Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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glaube ich nicht“‚ zweifelt Wolodja.

      „Oh ja! Ich leg dir die Eichel unter den Hammer. Da findest du garantiert keine mehr, die Jungfer noch wäre.“

      „Ganz so schlimm ist es nicht“, streitet der Bulgare. „Samwel übertreibt wieder wie immer.“

      „Meine Fresse! Übrigens, Fritz, erzähl doch mal! Bei euch gibt es jedes Jahr im Frühjahr ein Fest.“

      „Hm. Und?“

      „Und? – Da werden die kleinen Schnecken geknackt. Alle vierzehnjährigen Mädchen springen über die Klinge. Stimmt doch?“

      Sarodnick wird rot, stottert, lacht hilflos und spürt die Augen auf sich gerichtet: „Na?“, fragen sie, und „Das kann doch nicht sein!?“ – Was soll er ihnen nur antworten? „Es gibt bei uns sicher für die Kinder, die die achte Klasse beenden, eine Feier …“

      „Na bitte!“

      „Nein! Das ist so eine … das ist die Konfirmation.“

      „Was für Zeug?“

      „Oder auch Jugendweihe.“

      „Was hab ich gesagt? Weihe. Sakrale Weihe, wie zu vorchristlichen Zeiten: Das Mädchen wird dem Schwanze geweiht.“ – Und Sarodnicks abwehrende Worte verschlucken sich unhörbar im lauten Gelächter.

      Beides hatte Martin damals gewollt, wünschen müssen unter Nachhilfe und Druck: Konfirmation für die Eltern und für das Dorf, die Jugendweihe jedoch für die Schule, für seinen Lehrer, der geradeheraus ihm erklärte: „Ohne Weihe – keine Oberschule, und ohne Oberschule – kein Studium.“ – Damit hatte man ihm freilich die Unschuld genommen, die Unschuld der freien Entscheidung, das, was vor der Vergewaltigung steht.

      Die Bibel und „Weltall, Erde, Mensch“ schenkte man ihm: zwei Bücher – für jede Hand eins, für jeden Glauben einen Titel oder für den Nicht-Glauben eine Erklärung. Als Vorhang oder als Fortsetzung las sich die Heilige Schrift als ein hinter dem Weltall, ein „Was kommt nach dem Buche der Erde und unseres Alls“. – Sie war Strenge für Martin, schwarzer Ornat, war weiße Gesichter und auswendig gelernte Gesänge. Die Konfirmation indes war das Dorf, die Isolation, war das Ghetto der Religion.

      Manchmal hörte man hinter dem Altarraum Gelächter, das aus den Ruinen kam, welche die Kirche – die selbst fensterlos, turmlos, mit abgeschlagenem Haupte – umgaben, umtrauten, trauerten, den Krieg beschworen und „Gott bewahre“ noch schrien. Dieses Lachen war ein Schieflachen also, eins aus den Trümmern, in denen die Stadtkinder Tabak verteilten und Seiten aus ihren Heften fetzten, um sich Zigaretten zu drehen. Zu Hause sagten sie „Religionsunterricht!“, hier aber starrten sie in die Asche, die glühte, verschluckten das Husten, und ihre Augen warteten auf das Wunder.

      Zwei Mal in der Woche, zwei Mal Gottesdienst mit ängstigen Fragen, die oben hängenblieben im dritten Gestock, im wurmkränkelnden Gestühl, das knarrte, wenn man dranstieß. Unten freilich saßen bloß die Dorfkinder in der Buße, Kinder mit Eltern, die von früh bis abends auf den Feldern rackerten, die wussten, dass es zu Essen nichts gab, wenn die Ernte verreckte. Wer könnte da schon helfen, wenn nicht der liebe Gott? Wer könnte die Arbeit verfluchen, sonntags und feiertags und abends und nachts? Und wer könnte verzeihen und die Verzweiflung nehmen und geben und nehmen und weinen und wissen, dass jemand einem zuhörte, wenn die Eltern schon nicht, die abgenutzt, Ohren verschlossen, und verschlissen die letzte Kraft gaben für Schläge, um den Ärger irgendwo in die Ecke zu werfen? Die Schuldigen saßen zu weit. – Zwischen diese Kinder, zwischen Dorf und die Stadt, zwischen Arbeit und Tun, zwischen Demut und Trotz hatte sich Martin gesetzt. Er fuhr die fünf Kilometer in die Schule und nur in die Schule, denn für mehr, für Freundschaften, für Spaziergänge war die Stadt für ihn Ende der Welt, „für den Hund“, unrückbar, unreichbar, und selten gewährte man ihm den längeren Atem dorthin. Immer war es nur ein Moment, ein Blitzmoment, ein Sprung, ein „Satz“ und geschafft. – Das Dorf lag näher gewiss, aber für Martin war es noch weiter, um in sein Leben zu greifen: Andere Kinder, andere Fragen, andere Welten wuchsen da drin. Er wohnte dazwischen, war Zwischenkind – mitten hinter dem Walde, mitten hinten und vorn. Sein Vater war Lohnarbeiter, seine Mutter und Großmutter waren Bauern, das machte zusammen einen schönen Arbeiter- und Bauernsohn wohl. Wäre es bloß so einfach dieses Gemisch aus Eigentum und geeignet fürs Schuften! Der Bauer gab dem Arbeiter Fressen, und am Sonntag gingen beide zur Kirche. Ein Rucksackarbeiter war der Vater, und auf dem Rücken hatte er immer etwas in stiller Reserve – kein Arbeiter also, kein echter, keiner nach Marx, denn er ging freiwillig in die Fabrik. Aber auch kein richtiger Bauer, denn zwei Kühe machten die Sahne nicht fett. Dafür waren die Brotstullen dicker, und der Sohn lief zum Religionsunterricht – wie alle im Dorf. In diesem Punkt war Martin also das Dorf, im anderen hingegen standen die Jugendweihe und die Arbeiterluft. Martin schnüffelte an beiden: Fuhr zur Schule in die Stadt und war nachmittags auf dem Feld, ging in die Kirche und ebenso zur neuen Aufklärungszunft.

