Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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Martin kein einziges Wort, und schweigend geht er zur Prüfung: Puntila marschiert den Hatelmaberg auf, und das Publikum kocht. Er schreit dem Knecht in die Gusche: „Alte Sau! Ich bin wahrscheinlichbesoffen, aber ich bin ich. Nichtsnutz! Unstand! Du Knecht!“ Er wird bissig zu ihm: „Du kannst deine kaukasischen Berge berotzen. Nicht aber mit mir!“ – Er ruft ihm Befehle, rülpst ihm ins Auge: „Du glaubst, ich bin voll? Penne? – Alles ist mein Kapiert? – Das Bett, das Zimmer, die Leute. Ich gieß dir die Milchkannen über den Nischel. Was hast du persönlich da drin? Das ist hier kein Puff! Such dir eine andere Ecke!“ Die Zuschauer bekommen eine Hühnerbrust von dem Schauer und applaudieren begeistert: „Fritz, der Faschist!“ – „1940!“ – „Der Herr hat sich zum Nazi gekrönt.“ – „Warum nicht!“ – „Warum?“ – „Der hat den Matti vom Berge geschrien.“ – „Aber Semjon hat nur den Schlauen markiert. Lass ihn ruhig brüllen, hat er gemeint, ‚der hat wohl nachts schlecht geschlafen. Ich dagegen hab mein Vergnügen gehabt‘.“

      „Ich wird’ es dir zeigen!“, ruft Puntila aus und weist auf das Weibergefängnis. „Du denkst wohl, es wäre ein Schloss?“ – Alle klatschen vor Beifall: „Samwel hat ihm eines gebaut.“ – „Der Fritz macht ‚Heil!‘ von ganz oben, wenn er über die Leute hinzeigt, ‚Heil! Ihr Schweine da unten.‘“ – „Vielleicht ein wenig komisch“, meint jemand, „zu wenig oder zu viel.“ – „Als wäre Brecht komisch! Brecht ist gar nicht wenig.“ – „Puntila ist klein, nur die Mittel sind groß.“

      „Mitsingen! Habt ihr keine Vaterlandsliebe?“, ruft Martin. – Die Leute raffen sich hoch und heben die Hände zum Himmel, zu den beiden, die unter der Decke dichtgedrückt über den Häuptern ausschwingen, und Puntila donnert zu ihnen: „Noch einmal! Da capo! Singt!“ – Und das Publikum singt weise – einer, zwei, alle:

      „Die Wellen, sie küssen milchigen Sand.“

      „Noch einmal! Und einmal!“ Der Saal schrillt. Puntila nimmt Matti in seine Arme.

      „Sie küssen den Sand …“ Alsdann, mit einer harten Bewegung bringt Martin Stille ins Zimmer:

      „Sagt, dass euch das Herz aufgeht, wenn ihr das seht.“ – Und er stößt Sjoma vom Berg, dass der sich kopfüber auf der Erde wiederfindet unter den übergeschlagenen Stühlen: Das Herz geht ihm auf, wenn er Sarodnick-Puntila sieht.

      Der Professor drückt den zweien die Hände: „Ihr habt da ja etwas ganz Schönes aufgebaut! Von unten kann einem dabei schon schwindlig werden.“ – Martin aber schlägt dem Armenier hart auf die Schulter:

      „Was hast du dir nur dabei gedacht heute Nacht und getraut!“ –

      „Hättest ja mir sagen können, dass du nicht schläfst“, meint Samwel und grinst: „Wir hätten sie sonst beide gevögelt.“ –

      Am Abend kutschiert Martin zu Monika mit dem Bus, streichelt die Hand, sitzt dumm herum, langt in die Brust, tanzt nach den schlürfenden Platten und spürt, dass er nichts spürt. Da verlässt er sie wieder. „Bis Sonntag!“, ruft sie ihm nach. „Wir können nach Archangelskoje fahren.“ – Doch Sarodnick ist die Lust nur lustloses Treiben, ein „Gute-Nacht-Kuss“ vielleicht. Eine lange Nacht bringt nichts Gutes, allenfalls gute Träume mit schlechtem Gewissen.

      Im Bus schreibt er einen Brief an Petra, zerreißt ihn, zankt an der Haltestelle wegen der Reihenfolge in der Schlange herum und legt sich angekleidet ins Bett. Ein Tag mit steifen Manschetten verabschiedet sich wieder – ein Tag, ein Monat und drei.

      Stetig und hartnäckig-grausam lernt er die Sprache, die Geschichte ohne Sprache des Grigorenko, die Sprache mit Breschen und Spalten, mit einem einzigen Zwischenraum und vielen Worten dazu.

