Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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die Form in der Hand. Wieder schleuderte er den Filz gegen die Tür:

      „Die Alte!“ – und er zog sich was drüber. Ilona verstand nicht, schüttelte den faulen Trick von sich ab, fand sich zerknittert, erniedrigt. Die Wirtin trat ein.

      „Eine Kommilitonin“‚ stellte Martin sie vor. „Sie kam ein Buch holen, mehr nicht. Indes, sie wollte dann bleiben – wegen der letzten Straßenbahn…

      die ist nun schon weg.“

      Die Hausherrin drohte mit Polizei, und ihr Nachthemd wehte beklemmend: „Besoffene Weiber bei mir! Ich kündige ihnen … unmittelbar … auf.“ – Verbraucht, ungebraucht heulte Ilona in ihrer Wohnung und schrieb zehn Seiten Abschied an Martin. Er hatte sie nicht mehr gesehen.

      Linda, Frederike, Elke – die noch unberührt war und weinte ganz nackt: „Ich habe so Angst“, – und Sarodnick weinte mit ihr: „Dann lieber nicht.“ – Zufrieden teilte er ihren Dank. Petra, Monika … Sie rauchte. Martin strich ihr über die Haare, balancierte über die Sprache und setzte sich hart in die russischen Sätze, die anders sich setzen als seine, die weniger kalt, die verschiedene Worte für gleiche Begriffe sich nehmen und nach den Gefühlen klar unterscheiden. Eine Sprache, die nicht verallgemeinert, sondern verstreut, die sich in Räumen bewegt und wenig im Transzendenten, die Blutwärme hat, Traufe, ein Nest. „Sie klingt wie die Sinne.“ – Es ist eine Sinnlichkeit tief, reifend, beschreibend, und die Träger sagen mehr, was sie empfinden und weniger, was sie gedacht, sagen es geradeheraus, direktweg zum Du, wie ein Hinüber ins andere, über andere, Äußere, ohne Vermittler und Eigen. Die Gefühle genieren nicht mehr, schämen nicht Worte zu machen daraus, die für Sarodnicks Sprache abgenutzt schienen, abgegriffen, unsagbar, nicht wiederzuholen, banal. Und mit Genuss lernt er diese neue Sprache, den Ursprung, von klein sozusagen, wo alles frisch, neuwertig, fremd, wo man vorbeigeht und fragt: „Was ist das?“, und man antwortet nur: „Ein Garten“ –, und das Wort ist hier noch sehr rein, festgewachsen im Beet, ganz konkret „so und nicht anders“, das Wort schaut aus dem Gegenstand raus. Wenn alsdann jemand ein anderes Haus, einen anderen Garten ihm zeigt und sagt: „Das ist ‚Garten‘“, ist er verblüfft, ist es wie ein Missgriff für ihn, ein Ausrutscher, eine zweite Liebe, die kurz war und nur so heißt, um irgendetwas erklären zu müssen oder um eben gar nichts klären zu müssen. Leicht sind die Phrasen, die Schemen, die Schilder; man passt sich hinein und stopft Fragen mit falschem Bewusstsein. Indes war jedes Wort doch ein Ding, jedes Ding war ein Zeichen und jedes Zeichen ein Graufleck auf Karten. Sarodnick hat in seiner Sprache über Gefühle wie in einer Geschichte gelesen, als Bezug über Gedanken, weislich gehütet, und im Leben fand er sie fad, wertlos, unoriginell. Oder lag es nicht dort? Hat er bloß nicht sprachlos und sprachlich gefühlt? „Ich liebe“ war abgerückt und verloren. „Liebe“ in der neuen Sprache hingegen ist neu, nicht wirklich, noch nicht erfasst wie ein Haus oder Garten. Sie wächst nicht und schmeckt, sie ist kein Schulfach für Martin.

      Dafür lernt er die Flüche, die mütterlichen, die Gesten, die unanständigen, nicht vernünftigen Worte, die die Launen nachzeichnen, die Stimmungen, welche weichstimmen, welche Lücken füllen und das Nichtweitergewusst, die Schmus sind für Ohren und für empfindliche Augen ohne Geschmack, schmutzig, ein „So-etwas-sagt-man-doch-nicht“! Erinnerungen sind sie von gestern, dass wider Erziehung noch strotzte oder vielleicht auch hauchende Nachwehen von Kindheit, von Kindheit-an-sich. Das wäre dann Freisinn, zwanglos, ohne Gepäck, ohne Kleider. – Zuerst wurde Sarodnick rot von den Fladen, unsicher, und er lenkte vorüber, sprach „schlafen“ und „mögen“, und der Anstand stand ihm dabei ganz gut. Er reckte in Sprachdisziplin und bog sich weg vom „Beim-Namen-Genannt“. – „So biegt sich das Deutsche ins Licht“‚ pflegte er es persönlich zu nennen. „Die Sprache ist voll von Dingen im Kopf, zeigt Denken im Namen, Hirnstriche, Reflexionen. Was aber spielt sich darunter? Wozu ist der Körper gesetzt? – Wir haben lateinische Formeln anstelle.“ Ein paar kluge, zensurfreundliche, für niemanden bissig. Wie drückt man Zärtlichkeit aus? Schon Niedlichkeiten sind träge, Verkleinerungsformen werden gemieden. Jeder spricht gleich. Sarodnick hört in die Graduierungen hinein, in das Beleben der toten Welt, der Natur. Und der Mensch tritt mit seiner Beziehung dazu. Ein Bund wird mit der Schöpfung gesiegelt, und das Wort gibt dem Menschen sein Bild.

