Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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klatscht in die mageren welken Hände: „Na dann wollen wir mal.“ – Doch die Lust ist weg mit der Zündung. „Wir sind alle nur Assistenten“‚ spricht die Frau traurig gen Tür.

      Alexandra Chochlowa – Schauspielerin, Professorin, Ehefrau. Und manches noch mehr war sie ihrem Leben. Sie sprach niemals darüber, dürfte nicht sprechen, dürfte sich überhaupt an vieles nicht mehr erinnern – wer sie war und nicht war, wie alt sie ist – alterlos und verbraucht. Keiner weiß es, und sie weiß es auch nicht genau, hat es vergessen oder musste vergessen. Hat alles vergessen gemusst. Ihr Onkel war Dr. Botkin gewesen, der Leibarzt von Nikolaus II., der am 17. Juli 1918 gemeinsam mit der gesamten Zarenfamilie in Jekaterinburg umgebracht wurde. So konnte sie natürlich nicht mehr diesen Namen tragen, es käme einem Todesurteil gleich. Sie wurden ihre Memoiren gelöscht, sie viel jünger gemacht und hatte somit ihren Onkel nie gesehen oder gekannt. Nach dem Namen ihrer Mutter wurde sie zu „Tretjakow“ umgewandelt. Doch dann erwies sich ihr Vetter, der große Dramatiker und Futurist, Gründer der Künstlergruppe LEF, Sergei Tretjakow, als Volksfeind und fiel 1937 dem Großen Terror zum Opfer. Da konnte sie auch nicht mehr „Tretjakow“ sein, sondern wurde simpel zu „Chochlowa“ sowjetisch geformt. Sehr einfach, unschuldig, anonym, Proletarierin – nur nicht vom Blut.

      Besorgt und etwas müde nimmt Chochlowa den zurückgelassenen Zettel ihres Mannes zur Hand und liest dessen Willen den Anwesenden vor: „Jeder Student hat eine Etüde zu schreiben, ohne Worte, eine Stummfilmgeschichte, um sie später auf der Bühne zu stellen.“ Eine ungesprochene Sache soll es sein, in der alles gesagt ist im Raum, in der Gestik, im Körper. Kein abgedrehter, ausgeschalteter Ton also müsste es werden, auch kein ‚Er hat die Sprache verloren‘ oder ‚ein Taubstummer‘, sondern das Wort ist überflüssig geworden, nicht am Platze, zu viel – hier ist gerade genug gesprochen, weil niemand mehr etwas sagt. – Die Ehefrau, Schauspielerin, Mitarbeiterin kneift ihre Augen zusammen, holt ihre Brille hervor und liest weiter: „Der Stummfilm ist die schwierigste Sache der Welt, der Höhepunkt in der Geschichte des Films. Das Bild muss die Sprache substituieren, ersetzt sie und totalisiert die Gestaltung, verbildlicht die Realität. Der Regisseur ist ein Dichter, sein Wort ist die Spiegelung auf der Leinwand und der Rhythmus ihre Montage. Der Stumm-Film – nicht der taub-stumme Film! – der Nicht-Sprech-Film, der Sprech-Film ohne den Mund aufzureißen, ist das große Geheimnis. Er ist in Bildern geschrieben, und man liest das Bild als Poem.“ – Aleksandra Chochlowa faltet den Zettel ihres Mannes zusammen und steckt ihn sorgfältig in den Briefkuvert wieder zurück. –

      Hinter einem Tisch zeichnet ein kranker Mann an seinem Leben. Ein Gesicht erscheint im gefrorenen Fenster, weiß, mit einem Auge, das sticht. Es ist der Freund an dem Guckloch, der, mit dem der Kranke weiland auf der Schule malen gelernt hatte. Hastig haspelt der Leidende auf. „Um das Haus gehen, die Tür!“, weist seine Geste dem Freund. Der hebt eine blutige Hand: „Du musst mich verstecken!“, will sie ihm sagen. – „Um das Gebäude und rechts!“ – Auf der Glasscheibe malt der Atem sich ab, und Finger krallen sich draußen ins Holz. – „Einmal herum!“ Der Kranke setzt sich zurück in seinen Stuhl und zeichnet von neuem am Blatt. – An der Tür klopft der Freund, leise, ängstlich, vergeblich – die Tür ist verschlossen und stumm. – In der Stube indessen radiert der Maler am Kopf, es ist eine Arbeit im Stillen. Dann setzt er die Teekanne auf, nimmt zwei Tassen vom Schrank und prüft das Holz in dem Ofen. Er reibt an den Händen, rückt an dem Stuhl und legt die Decke aufs Knie. Da fällt ihm der Freund wieder ein, und er geht über den Flur zu der Tür. Draußen friert der Winter sich aus, und in dem Schnee sind Spuren in dunklen Flecken gerahmt. Der Mann schüttelt den Kopf und dreht den Schlüssel wieder im Schloss. Ihn fröstelt, und er legt einige Holzscheite nach, nimmt die eine Tasse vom Tisch und stellt sie in den Schrank auf ihren Platz. Dann schlürft er zum Fenster: Zwei Männer führen durch den Schnee seinen Freund. Der Atem des Mannes erblindet das Glas, und er wischt mit dem Ärmel darüber. Ein Gesicht starrt in das Fenster: der Freund. – Der Mann schließt die Augen, geht zu dem Stuhl und nimmt die Zeitung zur Hand. Draußen ist Winter. In der Scheibe blendet blakig die Sonne den Schmutz. –

      Wladimir lockt Sarodnick ins Zimmer und riegelt hinter sich ab. „Setz dich hier an den Tisch“‚ sagt er erregt. „Ich will dir was zeigen.“ Und leise fügt er hinzu: „Aber niemandem davon ein einziges Wort!“

      „Gut“, nickt Martin gespannt.

