Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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hatte so lange gewartet auf ihn. Gekleidet als Fest, mit einer gefiederten Brosche am Schnitt, das weiße Haar in den Nacken gestrengt, zogen tief ihre Winkel im Mund und liehen ihr Unnähe, Unweiche und Stolz: „Er hatte ihr es versprochen.“ – Der Abend ging ab, und der letzte Tanz sollte doch kerben, sich spitz einzeichnen ins Hirn. Bald würde bald, wäre das notwendige Übel verdaut, und sie könnte sich wegheben von ihrem Kreis, der sie schnürte, der das Theater, die Bücher als Notdurft sah auf die Schnelle. Bietet nicht Sarodnick so ihr eine Chance? „Die Sprache ist Mittel zum Zweck“, – und der Zweck würde nah bei ihm sitzen, wie ein Foto im Klick, wie das Auslösen eines Moments, der die Entscheidung bedeutet.

      Fotografiert sie nicht gern? Hatte sie nicht schon als Kind vom Dach andere Dächer gemalt? Ihre Mutter freilich holte sie fort, wies den Vertrieb aus der Zeit und stellte sie auf die richtigen Beine – sie hatte ganz andres zu tun. „Ohne Mann“ – das war ohne Vater, hieß alleine durchbringen das Kind, bedeutete die Knochen sich nässen im Brauwerk und diesem „Kerl“ den Fluch nachschicken für die angedauten Jahre als Braut – brautlos und ohne Beruf. Sie war rum um die Jahre, und in den Tränen hatte sie dazu noch den Hopfen, die Gerste von dem Freibier im Werk. „Das Kind soll im Elend nicht saufen!“ – Das Kind – der Glücksspiegel eh schon verspielt – sollte studieren, ordentlich sein, Leute und fein, mit Geld in der Tasche, das knistert. „Malerei? – Maler malen daneben. – Sie kann nebenbei tun, als würde sie sein: häuslich zu Hause, vom Balkon das Bild auf die See.“

      Und Monika wurde begabt für die Sprachen, redete nach dem Munde der Fremden, sprach breiter als die Spitzen im Norden, und es klang ein bisschen wie Ausland dazu. Die Tochter sollte mal die Mutter begleiten rund um die Welt, in ihre Träume und in ihr „Erzähl mir von das!“. Monika ließ ihre Mundwinkel hängen im Winkel und hörte den Rat, wird lange noch hören, gehören, gehorchen – trotz Trotz –, den Trotz nur in die Lippen sich schreiben. Sie wird die Mutter dulden und meiden – geschehen ist Scham, und zweimal kann man nicht in den Topf –, die Entscheidung fällt einmal im Staat. Gewöhnlich nimmt der Vater die Wahl, wenn man nach Grünzeug gerade erst riecht, und er nimmt sich dabei außerordentlich frei: „Du studierst – warte mal! – studierst Medizin!“ – Man wartet – der Vater bewirbt, kommt an, und der Weg des Sohnes ist gemacht und sein Bett: fünf Jahre höhere Schule, der Arbeitsplatz in der Klinik schon vor der „Fünf“ um den Hals und an diesem Platz bis zum Platzen gehalten. Da ist bloß noch für Auftrag, Orden und Lohntüte Raum. „Also die Ausnahme sein?“ – Ausnahmen stinken wie Schweiß oder Urin, den man in der Hose mitträgt als Angst. Sagen wir Normalität, abgesteckter Pfahl in dem Bein, Norm in der Norm: „Ich werde Lehrer. Geschichtenlehrer.“ – Nach vierzig Jahren schichtet man noch, langlebig, zukünftig, sicher auf festen Füßen genagelt. Der Marsch, die Unweil ist der Tugend abhold. „Wir wissen!“ – schon längst. „Seid bereit!“, – im Alter das Kind, der verdiente Feierabend mit dreißig – mit fünfundzwanzig gibt es keinen Studienplatz mehr, allerhöchstens noch fern, zweitgleisig, unwichtig, oder mit wichtigen Leuten im Gleis. Gewisslich wäre das auch zu stark für den Staat: Nach einem Vierteljahrhundert will plötzlich noch einer wissen, dass er nicht weiß, dass er sich irre und anders will sein! Ziele sind Ziele im Auge wie Dorn, und der Staat kann nicht warten, bis Monika sich bequemt zu entschließen. „Nützlichkeitsding.“ – Jedes Ding ist nützlich, solange es läuft.

      Und Monika lief wie gedreht in Stralsund inmitten der plattspitzen Schüler, die Stimme im Glas, die sie im Schulchor kristallisierte. „Lehrerin!“, stimmten die Lehrer. „Stimme, Strenge und Stolz.“ Doch Monika leerte den Stolz, gor ihn in sich noch auf: wenn schon nicht malen, wenn schon die Mutter, dann die Erziehung – und die Kinder am Zug zu den Teufeln!

