Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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jenen und bei den anderen auch. Die machten nach, meinten, eine neue Kunst ist am Werke, und meinten nicht schlecht. Jene warteten ab und warteten da nicht umsonst. Ihre Zeit sollte noch kommen.“ –

      „Noch aber galt die Einstellung, der Buchstabe als Klippe und Klare, galt das Symbol“, lässt André sich nicht stören. „Lissitzky malte die Lenin-Tribüne, Eisenstein malte den ‚Streik‘ und die fallenden Kanonen, die Treppe, den Schrei seiner Mutter, Majakowski brüllte: ‚Alles ist gut‘, und Malewitsch formte sein Schwarzes Quadrat. Alles war flächig geworden wie Mägen, zum Greifen wie das Ziel vor den Augen, und das Leben war das Plakat, zum Ankleben, zum Wechseln: ‚Was Neues muss ran!‘. Immer was Neues, und das Alte kam auf den Müll, wurde nicht wieder gespielt, war im nächsten Jahr schon vergessen. ‚Schaffe, baue, laufe, höre!‘“ –

      „Und schon saßen Leute auf ihren Ärschen und wollten nicht mehr vom Stuhle herab: Heute sitze ich, morgen sitze ich, übermorgen … – Was heißt ‚flache Wampe‘, was heißt ‚der Schlag der Pumpe gemäß‘? Die Revolution war erfolgreich beendet. Da zog man zwar noch nach links, nach rechts, in die Mitte – Proletkult, ACHRR, VAPP, Pereval, Litfront, Serapionsbrüder und Schwestern mit hochgeschürzten Neorealisten und Imaginisten. Kuleschow würgte, wälzte die Reste, die Trümmer zusammen. K-Effekt, das ist: Rote Front im Lande der Bolschewiki – Schnitt: bis auf die Knochen – Schnitt: bis in das Kahle – Schnitt: bis in die Sonne.“ Sjoma schnappt verzweifelt nach Luft.

      „Kuleschow zeichnete die Bedeutung ins Bild und das Bild bewegte in Angst, war immer Bewegung, war ein Licht, war der biologische Teil“, erwidert André ganz leise.

      „Und dann hing man diese Ideen an ihren biologischen Eiern auf“, macht der Armenier sich lustig, „man bremste den Regisseur Kuleschow aus und schob ihn ins Amt, zu einem Professor ab. – Leeres Stroh war’s, nicht das, was man denkt, sondern man hatte die Lehre gezogen, sonst nichts. Majakowski hatte den Löffel schon abgegeben. Kuleschow dagegen versuchte noch den Großen Tröster zu spielen – er tröstete sich selbst: ‚Gott sei Dank hat es mich nicht erwischt!‘ Man war zufrieden damit. Von ‚Effekten‘ quatschte nun keiner mehr, es stank nach gefesselter Kulturpolitik, und man hielt mitten im Akt das Herz stille.“

      „Spannung wollte er nichtsdestotrotz zeugen“, wehrt der Leningrader sich leise, „Energie und Furore. Er wollte den Amerikanern eins auswischen: ‚Wir können es besser.‘“ –

      „Jedoch wünschte man keine westliche Kunst, sondern wünschte nur sie selber zu gaffen“, spielt Sjoma auf die geschlossenen Vorführungen der Parteibonzen an. „Ich! Ich allein, bin allein. Licht aus! Ruhe! Bitte nicht stören! – Im Kreml flimmerten diese verbotenen Filme. ‚Bei uns aber keine und niemand!‘ – Und der Mann im Kreml – ganz alleine im Staat – sagte dann nachdenklich rauchend: ‚Diese dürre hässlich Rote – wie heißt sie doch gleich? Chochlowa? Richtig, die Frau von dem da … – Sie wissen schon – Kuleschow, dass ich diesen stinkigen Stockfisch nicht mehr hier auf der Leinwand erblicke!‘ – Die Hässlichen hatten verspielt. Die Schönheit triumphierte – Russland war schön. Eisensteins Bäuerin in der Generallinie war das aus der Mode gekommene Alte. ‚Solche brauchen wir nicht! Es ist nicht typisch! Was soll man in Amerika denken!‘ – Greta Garbo, Katherine Hephburn, Julie Harris, Joan Crawford, Rita Hayworth – ‚der rote Fisch!‘. Zu untypisch war das für die hässlichen Jahre. – Die große Angst machte sich breit, das Donnerwetter begann – Gott strafe! Gerechte Strafe muss sein! Generälen fiel das Herz in die Kugel. Hatte Kuleschow nicht den Armeegeneral Tuchatschewski einst in der spitz-endigen Budjonny-Mütze gezeigt? Drehte er nicht ‚Die Pfeife von Stalin‘ – ohne jemals drehen zu können.“

      „Die Idee war sehr gut“, verteidigt André den Professor. „Natürlich. Kuleschow hatte endlich gefressen, und die Pfeife kippte ihm die Asche aufs Haupt: ‚Ich tue dir nichts, wenn du weiter nichts tust.‘ – Der Professor ist ein guter Professor. Eigentlich ist er schon lange gestorben. Ein Museum. Modell.“

      „Er ist die zwanziger Jahre, der Anfang, die Erfindung, die Hoffnung, die Revolution noch im Schwung“, resümiert weise der hochgetriebene Junge vom Norden.

