Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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Wir markieren die Ecken.“

      „Den Schädel rasieren, damit man ihn sieht“‚ grölt Samwel.

      „Hier muss ich stoßen, und du haust mit Vergnügen dazu.“ –

      „Und rein, rein und wieder rein!“ – Sie lachen gemeinsam, und der Armenier freut sich darüber: „Siehst du wohl selber jetzt, als ob man jedes Lachen erklären kann! Man lacht, wie man’s versteht.“

      „Dass man’s versteht.“

      „Darauf wichs ich mir einen! Entweder kommt’s oder kommt’s nicht.“

      „Und wenn’s kommt?“

      „Feix ich.“

      „Warum?“

      „Arsch! Weils eben kommt.“

      „Und warum kommt’s?“

      „Weil ich feix .Ach, geh mir nicht auf die Eier!“ –

      Samwel spielt Matti, Martin den Herrn. Der Herr ist gut, wenn er trinkt, und er ist, wie er ist, wenn er nüchtern geworden, ist, wie er sein muss – ein Herr. Ein Herz hat er nur, wenn er säuft, denn sonst wäre er doch kein Herr. Man kann nicht gut sein, wo die Dinge nicht gut, und sie sind es nun einmal nicht.

      „Es gibt einstige Knechte, die sind nicht mal besoffen human“, konstatiert Martin.

      „Einen Dreck hat es sich heute geändert“, brummt Sjoma, „das heißt: Nur die ehemaligen Wichsköpfe sind besser geworden. Ein Hungerleider ist immer ne Jungfer und fickst du sie, tritt sie dir hinterher in den Sack.“

      Semjon spielt den „Noch bin ich Knecht“ mit Verwarnung, will er doch werden wie Puntila selbst. – So reicht er die Stühle, die Tische, die Schränke zum Berg, bis es ausreicht zum Haufen und man rechtzeitig nüchtern wird drauf. Sarodnick aber wittert die Nase: Er könnte sein „Herr sein“ versaufen. Ausgelassen schreit er ihm seine Gutmütigkeit ins Gesicht:

      „Die Wiese dort ist meine geworden. Der Stall, die Pferde, die Knechte, – der Knecht. Du bist mein!“

      „Ja, mein Herr, trinken Sie weiter.“ – Und dies könnte dem Knecht auch so passen, es wird seine Stunde bald kommen.

      Jede Nacht ist das Klavierzimmer voll. Sarodnick klebt sich den Text in den Schädel und das oft mit Gewalt, fühlt er doch nicht jedes der Worte, schwingt es nicht so wie im Deutschen für ihn. „Auswendiglernen! Nach dem hundertsten Mal sitzt’s – wie der Nagel in den eigenen Knochen“‚ instruiert Sjoma und korrigiert ihn manchmal falsch: Die Betonung liegt auf Armenisch, und das ist Tausende Kilometer daneben. Martin indes spricht mit Brecht, lernt ihn noch einmal, so wie er Tschechow auswendig lernt, und er holt so manchen Satz aus dem Kasten an unrichtiger Stelle. Wie schön sind schöne Worte getan, Brecht mit Tschechow vertauscht, und am Abend in der Kantine mit den Kameraden darüber sich streiten: „Zum Brechen und Tschechen.“ – Aber Sarodnick möchte ja reden. Und klug reden kann er nur durch Imitation. Im eigenen Kopf ist keine Ordnung gemacht – wie sollte er auch sein Chaos denn übersetzen? Also redet er wie gelesen, und die Mädchen sagen: „Faselt der blöd!“, und: „Er ziert sich wie eine Kanne.“ – So gießt er seinen Inhalt nicht aus und ist ein gehaltener Bursche. Womöglich ist er deshalb Brecht auf der Ferse: Er interpretiert die Gefühle. Und lange noch wird er zu Tschechow nicht finden. – Er trainiert im Heim „Puntila und sein Knecht Matti“, und Semjon langt alle Möbel hinauf. Das Internat steht ihm Kopf, die Stühle sind bereits alle auf der Szene gesetzt. Aber man lacht: „Nur etwas lauter noch, Martin!“ – und Sarodnick hält Hitlers Rede zum ersten Mal. Wie eine Ebbe ist sie, wie ein Zögern die Scham, wie ein Knecht ist der Redner, der sich anbiedert und urplötzlich ausbricht dann als Vulkan, die Stühle zerschmetternd im Steigen. Der Schrei, der Herrenschrei drückt die Faust in den Nacken, ist zur Geste offen unter dem Tisch. – „Dieser Herr hat sich niemals besoffen.“

      „Bravo!“, macht Sjoma. „Man könnte sich aufreißen lassen. Ohne Kommas gesprochen, die Zeichen woanders gesetzt, und Millionen Deutsche grölten Sieg Heil! – Ohne Kommas gesprochen?“ – Puntila röhrt nur im Trunk, er hat’s noch nicht nötig, die Umstände sind noch nicht nötig, die Faust sitzt noch unausgesprochen gehorsam. „Die Knechte sind einfach klüger geworden“, weiß Sjoma, „die Knechte spielen Theater.“ –

