt, stößt sanft gegen die Leute und Rufe, gegen Wartende mit Schildern unter der Brust. Um jeden beschriftenden Bauch scharren die Neuen, die angekommenen Deutschen und ordnen sich zu. Für Sarodnick dagegen warten kein Schild, kein Institut und kein Ruf – er steht den Namen im Rücken. „Wo ist Monika nur?“ – Ordner treiben ihn weiter, ins Gitter, zu neugierigen Augen, die nach etwas ihn fragen. „Ich …“, steckt er bloß ein. „Wenigstens die Koffer irgendwo stellen!“ –

      Der Bahnhof ist wie eine ausgetretene Wiese. „Farbiger“, denkt er, „Farbe vergossen für Jahre.“ – Eine Frau aus der Botschaft verzagt: „Auf meiner Liste finde ich nicht ihren Namen. Aber temporär … Ich kann telefonieren.“

      Man geht „vorübergehend“ zur Universität – zu einer fremden. „Da sind Betten. Und später regeln wir alles von selbst.“

      Kunstleder im Arm rollt Sarodnick auf der Treppe für Götter, für die Gestürzten, in marmorne Schächte: Die Moskauer Metro gibt ihr Karussell. In Steinen setzen schwingende Fäuste, und Mosaike sind in die Flechten der Haare geschnitzt. Halbwärts auf Flitter beugen sich brustfest Ritter vom Amt zu dem hastenden Volk – Mitfahrervolk –, zu den schwankenden Netzen und Taschen. Nichts ist zu schade hierfür. Die Wände sind mit Edelsteinen besetzt, und Lenin liest sich in georgischen Lettern. Im Überlicht steuern die Scheinwerfer aus, Kathedralen wanken unter der Erde Öffentlichkeit, Burgen und Schlösser steigen aus der Legende, und mit ihrer Freizeit im Schoße sitzen die Mädchen mitten darin. Ihre Zimmer aber schlafen auf Erden. Hier jedoch sind ihre Stunden, das Buch, der Freund und der Kuss. Unterstellen, um zärtlich zu sein, anonym sein, schön in dem Zelt. Die Sackgasse wird zur offenen Tür – allein und gemeinsam, riesig und klein – zu einem Tempel für unheilige Zeiten, zu einem Satzzeichen in einer wörtlichen Rede. – Sarodnick lädt sich selbst in die eisernen Betten des Internats, irgendwo weit im Moskauer Süden. Die Nächte sind heiß, und herbergig ist die Hoffnung nach Klärung – von Botschaft aus Botschaft – das Hoffen auf das eigene Bett. Er streift die Vertikalen zum Himmel, verdreht die Lomonossow-Universität sich von den Seiten, die wolkenhoch sozialisiert. Der Wunsch ist verhangen, das Wider zu den Kratzern im Westen: Kaukasische Berge, gedrechselte Wertarbeit unter dem Tisch, und eine Höhe ist „um Gottes willen“ erreicht. Für die Besten der Besten ist es gemacht, sind Volkshäuser für die Verdienten des Volkes. Man gab ein Exempel, das Exempel genügte: ein Vorzeigestück. –

      Die geplante Versammlung am Morgen fiel aus, wie alle Versammlungen ausfielen, und man traf sich nur kurz, wie geniert, im Hofe der Uni, war gepresst von dem Mittag der Hitze. Ein Vertreter der Botschaft teilt sich mit – knapp, blitzknapp und leise:

      „In dieser Nacht haben unsere gemeinsamen Streitkräfte des Warschauer Paktes die Grenzen zur Tschechoslowakischen Volksrepublik überschritten und haben damit den Weltfrieden gerettet.“ – Was für schreckliche Hitze! Irgendjemand ruft: „Bravo!“ Der Botschafter packt zusammen, verschwindet. Zweihundert Jungen und Mädchen sind wieder allein. „Das muss ausdiskutiert werden“, sagt einer. Keiner.

      „Später! Ihr bekommt Direktiven.“

      „Diskretion und Disziplin wahren!“

      „Die Unterkunftsfrage wäre zu klären.“

      „Die Essensmarken bitte bei mir!“ –

      Warten und Teetrinken – russischer Tee mit viel Zucker.

      „Das schlafft deine Nerven“, hatte Sarodnicks Großmutter gemeint und ihm den Topf mit selbstgemachtem Kandis heimlich gereicht. Heimlich musste es sein, die Eltern waren dagegen: „Das Unkraut! Der schmutzige Zucker.“ – Heimlichkeit war eine Zier in dem Haus, heimlich schmeckte es besser, heimlich sündigte es sich, heimlich hörte man westliche Sender, heimlich kam eine krumme Frau, um in der Zukunft zu lesen, derweil der Vater auf Versammlungen einstimmig wählte. Probleme lösten sich hinter vorgehaltenen Händen, und die Hand schob sich schnell in den Mund und manchmal auch tiefer – zum Kotzen war es.

      Sarodnick hielt sich daran und hält die Hand gegen die Sonne, um von den Leninbergen zu schauen. Moskau ist dort, der Horizont seine Heimat und Petra und die Panzer, die fahren. Er nimmt die eigene Faust mit zu Hilfe und sucht die Zeitungen ab. Doch die deutschen sind gestern und hinken, nur die sowjetischen winken und strahlen:

      Kinder und Mütter schmücken Soldaten. Martin kann die Buchstaben lesen, die aber geben ihm keinen Text: „Frieden“ und „Freundschaft“ – und Flechtwerk zu Prag. „Verdammt, diese Sprache! Es hat keinen Sinn.“ – Monika müsste er finden. Gleich an der Lubjanka, am KGB, hat sie ein Zimmer, in einem Haus mit viel Glas und aufgelockerten Mauern, mit Flügeln, Balkons und gestaffelten Fronten, mit krummen Winkeln und Winkeln, die tolldreist sich bilden, mit Treppenhäusern aus Licht: ein Wohnheim-Konstruktivismus. Und Martin erbaut sich darin.

      In dem Haus teilt sich Monika den Raum mit einer Jüdin und einem georgischen Mädchen. Sie sind freundlich, und beide gewöhnt als Dreiheit zu leben. Die Jüdin ist rund um den Tisch, dunkel, untergestellt, mit offenen Augen wie Grauputz und Seide. Die Georgierin dagegen ist groß, gliedrig, mit olivenem Kopf, schwarzen Zopfhaaren über den Schultern und einem sehr lang gekrümmten Hals. Sie ist eine Frau aus den Epen, eine Unwahre, Ungefasste, mit schiefem winzigen Mund und hängenden Augen voll Ernst. Aus Suchumi stammt sie, und Suchumi hat Wasser und Berge und Honig. Martin lässt die Finger dran kleben und trinkt grusinischen Wein. „So tanzt Europa“, zeigt er den Mädchen, ist weit weg von den Körpern und sucht mit Gesten verständlich zu sein. Sie lachen: „Überhaupt nichts verstanden …“ – Er geht. Monika bringt ihn zur Treppe. „Ich hab’ dich gesucht.“ – Sie lässt ihren Mund ihm wie damals in Halle am Bogen, und es hat etwas an sich, etwas Wohliges, Sanftes,