Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


Скачать книгу

sich später und fragt: „Kennst du diesen Jungen?“

      „Ja.“

      „Studiert er bei uns?“

      „Natürlich.“

      „Gut. Ihren Namen?“

      „Aber …! Martin Sarodnick.“

      „Fakultät?“

      „Regie.“

      „Hier! Ihren Passierschein.“ – Sarodnick nimmt den Zettel und gibt ihn dem Pförtner. Der überprüft und trägt ihn wieder zum Glashaus.

      „Alles in Ordnung.“ – Sarodnick steht vor der Barriere.

      An der Garderobe grüßt er fünfmal fünf Frauen: „Was stricken Sie heut?“

      „Wie geht’s in Berlin?“ –

      „War das eine Freundin von dir gestern im GUM?“

      „Nur so.“

      „Na!“

      „Meine Jacke.“

      „Ist die von euch?“

      „Ja, – meine Jacke!“

      „Swetlana ist dran.“

      „Nein“‚ streitet Swetlana, „ich habe doch den vorvorletzten Mantel gehängt.“

      „Unmöglich!“

      „Meine Jacke.“

      „Nina, du!

      „Wieso?“ –

      „Und Ludmila, die schläft.“ – Sarodnick ist es egal, er legt die Jacke über den Tisch:

      „Die Marke hole ich mir später.“

      Altvertraut-heimisch präsentiert sich das Institut, bringt die Schulzeit ins Gedächtnis zurück und beschützt seine Kinder wie eine langgestrichelte Pute. Jeder einzelne Wurf rückt eng miteinander zusammen, kennt aus- und inwendig sich, arbeitet und verbringt auch die Freizeit gemeinsam. Die Vorlesungen bezeichnen sich so nur, sind in Wirklichkeit Seminare, Unterrichtsstunden mit Partnern, und das Lesen ist Unterhalten, Schöpfen im Spaß. Eine Linie folgt sich befreit, angerissen gekappt, und die Fragen gehen dazwischen, lenken ins Wasser, ins Lose: „Wo waren wir eigentlich stehengeblieben?“ – aber der Unterricht ist schon vorbei. „Lesen Sie selbst nach!“ – Die Stunde ging ein. „Geklärt.“ –

      Der Stoff füllt sich – nicht trockenvöllig zur Rampe –, die Zeit wird gesäumt und gedacht.

      Sarodnick schaut auf den Mund, schreibt jede Bewegung der Lippen und versteht jede dritte davon. Erstrangig sitzt er, die Sicht nach hinten verlegt zu den anderen Mitkommilitonen, die nie vollzählig, besonders am Morgen, die Distanz halten auf Dauer und dort mehr sehen als er. Vorbild und bildend lauscht er auf seiner Bank, bildet sich ein alles zu hören und hört seine Nachbarn sich streiten. „Pst!“ – ganz hinten träumen Schauspielstudentinnen. Sarodnick lässt sich alles vorlesen, notiert, lernt russisch einschreiben, den Kopf russisch verschmelzen, und er schmilzt mählich ins Land. Manche Studenten sind freigestellt von den Unterrichtsstunden, sie haben schon früher Fächer abgeschlossen und Zweige und haben Diplome im Lohn. Andere wieder kommen frisch von der Schule und backen noch dran. Das Land schüttet mit Formen, die ausgliedernd sind. Man studiert, lernt, wenn es beliebt, und was angetan ist. Jeder beschließt seine zehn Klassen und öffnet sich damit einheitlich gleich – gleich bis zum gleichen Gericht.

      Eifrig aber eilt Sarodnick alle Vorlesungen ab. Ihm gefällt das Verschieden im Interpretieren, die Würze in Lücken, der Klang, das asymmetrisch Verdrehte. –

      „Die Geschichte unserer Partei …“, Grigorenko atmet eine längere Pause, „ist uns nicht Rednerpult nur.“ – „Die Revolution handelt verschwiegen“, schreibt Sarodnick auf, und er macht ein Sternchen ins Heft: „Wurde da Stalin zitiert?“ Unvorsichtig und wiederholt wird in den alten Schriften gekramt, kleinlaut, verständlich.

      „Die Zeit überlebt.“ – Grigorenko legt die wenigen Haare nach hinten. „Ich will Namen nicht nennen.“ – Das Halleluja des Gewissens beginnt. „Sie ist immer einen Abschnitt voraus, eine Walze, die überfährt, über und über – manchmal gar auch den Fahrer.“ Er lächelt verschmitzt. „Frieden bedeutet Umwege gehen – wie der Sieg und die Chance. Die Revolution rettet sich selbst. – Wir können nicht vor Gewehren nur stehen, wir vertuen im Kleinen. Natürlich gab es Rapallo, gab es leise Beziehungen zum Westen, lebten Versprechen. Wir aber mussten uns mausern, häuten. Ein Maul wollte zu fressen, und das Land lag im Brach, der Lehrling stand ohne Meister, das Geld machte sich rar. Bei uns blieb der Letzte zurück. Der Bruder schlug den Bruder und wurde aus dem Paradiese gejagt.“ – Der Professor hält fest und rückt einen Schritt vor, mehr gedämpft: „Man konnte nicht ewig auf Mitziehen warten, auf Nachkünfte, auf neugeborene Erben.