      Als Sarodnick gehen lernt sprachlich, und Samwel – Semjon, Sjoma, Samweltschik, Sjomotschka – ihn in das Fluchen einweiht, wird er nicht fahrig, wechselt nicht weg, sondern scheint Gefallen daran. Es ist ein Jenseits vom Wert, von klassischer Bildung und Klassen, geschöpft aus Vorkrieg und Vorrevolution, wo es Aborte und Fleckenwasser nicht gab.

      Sie ist Turkmenin vom Kaspischen Meer, andererseits, jenseitig, zu Asien kaum oder gerade noch zugehörig und an Europa allenfalls grenzend. Ihr Volk ist eine Wurzel der Steppe, eine ziehende Horde mit Legenden auf Pferden, ein See zu den Bergen und mit Mädchen im Schlaf. Zu diesem noch aber hängt sich Europa und ein wenig Zivilisation, die Sippe versprengend, die Armut, die Wehr.

      Sie hat noch nicht die klaren asiatischen Formen, diese Bewegung, das Lächeln, das Nicht-Ausdruckgenaue. Maja ist groß, aus weichem Ton farben, aus Früchten und Brüsten, aus Augen wie Kirschen im nachweiligen Sommer, dunkel und fallend: „Berührt sind sie noch nicht.“ Etwas Nachtschönes geht in sie ein, ein Lösen im Dunkel, zudem ihre Haare den Hals als Schatten bedecken, dessen Haut vom Meere entstieg, sonnengetrunken im Bad. Sie ist inmitten von Pferden gekommen, vom Zelt auf der Weide, dann sesshaft gemacht, den Schleier zerrissen, das Messer der Freier verworfen. Manchmal aber keimt es noch auf, fiebrig, kristallen wie Schnee und geblendet – ein Sturm, eine Braut, die wirbt und nicht gibt, nur den Zorn und die Klage. Maja ist da, schön, diamanten – ein Rohdiamant ohne Fassung am Ring, ein Preis in den Bergen, zur Erde gefallen und tot. Jedoch Maja möchte die Haltung, will den Schliff und die Stellung. Sie wünscht Europa zu sich, möchte die Freiheit, hat aber noch keine Übung darin. Die Männer begehren sie, fachen sie an wie das Feuer, sie aber will nur die Flamme, die Glut, die nicht löscht, ist rechtlos im Geben, im Wunsch, in ihren Gefühlen, und es verfliegt diese Gier vorschnell, vergebens.

      Kennengelernt hat Sarodnick sie über Peter – ein Sohn der DDR-Nomenklatura – welcher Russisch beherrscht wie sein Vater das Amt, das seinen Sohn rettet vor Rettung, die freilich unsinnig ist. Denn Peter ist hier nicht am Platze, ist fehltrittig, hingeschoben nur von dem Vater. Es juckt wie auf Zwecken in ihm. Er ist ohne Ruder und Willen: Zehn Jahre Moskau haben in ihm ein Leck eingefressen. Nach jeder durchgefallenen Prüfung kommt eine Mitarbeiterin seines Vaters aus der Botschaft zur Schule und spricht – vier Augen – hinter Türen zur Traute. Man traut ihm über den Weg über den gestandenen Vater, der eine Seele von Mensch und unmenschlich, wie es das Regime so verlangt. Peters Freundin wohnt mit Maja zusammen, und Sarodnick verliebte sich allda, wie Blitze es tun: unangemeldet und heftig. Gemüter reißen Spalten auf in Lawinen, und man heilt, was gut ist, was jedermanns Sache, gut für tausend Jahre und mehr. Maja zerrt sich von der Innenwelt ab, die aus den Fugen geraten – Sippe, Eigentum, Patriarchat. Sie zerbricht an diesem danach, dem Epilog in dem Märchen, trägt sich selbst fort zu den Kindern, zu den Buchstaben und geschriebenen Bildern. Sie wird zum Leser gedruckt, schmilzt zu einfachen Zeilen und schweigt. Manchmal noch blättert sie von der Literaturgeschichte ins Leben zurück, aber ihre Siegel sind bar. Maja vergisst. Sie kann sich nicht mehr erinnern. Das Gestern ist vormals und weit und gelb wie abgestandene Molke. Ihre eigene Sprache hat sie lange verlernt, spricht Russisch, gibt sich europäisch, will frei sein, und kann es bloß nicht. Der Sprung geht in Jahre, und die sind zu viel.

      Ausgelassen feiert sie sich, liebt die Abende mit der Musik, die Dämmerung, den Wein und die Tänze, sie liebt neue Gesichter, neue Gedanken, neue Kulturen. Dahinter aber birgt sich die Furcht vor Bewährung und Bleiben. – So ein neues Gesicht ist allenfalls Sarodnick auch –, sitzt ihr in den Augen und traut sich nicht, nicht seinen Augen. Fesseln möchte er sie, zielen, seine Spielregeln geltend machen für sie. – Maja kocht Reis, Hammel mit vielen Gewürzen. Die Becher klingen mit Wein zu der Musik, und man richtet sich ein in dem Zimmer mit den drei Betten. Martin tastet sich vor, befühlt Taten, sucht Gedanken zu setzen, ungesagt bislang in der Sprache. Doch die Ideen versumpfen, verwischen, wirren und treffen sie nicht. Wer kennt schon seine aufgezählten Namen, die Sprüche, die geklopften Zitate? „Novalis schrieb Lasker-Schüler und Conrad Ferdinand