      „Weltall, Erde, Mensch.“ Da gab es Filme und Exkursionen, und da besuchte man das Hygienemuseum mit mahnenden Worten: „Wer onaniert, dem steigt es zu Kopfe! Oder: Wer onaniert, dem bläst es den Geist aus, und er wird demzufolge ein Blöder. – Finger davon!“, sagte der Leiter, „das könnte ins Auge gehen und tiefer.“ – Und die Kinder schauten sich in die Augen und suchten darin zu begreifen, wer unter ihnen ein Blödian wär’.

      Im Frühjahr reisten die Kinder nach Weimar zu Goethe und Schiller, während Nietzsche stillschweigend im Grabe verblieb, grabstill, ohne ein Wort, denn bestimmt hat so einer auch nicht gelebt, hat vielmehr den Geist sich überschnappen lassen von der Un-Onanie, vom Gar-nicht-geliebt oder doch von Onanie auch: Sich ruiniert in dem Kopf von der Sich-Liebe, vom „Immer nur begatten das Ich“. – Darüber aber sprachen sie nicht, diese Kinder, die sich aufklären ließen von deutscher Klassik und vor Goethes Ei im Gartenhaus staunten. Von Weimar chauffierten sie zu Fichte und ins Weltplanetarium nach Jena. Das war eine Kugel in Weiß, oder eine Halbkugel besser, ein zerschnittener Globus, in dem die Bänke drum herum ellipsenförmig aufgestellt waren. Die Kinder starrten auf die Decke, warteten auf die Erscheinung, dass die Tünche zerfließt und der Globus zerplatzt. Ziemlich dicht saßen sie, waren erregt, und auch Angst spielte dazu, als das Licht schnell verlosch und lange nur Dunkelheit herrschte. Eine Hand fasste plötzlich Martins, ein Mädchen drückte sich enger an ihn, suchte die Augen und suchte den Mund. Die Sterne kreisten um ihn, und die Schatten zogen über Gesichter, die hinauffuhren in Monde, in Milchstraßen – ins All. Martin hatte die Lippen des Mädchens, hatte seine Zähne im Mund, sah die Sterne in seinen Haaren, auf seiner Brust, und er tastete in die Sonnen, berührte die Wangen, spielte zu den Himmelskörpern hinauf. Aufgerührt spürte er den Kosmos in sich, griff in das All, das mählich sich drehte, und die Lichtpunkte flohen und flossen ins Ich. „Nicht gehen!“, flüsterte sie, „ich halte sie fest.“ – Und Martin nahm die Sterne, saugte das Licht zwischen das Dunkel und atmete es gierig in sich. Schmerzhaft erschrocken rauschte es hin. Ihre Hände glitten herab, er küsste ihre Brüste im Wall, und seine Finger fanden die Bahnen in Gräben. Das Blut rann auf der Lippe, die Hände klammerten, öffneten die Gestirne und ließen die Freude, steigen ins All, in die Unendlichkeit, in den Fluss, in den Sprung, in das Nichts. –

      Das Kreisen wurde ein Karussell, die Lichtfetzen jagten die Bahnen, und zwei Sterne stürzten in eins. Das Mädchen schütterte, taumelte, das Beben lief wie eine Schlange zu ihm, kehrte im Kreise, zog über die Erdwelle hin. Fasern spannten in Lust, und die Hände glitten am Ende ins Zittern, ins Herz mit dem Schlage aus Glut. Er ergoss in die Wonne, lief über die Arme, mischte sich mit den Sternen – wurde zum Milchstraßenfluss. – Hernach erloschen sie alle, das Kreisen beschloss, der Globus wurde zur Decke, und die Decke zum Kalk. Man rieb sich die Augen, die Lampen schmerzten darin, man suchte zu kennen und verzagte vor Mut. Sie war Ricarda, mit Lippen, die rot-schwollen waren. „Martin“, sprang es von ihnen, „ich fühl dich im Fuß.“ – „Du hast Sternschnuppen im Kleid“‚ sagte er und war für lange entsprungen. –

      Später traf er sie wieder – am ersten September, am Tag, als für ihn eine neue Schule begann: Ober-Schule, ein Gymnasium für heute, eine Schule für