      „Jetzt schwingt er dreißig Jahre seinem Ende entgegen, ist ein Wärter der entwerteten Werte, ein ausgestopfter Weihnachtsmann-Löwe.“

      „Eisenstein, Pudowkin, Wertow, Dowschenko hat er überlebt …“

      „Und ist viel älter als sie. Wer überlebt hat, hat sein Leben vermurkst. Er hätte besser tot sein müssen, um weiterzuleben.“ –

      Schwerkrank sitzt Kuleschow an dem Tisch, hüstelt, quält sich im Husten, am Auswurf. Seine Frau, die Chochlowa, streicht ihm den Rücken, und die Assistenten warten nervös und devot. Der Professor erzählt von damaligen Freunden, von dazumal, von den „Zeiten“: „Schwierig war es – viele Kinder der Bourgeoisie studierten damals noch hier. Einige gingen ins Ausland, die anderen hatte die Tscheka selber geholt …“ – Der Professor ist krank. „Jetzt sind nur noch die braven Bürgersöhne geblieben.“ – Er räuspert sich leise vor Schmerz.

      „Lew Kuleschow schreibt seine Memoiren“, flüstert André.

      „Und er wird sich an die Wahrheit nicht mehr erinnern“, winkt Samwel ab. „Eine Epoche könnte er sein. Er war doch mit allen befreundet. Verschwunden, vergessen im Ruhm, im Schweigen, in Schande. Warum schreibt er nicht, wie es war?“

      Der Husten peinigt den Mann, und er verzerrt sich in Qualen. Ist er zerbrochen wie alle, die weitergemacht? – Die Studenten ehren, verehren ihn, streuen ihm einen Kranz auf das Haupt. Er ist der Letzte der Letzten.

      „Der Letzte ist nicht immer der Beste“, sagt Sjoma sarkastisch. „Er geht über Leichen hinweg oder stellt sich bloß tot. – Ein anerkannter Meister ist er geworden.“

      „Er schreibt seine Erinnerungen auf.“

      „Kranke, mit Löchern.“

      Wenn Lew Kuleschow da ist und schweratmend spricht, gibt es keinen einzigen freien Platz mehr im Saal.

      „Jeden Film müssen Sie sorgfältig antizipieren, vorbereiten, sorgsam mit allen, mit den Schauspielern vor allem. Ich habe als Erster ein detailliertes Drehbuch verlangt. Es war mit den Akteuren bis zum letzten Komma besprochen, erdacht. Und jeder Film wurde danach meist mit den gleichen Leuten gedreht. Den ‚Großen Tröster‘ habe ich zunächst auf der Bühne inszeniert, durchexerziert, habe da schon Kino gemacht ohne Film. Bergmann tut es übrigens auch – dreißig Jahre nach mir … Habt ihr die ‚Mutter‘ gesehen? Pudowkin hat in seinem Film jede Einstellung vorher gezeichnet, jedes Detail war erkennbar, lesbar gemacht und genau definiert. Alles im Film sollte etwas bedeuten, aussagen, verfechten, verteidigen oder anklagen … Es war ein ganzes Jahrhundert darin. Die Montage danach schnitt sich den Sinn und gab die sublime Überhöhung. Das Innere des Menschen wurde durch die Bilder ersetzt, die Psychologie hing an der Schere … Alles entstand im natürlichen Raum. Ich habe Kulissen vermieden, immer nur Natur zusammengesucht – den Fluss, den einsamen Baum, die Wiese, den Schnee auf den Hügeln, von überallher einzelne Stückchen genommen und habe es dann am Tisch zur Einheit montiert … Solch ein Film machte den aristotelischen Regeln den Garaus. Schon Meyerhold hatte ein Bein aus dem Theater gestellt. Modernes Theater kann sich nicht vor dem Vorhang verbeugen. Es wurde demokratisiert, war nicht mehr Salon, sondern das Vorzimmer, die Gesindestube mit dem Hofe dazu. Der Raum erweiterte sich zum Kosmos, das Volk sprengte ihn auf. Dies aber kann in dieser Großartigkeit eigentlich nur der Film realisieren, oder das Theater muss seine heiligen Hallen endlich verlassen … Wir haben zuerst mit den Massen gearbeitet. Später dann kam erst der ‚Streik‘, ‚Potemkin‘, kam Griffith …“ – Kuleschow hüstelt stark, macht eine Geste, bricht ab und blickt sich plötzlich auffahrend um: „Zu viel ist schon gesagt worden, zu weit bin ich gegangen … Alle guten Filme heute schöpfen von dort, entwickeln sich in dieser Tradition weiter … dank unser neuen Gesellschaft … Alles verdanken wir ihr …“

      Jetzt hustet er stärker, die Halsadern schwellen wie Stricke beim Henken, das Gesicht ist bläulich ein Weiß, und die Augäpfel bluten vernehmlich. Seine Frau streicht zärtlich über sein Jackett: „Ist gut!“, und der Professor erhebt