      „Es gibt Namen, die waren nicht Namen, sie waren versehentlich da, ein Irrtum im siècle, sie waren vor der Zeitrechnung da oder knapp später.“ Grigorenko flüstert, und Sarodnick schaltet ins Aus. „Wer hat die Revolution gemacht?“, überlegt er. „Lenin? Gut. Zuerst aber das Volk.“ – „Es sind Fehler gewesen … Kamenjew, Sinjowew, und es gab noch Trotzkismus“, bestätigt der Professor. „Überall, wo es rauchte. ‚Trotzkismus‘, das hieß Parteiausschluss, weg vom Tisch, unter die Erde, Name gestrichen.“

      „Die Kinderkrankheit des Kommunismus … – Zuweilen möchte man den 20. Parteitag zurücknehmen“‚ macht Grigorenko sich einen Spaß und lächelt verschmitzt. „Jeder Staat schämt sich meist seiner Gründer – sie sind in Grund und Asche verstreut. Freilich, der Unterlegene – sollte er überleben! – hat es dann leicht zu erklären: Er hätte und wäre der Beste. Im Ausland schreiben sich Bücher ganz gut, und man wäscht sich die Hände im Blut, das man vormals selber vergoss. Bronstein, der ‚Linkeste links‘, ein ‚linker‘ Genosse, der am weitesten ging – über Leichen. Er hätte bestimmt nicht die Bauern mit so viel Halbherzigkeit abgetan, ihnen mit der Sense schon früher von links unlinkisch den Hals abgesägt. Der Weltwille wäre wie B-stein geworden.“ – Grigorenko streicht die Haare scheitelgerecht: „Natürlich hat man nach dem Leben getrachtet – nach der Revolution wird immer geschossen!

      Der Georgier hat sich indes gut in der Mitte versteckt.

      Schlimm genug – es hätte noch schlimmer sein können! Wer ist denn von den 1789er am Leben geblieben? Eine späte Figur: Bonaparte, der mit dem winzigen tiefsitzenden Glied …“ Der Professor räuspert: „Revolution war mit der Wahl der Volkskommissare zu Ende.“ – Sarodnick schlägt zehn leere Seiten im Heft.

      „Beginnen wir also mit dem Londoner Parteitag. Menschewiki und …“ — Es klingelt.

      So lernt der Deutsche am schnellsten die Sprache: Das Wesentlichste wird nicht gesagt, und das ist immer am schwersten. Er sitzt vorne mit in, mit denen, die in jeder Pause den Lehrer bedrängen, die geordnet, ordentlich ihre Hand heben: „Herr Professor, ich hab eine Frage …“ – „Ich wollte gern wissen …“, „Ich habe gelesen …“ –

      „Sie haben ganz Recht.“ – Wie eifrig sie sind.

      „Gibt es Gesetzmäßigkeiten im Volk?“

      „Jedes Volk ist verschieden.“

      „Und die Weltrevolution?“

      „Darüber sprechen wir später.“

      „Herr Lehrer, schönen Dank.“ – In der vordersten Reihe, in Reih und Glied. Sjoma lacht sich darüber halbtot:

      „Wie ein Idiot! Jedes Wort bläst du wie eine Nutte ohne zu kauen. Jede Minute hast du im Arsch, und du verdämelst wie blöd! Koks lieber mal einen Tag aus und denke an nichts weiter.“

      „Ich mach’s doch wie die anderen auch.“

      „Die anderen?“, lacht Samwel. „Willst du wie die anderen sein? Es ist ein madiger Apfel, und du wirfst den ersten Stein ins rosige Beet.“ – Doch Sarodnick schläft nicht aus, geht nicht in die Stadt, fährt nicht nach Archangelskoje mit Monika, hört das Kichern der Mädchen nicht hinter dem Rücken. „Die lachen mich aus.“ – Er hat Heimweh bekommen.

      „Ich möchte zu Petra.“ – Und er schreibt: „Liebe … ruf bitte an! Sage, meine Mutter ist krank, und ich soll nach Haus sofort kommen.“ – Petra telefoniert, und im Institut ist man hörig:

      „Du musst fahren!“ – Der Deutsche sträubt sich:

      „Es geht nicht.“

      „Alles geht! Für ein paar Tage.“ – Sarodnick lacht sich ins Herz.

      „Das halt ich nicht aus dort in Moskau“, hält er Petra im Arm.

      „Ohne dich ist bloß Sehnsucht, ich hab ja nur dich, es gibt nichts, ich kann nicht – mit niemandem hab ich geschlafen.“ – Er legt sich auf sie, sieht den Bauch Monikas an, schaut in die Augen von Maja, hört das Röhren Samwels im Bett und lässt sich in Petra. Der Bauch und die Augen. Lautlos gleiten Leiber zusammen. Anständig geht es zu, und anständig bekommen beide genug – nicht über die Ohren, nicht übergelaufen,