      Am Vorabend der Premiere vom Stück wälzt Sarodnick das Bett dreimal um sich, liegt quer, diagonal, breit, klein wie die Feder und hart – er hat keine Ruhe im Schlaf: „Wie hat man ‚Puntila‘ schreiben können im Krieg? Was geht mich Puntila an? Nur so einen Mist konnte man wohl in dieser Zeit schmieren. Der Krieg war weit, Finnland war von den ‚Freunden‘ besiegt – aber die ‚Freunde‘ luden Brecht gar nicht erst ein. Er war jetzt keiner von ihnen. Aber er wollte nicht daran glauben, setzte trotzdem auf sie und nahm den Zug nach ‚Leningrad‘. Insider warnten davor:

      ‚Die Köpfe fallen wie Früchte dort bei deinen Genossen‘, seine Kunst wäre reif, viel zu reif, um sie zu kapieren, und Schwieriges wäre suspekt: ‚Wer gegen Deutschland ist, ist eine Deutschstoßlegende.‘ – Wie kann man deutschhassig sein in dem Jahr 1940! ‚Verschwinde nach Deutschland! Verschwinde von uns, und niemand hat etwas bemerkt. Du kannst ansonsten schnell Meyerhold spielen, und der hat sich tragisch verspielt.‘ – Und B. B. versteht, macht kein Theater – die Freunde rieten aus ihren Verstecken heraus: ‚Mach Mücke, es beißt!‘ – Er nahm den Schnellzug – ‚die sterbende Freundin stirbt schon allein im gefährlich gewordenen Moskau‘ – Transit durch Sibirien: Ostexpress nach dem Westen. Zu weit lag die Rettung für ihn: Wilshire-Boulevard. Was ging schon Puntila die Sowjetunion an! Die Knechte waren herrlich geworden, und in Deutschland war Krieg – das Herrenvolk siegte. Kunst war unnütz, missbraucht und gefährlich zu brauchen, ein unnützes Feuer zum Spielen. Manche verbrannten sich dran, sie scheuten das Feuer: ‚Sollte doch alles verbrennen!‘ – Und niemand war unschuldig bei. Theater hatte doch mit Leben gar nichts zu tun, und solche Herren da gab es nur noch in Finnland – nah an der russischen Grenze.“ –

      Im Schlaf greift Sarodnick nach dem Schlaf: „Ich krieg’ kein Auge mehr auf. Morgen ist Prüfung.“ – Er steigt den Hatelmaberg auf, und der hat keine Spitze; er schreit: „Mehr Stühle!“, und Sjoma reicht hoch.

      „Noch mehr! Es hat keine Spitze. Die Tische! Die Bänke! Höher! Los! Sjomotschka, mach fix! Die Leute gaffen schon alle.“ – Ganz oben – Schweiß in den Haaren – krümmt Martin sich: „Die Spitze! Ich sehe noch nichts, bin noch nicht droben, weiter! Beeil dich!“ – Es sind keine Möbel im Raum, und Samwel reißt an den Dielen: „Baue einen Berg! – Ein Brett nach dem anderen! Es reckt sich schon in den Himmel!“ – Und Martin stößt den Kopf gegen die Decke: „Noch höher!“ – Sjoma reicht ihm die Zimmertür hoch. „Aber die Decke! Mein Kopf! – Gib die Wandtäfelung noch! – Oh je, um Gottes willen die Decke!“

      „Hau ein Loch in sie rein! – Keine Spitze! Die Tafeln gib mir! –

      Mit dem Schädel hindurch, kraftvoll! Wir bauen im zweiten Stock weiter. – Lass durch, es tut weh! Gegen die Decke.“ – Der Putz fällt. Ein Rieseln beginnt. „Es schmerzt!“ – Die Ohren glauben, plötzlich zu hören: Neben Sarodnick ist auf einmal ein Stöhnen, ein Stoßen, ein Lallen, ein Kichern und Rollen – er kann seinen Augen nicht glauben. Im Dunkeln sieht er nahebei Figuren: Semjon liegt auf einer Frau, bewegt sich darauf, bewegen sich beide zueinander und auseinander, gleiten in Nacht, so dass sie schmatzt wie ein Tier. Vier Mann schlafen in einem Zimmer – drei Mann schlafen in einem Raum, und einer schläft mit ner Frau. Zwei Mann schlafen in einer Stube, einer schläft mit einer Frau, und einer kann es nicht fassen: „Wie kann man in aller Öffentlichkeit nur …!“ –

      Das Bett singt mit den rostigen Federn im Takt, Füße kratzen am Boden, Beine liegen oben herum.

      „Was für Skandal!“ – Sarodnick möchte die Sachen packen und gehen, beschweren, in die Visage spucken dem „Schwein“: „Wie kann man …!“ Aber der kann. „Es ist der Gipfel! Die Spitze!“ – Doch brav wie die Unschuld liegt Sarodnick aus, die Abscheu erwischt ihn mit Lust: „Ich will es zu Ende erleben.“ —