      Trotzki musste sterben, wenn man weiterleben hier wollte. Auch schiefe Bahnen sind gerade, und es musste laufen, koste es, was es solle, sei es selbst im Zurückpfeifen, im Zurückschießen der ewig Morgigen, die den Zeitgeist verspielten, die den Karren umstießen und einen neuen haben wollten anstelle. Sicher: Nicht in Gute und Schlechte sondert die Welt, nicht Pfähle werden gepflockt an den Gittern. Erde funktioniert nur als Ganzes, und das Glück als Flucht bricht sich das Genick. Indes, wird nicht der gute Wille aufgesogen von dem Unwill der erschreckt Stehengebliebenen in den ach so klügeren Staaten des Westens?“

      Sarodnick zählt die Zeilen, nummeriert das Blatt und findet schwer den geeigneten Platz, ist sich nicht sicher, ob er begriff oder ob er daneben nur hört, und die Logik Grigorenkos bloß mit der seinen vertauscht. Er legt die Feder zur Bank, versucht, sich zu konzentrieren, zu ermessen, was der Professor – kaltmienig fast, ohne die Wimpern – zum Fenster ausspricht. Jedoch irgendetwas hemmt ihn da bei, als traut er sich nicht, als fehlte der Mut.

      „Ergo erschoss sich Majakowski, um die Front zu verkürzen, den Ausgleich wider den Kleinhandel, die Kleinlichkeit, den Kleinmut in die Waage zu werfen; ergo schmiss Lunatscharski den Hut, damit die Bildung gedeihe auf Teufel komm raus; ergo blühte der Realismus von Gorki, dem LEF und dem Proletkult zum Trotz. – Wir brauchen die Erde, und wenn es nur für die Brotsamen wäre. Wir müssen suchen, sammeln, zählen wie einst im Mai – was ist da schon ein Oktober? Reden sollen andere, die langen Worte mit dem kurzen Sinn sind zu Ende. Es normt sich derzeit, plant im Namen des Bestehenden, des Bestehens gegen die Welt und mit ihr. Wir wollen so werden wie sie, ja, ein wenig noch besser.“ – Der Professor sieht auf. „Gut, diese Freiheit! Die sitzt in den Köpfen wie Spuk. Wie aber hätte man wirtschaften sollen ohne die Wirtschaft? Diese vielsagende Freiheit ist nichts, die nur erhebt, die nicht einmal weiß, was sie wert ist, nicht wiegt.“ – Draußen klingelt es. Grigorenko dreht sich halb zu der Tür: „Ich hasse Leute, die den Ausgang der Geschichte nicht kennen.“ – Und der Lektor geht rasch raus ohne Gruß.

      Sarodnick malt ein Dreieck aufs Blatt. Wie unklar ist doch alles für ihn, wie flau. Mit wem sollte er reden darüber? Die Zunge hat er noch nicht, die Winke, die Gänge. Und so schreibt er Briefe nach Hause, erklärt sich Petra, verklärt in den Seiten an sie. Ein Heimweh fordert ihn ab, eine Unruhe, eine Einsamkeit zehrt. Im Internat stößt er auf volle Räume, findet Briefe von Petra zu spät, findet Monika, die ihn drängt, die für ihn konzipiert, projektiert und hilft, wo es nicht hilft. Und er findet in seiner Stube ein kaltes Bett und ein sauberes Laken darauf. Sarodnick stolziert in das Tun, tut, als wäre er beschäftigt, macht die Zeit rar und rarer, hastet vom Institut zum Internat. Ein Hörgang ist es für ihn, ein Gang in das Nutzen, und lästig wird es ihm bei, zu Lasten geht es, und er besucht nur den Trott, das andere Sich. Die Einzige, die neben ihm wandelt – geduldet – ist Monika noch. Kurzbleibig zwar – der Weg ist lang von der Bahn bis zur letzten –, ist ein welliges Sitzen, ein Blick, eine Frage; dann ist sie wieder vorbei. Martin braucht sie, schöpft wie im Brunnen in ihr, und er wünscht, dass sie ihren Ursprung preisgibt in dieser Sprache, dass sie ihm zuhört, wie er deutsch mit ihr spricht.

      „Dein fehlender Ausdruck ist es, der leidet“, sagt sie ihm, und er gibt ihr bloß Recht:

      „Ein