      „Nicht ‚gut‘. Schwöre!“

      „Ich verspreche es dir.“

      „Auf die Ikone!“, verlangt Wowa, und er kramt unter dem Bett ein rechteckiges Brettchen vor mit einer hingedunkelten Farbe. „Es ist Johannes der Täufer.“ – Wladimir bekreuzigt sich und küsst das Gesicht des Propheten. „Leg deinen Zeige- und Mittelfinger darauf“‚ fordert er Sarodnick auf. Der tut, wie es ihm geheißen, setzt sich dann aufs Bett wieder zurück und wartet in Schweigen. Wolodja rückt den Tisch an die Seite, stellt die Stühle darauf, so dass sich ein Freiplatz zwischen den eisernen Schlafstätten bietet. Hiernach legt er Zeitungen auf die Bretter des Bodens und breitet eine große Landkarte aus. Liebevoll streicht er darüber: „Eins zu viertausend.“

      „Was ist das?“, fragt ihn der Deutsche.

      „Der Plan der entscheidenden Schlacht, der großartigsten, der Großen Schlacht unseres Krieges.“

      „Stalingrad?“

      „Ach was. Stalingrad war doch nicht das!“, wehrt Wladimir ab, „war die größte Kapitulation vielleicht, war Elend, Kälte und Hunger. Keine Munition, keine Moral und eine Handvoll taktischer Fehler. Stalingrad war kein Kampf, sondern war ein Vernichten, Ausbluten, Tod. Stalingrad war einfach die Hölle.“ – Erregung sprüht in ihm, und er drückt sich dichter an Martin: „Der wahre homerische Schau-Platz ist Prochorowka für mich, ein Borodino des Zweiten Weltkrieges – ein Mann gegen Mann, Held gegen Held, ein Gleiches mit Gleichem.“ – Er zeigt auf die Karte: „Kein Ausweichen, keine Ausreden, kein Ausfall – jeder wollte den Kampf, jeder wollte dasselbe, jeder suchte die Offensive. Ein offener Schlagaustausch war es gewesen mit gleichen, mit ausgewogenen Mitteln: gleiche Waffen, gleiche Truppen, gleicher Plan.“ – Mit einer erhitzten Bewegung öffnet Wowa seinen Koffer, der vollgepackt ist von winzigen Spielzeugen, Figuren, Bleisoldaten, Kanonen. „Ein Panzer von mir steht für hundert“‚ erklärt er und postiert die Fahrzeuge fachgerecht auf die Karte. „Dies hier sind die 500 Panzer und Sturmgeschütze der SS-Panzergrenadierdivision ‚Leibstandarte Adolf Hitler‘, des ‚Totenkopfs‘ und des ‚Reiches‘, da sind die 850 Panzer unserer 5. Gardepanzerarmee.“ – Und im Taumel verteilt er die Miniaturen auf dem Karton: „Auf diesem leicht hügeligen schmalen Geländestreifen von fünf Kilometer Breite zwischen dem Psjol und dem Bahndamm der Strecke Belgorod–Kursk wälzten sich dröhnend und hohe Staubwolken aufwirbelnd die Panzerlawinen aufeinander und gegeneinander“, beginnt Wolodja seinen Bericht und schiebt die kleinen Pappfiguren langsam zur Mitte. „Im Schutze des kleinen Wäldchens dort bewegten sie sich durch die Steppe in Gruppen, und das Geböller der Panzerkanonen flossen zu einem gewaltig anhaltenden Grollen zusammen. Die erste Staffel unserer 5. Gardepanzerarmee drang voller Fahrt in die deutsche Gefechtsordnung ein. Sie hatten enge Berührung, es blieben weder Raum noch Zeit sich vom Gegner zu lösen und die Gefechtsordnung wiederherzustellen. Aus kürzester Entfernung abgefeuerte Granaten durchschlugen die Bugpanzerung der meisten Kampfwagen. Häufig explodierten dabei Munitionen und Treibstofftanks, und die abgeschmetterten Panzertürme wurden Dutzende Meter weitergeschleudert.“ – Wladimir hatte seine Spielsachen auf das Schlachtfeld geschoben und ließ sie abwechselnd von beiden Seiten beschießen, um sie danach mit einem exaltierten Enthusiasmus zu vernichten. Alsdann holt er neues Material aus dem Koffer und ordnet es rasch auf die Ränder der Karte: „Als sich gegen Mittag erwies, dass es nicht möglich war, direkt auf Prochorowka durchzubrechen, entschloss sich das Oberkommando der 4. Panzerarmee, mit der SS-Panzergrenadierdivision ‚Totenkopf‘ und der 11. Panzerdivision über diesen Brückenkopf da im Psjol-Knie linksflankierend in den Rücken der 5. Gardepanzerarmee vorzustoßen. Nach mehreren mit 100 Panzern und Fliegerunterstützung geführten Angriffen erreichte der Vorstoß den Ort Poleschajew am nördlichen Ufer des Psjol, wo er jedoch zum Stehen gebracht wurde, – während die von Westen auf Prochorowka vorgehenden Verbände des II. SS-Panzerkorps in