Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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versteckt in den Jahren der „Der Großen Zeit“, der wechselnden Ämter, des „Heute-was-und-morgen-Nichts“. Sein Vater war schließlich ein angesehener Maler, „offiziell“, war angesehen, genehmigt, gelobt von der Hohen Stelle im Staat, und daher wohlgesehen von allen, ein liebend gesehener Gast: „Mit dem kann man sich sehen lassen! Der malt nur die festgesessenen Köpfe, solche die nicht wackeln, die keine Miene verraten, die man sich unbedenklich in sein Arbeitszimmer aufhängt.“ – „Der kennt sogar ‚Den‘ persönlich!“, flüsterte man. – „Der ist höher als der!“ – „Das ist eine ‚Persona mit Grata‘!“ – „Wer den kennt, wird nicht mehr verkannt, und dies hieße, sein Süppchen im Sicheren kochen!“

      Mit Jakob und dessen Vater hatte Lew Kuleschow häufig an einer Tafel gegessen, aus einem Topfe gegessen, hatte ihm seine Sorgen verborgen und ihm einige Male im Vertrauen gesagt, dass die zwanziger Jahre für ihn endgültig vorüber, über, über Bord wären. Von dem Maler hernach erfuhren die Leute, die mehr waren als Leute, was für ein fortschrittlicher und parteilinienfrommer Mensch Kuleschow geworden ist, dass er keine Projekte mehr hat und nie und nimmermehr davon träume, einen Film fürs Kino zu machen. Sein Freund gab ihm da von hinten und vorne vollkommen recht. Und Recht gab ihm Lew wieder dankend zurück, als der sich von der Ehefrau trennte und sich den gemeinsamen Sohn aneignete wie die öffentliche Meinung Gewalt. Die Mutter wurde nicht für „würdig“ erklärt, musste Moskau mit leeren Händen verlassen und wurde später ins Lager geschickt. Den Sohn hatte der Vater, und er ließ ihn nach seinen eigenen Bildern erziehen.

      Als jedoch nachmals eine ganze Epoche ins verwelkende Gras biss und des Malers Gönner ihre Lorbeeren büßten, stürzte der alte Jakob wie eine Laus in eine selbstgezündete Kugel: Er hatte es nicht für möglich gehalten. Wer hätte auch bei ihm noch bestellt? Der Laden war dicht. So aber war er in allen Ehren rechtzeitig verschieden: „Man muss in Würde abtreten mögen!“, bewunderte ihn sein Freund Kuleschow. – Noch kurz bevor Jakobs Vater die Pistole in den staunenden Mund zielte, verfasste er einen Brief an diesen: Er möchte doch um seinen Sohn sehen, kümmern, schützen und fördern. Und der frühe Regisseur schwor es auf dem Staatsbegräbnis des tragischen Mannes. – Die Mutter aber erreichte ihre staatliche Gutmachung erst an ihrer Bahre – Mühlen mahlen nicht wie Maler so schnell.

      Die Großmutter nahm sich des Waisen an mit dem Wink von dem Freunde: „Für immer auch mein.“ – Tretin wuchs dem Alten ans Herz – hatte er doch seines – und mit ihm seinen Sohn – im Kriege verloren. Er „bemutterte“ ihn, ließ ihn rufen, prüfte die Arbeiten in der Schule und übergab ihn überdies den alten Erziehern, den alten Lehrern, den alten Genossen: Blieben diese doch ihrem glücklicherweise nicht vorzeitig „entlarvten“ Meister treu bis ans Grab und auch darüber hinaus.

      Tretin fiel dadurch die Freude in seinen zu kleinen Schoß: Er bekam bessere Noten, bessere Kleidung, bessere Nahrung – er war ein Kind mit „vorbildlichem“ Vergangenheitsgrad. – „An Vaters-Statt“ nahm Kuleschow ihn ins Filminstitut, anstatt und an Statt – staatlicher Aussteuer-Statt. Und Tretin hielt die Klinke von Lews Wohnung in seiner eigenen Tasche. Das wissen alle im Institut, das nutzen viele, das nützt einigen auch: „Jakob, nimmst du mich zum Professor nach Hause mit?“ – „Was hat der Professor gesagt?“ Tretin lässt es sich auskosten im Munde. Jedoch Martin schmeckt das nicht sehr: „Was geht mich deren Vergangenheit an!“ –

      „Was meint die Gruppe dazu?“, fragt Kuleschow. Und der Kurs ist gegruppt und gespalten: „Von wo weht der Wind eigentlich?“ – „Ist es nicht gut Kirschen essen dabei?“ – „Ist es rot?“ – „Eine Ampel?“ – Samwel steht auf:

      „Ich bin zehn Jahre in der Partei und fresse mit Sarodnick an einem Tisch. ‚Antisowjetisch‘ – ist doch eine Fatz. Martin ist, wie er ist, und wie die meisten von uns. Der hat es im Kasten, sabbelt, wie er einfach so denkt und ist Kumpel und Kimme. Ich bin sein Freund und lege meine Hand ins Feuer für ihn. ‚Antisowjetisch!‘ – dass ich nicht lache. Tretin soll seine Worte vorsichtig wählen! Ich warne dich Zapp!“, wendet er sich an den Verräter. „Das Kollektiv bist nicht du, das Kollektiv bin ich und die anderen.“ – Tretin ist in seinen Holzsitz geklappt.