      „Schön“, sang sie, „Pädagoge. Aber höher zum Alt, das Philosophische in den Lauten, den Schlag in den Rätseln, höher zum Fremden, in die Magie.“ – Das wäre Kunst fast schon wieder, ein semantischer Trick im Syllabus, die Sprache verworren in anderer Sprache. Vermählt sein mit Zeichen, ohne Ehe zu sein, ein Tor in die Weite – deuten lernen und verstehen in Zeit, lauschen wie Tiere, wie die Natur und begreifen. Begreifenmachen das Bild seinem Betrachter. Indes, Lehrerin also? Ja, aber auf einer oberen Warte: Es bleibt ein Verhüllen, ein Heimlich dazu. Der Lehrer entblößt, entzaubert, zeigt ganz. Der in der Sprache dagegen gibt nur Ergebnisse an, nicht den Weg und erst gar nicht den Ursprung. Das fertige Werk ist ein fertiges Bild – aufgestellt, ausgestellt alles. Es sind die Gedanken, die Umformung, das Vormalige hinter der Wand, und die Kunst ist ins Leben getragen. Vielleicht. Das ist die Farbe. Und Aufgabe. Ein Vermitteln, das nicht fordert, verlangt.

      Ihr Deutschlehrer war glücklich im Sieg. Für ihn zählten Prozente, und Monika zählte doppelt für ihn. Beim Malen sind Schlangen gestellt – und stehe mal an! –, eine Absage wäre ein Jahr für den Hund und ein Minus für die Zahlen der Schule. Da verzählt man sich schnell. Für die Sprachen ist es nicht leicht, aber ein Wink, eine Beurteilung, die sticht, kann den guten Rat billig machen und frei.

      Russisch/Englisch – zwischen Saxonen und Russen, zwischen zwei Welten, auf einem Steg zum Wackeln, zum Todwackeln und Fallen steht ihr jetziges Leben darauf. Und Monika ist nüchtern geworden, der Regenbogen ist weg, das Artifizielle, die Sprachkunst, die Kunst. In das Entwirren wirrt ein wenig nur Langeweile hinein – kein Mehr, keine offenen Fragen, keine Zeilen dazwischen –, und Regeln und kristallene Worte wirken ohne den zufälligen Grad. „Das wäre der Anfang“, könnte man sagen, wenn es nicht das Ende schon wär’. Es ist das Bedrängen der Arbeit, der Vertrag, das Ziel unter dem Glas. Der Alltag sollte beginnen – undenkbar, zum Denken gezwungen –, die alltägliche Arbeit, das Maschinelle mit individuellem Verstrich, wie jede Maschine mal ist.

      Dieser Gedanke würgte wie eine Kahlfläche zur Last, und Monika trägt ihn mit sich aus Leipzig in ihrem Gepäck. „Was aber soll’s! Bis dahin und dann.“ – Martin ist hier, der wird sie schon brauchen, und sie braucht es davon. Weit hinter dem Bahnhof ist Petra geblieben, hinter der Grenze, die Frankfurt passiert. Danach kommt mit Sicherheit Brest – die sicherste Grenze der Welt. Wer könnte die schon durchqueren? Wem gibt man den Schein zum „Betreten verboten“? – „Und die Touristen?“, denkt Monika sich. – „Petra hat Geld.“ Aber Zeit ist kein Geld und die Pässe liegen nicht auf der Straße herum. „Ob er sie liebt, diese Petra?“ – Eine Lücke saugt in der Stirn, in die ihre, in die von Sarodnick auch. –

      „Wie eilig sind diese zwei Jahre mit Petra vergangen!“ – Sarodnick sieht sie wieder in sich, sieht ihren Blick in der Mensa der Uni von Leipzig. Dort studierte sie Ökonomie, und Martin aß in dem gleichen Saale zu Mittag. „Achtzig Pfennig mit Nachschlag“ – und das nutzte er aus, reichlich und stetig, gleich, was es gab –, er hatte Hunger und viel, und er hatte obendrein auch kaum Geld. Seine Eltern halfen ihm nicht — wegen der Medizin und der verlorenen Aussicht. Der Sohn wollte die Kunst, und er stopfte sich mit Fertigkost voll seine Ohren. Danach ging’s in die Mensa, mit Blutwurst, Sülze, Eintopf, Kartoffeln und Kraut – achtzig Pfennige haben, Pfennige für den Geschmack –, und die Küchendamen kannten ihn schon des Nachschlags wegen. Der indes reichte ihm dick bis zum Abend. Hundert Mark für den Monat, mehr hatte er nicht, hundert von der hundertjährigen Oma, die stand noch zu ihm. Dazu gesellten sich die Kreuzer für die Arbeit zur Nacht – bei der Post, auf der Messe, auf dem Bahnhof als Lasten-Verschlepper. Gut war es ihm mehr in der Kunstakademie, als ein Zeichen zum Zeichnen, als ein Stück außer Papier: rumstehen und Geldverdienen dabei – die Stunde fünf Mark, stehen und denken „Was macht man damit?“ Ein Hintern, ein Fetzen Fleisch auf dem Block und die Konturen panieren, sich Zustellen wie eine aufgerissene Palette, Standgeld bekommen ohne den Stand: „Irgendwie verliert man an Würde dabei.“

      Es war Frederike, die ihm das Stehen verdross beim Faschingsball ihrer Schule oder danach – ja, kurz hernach war es wohl eher. Für ihn war es der erste Karneval in der Stadt und noch dazu bei den Künstlern, mit den berüchtigten Saiten, den Matratzen im Raum und den gemischten Getränken. Allein gewiss traute sich Sarodnick nicht, und so fragte er Dieter, den Freund aus der Schule, der in Leipzig studierte wie er. Der aber hatte zu tun, hatte eine Freundin sitzen zu Hause, musste ihr schreiben, wollte sie denken und konnte auch traurig sein bei. Dieter sagte sich ab, und Martin schilderte ihm den Fasching in Farben, nackt und berauschend, als kenne er sich da aus, als hätte er dort jedes beliebige Mädchen verbraten,