      „Das, was Samwel sagte, kann ich nur noch bestätigen“, nickt Ljuba, die Lehrerin Ljuba, deren Mann und ihr Kind in Woronesch blieben und mit Ungeduld duldend warten auf sie. Ljuba, die jeden Morgen leise klopft an die Tür, auf die Bettkante zu Wowa sich setzt und ihm zart unter der Decke auf und ab streicht: „Wowotschka, du musst jetzt aufstehen, mein Kater.“ – Diese Ljuba knüpft eine neue Schleife in ihre Bluse, und ohne aufzusehen, sagt sie: „Das ist die Wahrheit!“ – André der Gruppenälteste, dreht sich zwei Meter in die Luft und saugt diplomatisch daran:

      „Herr Professor, ich glaube, das ist alles ein großes Missverständnis. Jakob hat, seiner Jahre wegen, einfach nicht den Hintergrund, den eigentlichen Sinn in den Späßen, in den ironischen Äußerungen Martins begriffen.“

      „Damit wäre die Sache abgeschlossen“, wischt der Professor die Unannehmlichkeit von dem Katheder, und mit einem Blick zu Tretin fügt er hinzu: „Mit Jakob red’ ich später noch selbst.“ –

      „Die hätten dir ganz schön die Eier gebraten!“, meint Sjoma am Abend zu Martin. „Und das mit der Tschechoslowakei – behalte es lieber für dich“‚ ergänzt Wladimir. „Prag liegt zu weit weg, um es von hier richtig sehen zu können.“

      „Mein Vater hat persönlich Dubček gekannt“, sagt plötzlich Wasili und drückt sich seine Locken zurecht.

      „Dein Vater ist in der Partei?“, fragt Sarodnick neugierig den Bulgaren. „Sein Vater ist die Partei“‚ antwortet Sjoma. „Er hat im Politbüro sein Büro.“

      „Sie haben auf der gleichen Schulbank gesessen“, erklärt Wasili‚ „auf der Parteihochschule in Moskau.“

      „Die gleiche russische Küche und auf die gleiche russische Bank – für ihre Dienste den Lohn“‚ lacht Sjoma.

      „Aber sie haben daraus nicht die gleichen Lehren gezogen“‚ ergänzt Wladimir schlau. „Die eine war kurz, die andere tief.“

      „Alle zehn Jahre rückt er weiter nach oben“, glossiert der Armenier die Karriere von Wassilis Vater. „In dreimal zehn Jahren hat er nur noch unter sich einen winzigen Rest von den auserwählten Gesalbten: dreimal gewünscht, dreimal darfst du raten, dreimal geht es in die Hosen. Es hängt an der einmaligen Höhe, und die hängt bis sie fällt – die hängt, bis sie henkt. Sein Vater hofft auf das Letzte. Er will in den Himmel.“

      „In dreimal zehn Jahren ist sein Vater dort, wo sein Banknachbar stand“, unterbricht ihn Wolodja.

      „Vielleicht. Aber die Überlebenden leben heute sehr lange“, widerspricht ihm der andere.

      „Zu Hause bei uns klebt ein Foto im Schrank“, erzählt Wasili weiter, „die ehemalige Klasse des Vaters von Moskau: In der vordersten Reihe, Seite an Seite, sitzen mein Vater und Dubček.“

      „Es war nicht die richtige Seite gewesen“‚ weiß Samuel jetzt.

      „In Moskau waren sie das allererste Mal zusammen, und auch das letzte Mal war es in Moskau gewesen. Das war Jahre danach.“

      „Vor dem letzten Tag Dubčeks“, ironisiert der Armenier.

      „Sie saßen da noch vor kurzem in Moskau hart auf der Bank, alle gemeinsam, die Genossen. Mein Vater sagte zu ihm: ‚Wir sind doch Freunde gewesen!‘ – Dubček sah sich um und fing an zu … weinen. Von den Bänken tröstete man ihn. ‚Wir sind das letzte Mal Freunde gewesen!‘“.

      „Danach hat er ihn nie wieder gesehen.“

      „Siehst du, Fritz, so schnell kann das gehen! Einmal probiert und dann in die Sterne gerotzt. Und du willst im Institut Vorträge halten! So etwas ist für die Fotz. Nimm dir ein Mädchen und schlaf mal darüber!“

      „Ein Mädchen? Als wäre das hier bloß so einfach.“

      „Du Klöppel bist natürlich verwöhnt. Bei euch lassen ja auch die Kinder schon an die Möse.“

      „Na,