Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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wir doch morgen einfach irgendwo hin.“

      „Warum?“

      „Ich kann es nicht schaffen immer zwischen Bereitschaft und Pflicht.“ – Er will sie hinaushetzen, sich eingraben und heulen, doch küsst er sie zag – wie ein volles Zimmer ihm es erlaubt.

      „Mein Anspruch ist zu gesteckt, zum Fassen ganz fern.“

      „Ein Geständnis?“, fragt sie.

      „Mehr resignativ“, wehrt er ab, „ein Rauschen und manchmal ein Sich-fallenlassen-Wollen, aber wohin?“

      „Nicht gut ist es“‚ gibt Monika zu bedenken, „es ist das Nicht-mehr-gut-Zumachende, seinen Hut nehmen oder seinen Schuh stehenlassen und gehen.“

      „Ich weiß“, ist Sarodnick selbst überrascht, „der letzte Hinweis, die Spur, und weiter kann keiner mehr folgen – bis zu der Stelle, der Marke, dem Zeichen, dem Fuß in dem Felsen.“

      „Ein Pferdefuß ist es, ob Ölberg oder Felsenmoschee.“

      „Aber ein Zeichen.“

      „Walpurgisnacht“‚ lacht Monika auf. „Du hast’s mit den Hexen, ich sagte es doch.“ –

      Die Zweischneidigkeit, dieses Ungewisse lockte Martin, verführte ihn hin bis zur Gefahr. „Ist es das Böse? Die Lästerung? Oder nur nichts?“, fragt er sich jetzt.

      „Ein zugeschütteter Abgrund“, wirft Monika ein. „Was sind wir denn sonst?“

      „Nein“, widerspricht Martin. „Wir sind mehr – mehr oder minder. Wir sind Ausgang, Übergang, ein Präludium zum großen Stück Wunder, eine Saaltür am Eintritt, ein Torbogen. – Erinnerst du dich? Halle.“

      „Natürlich, mein Lieber.“

      „Dahinter war nichts. Das Schloss war im Kriege geblieben.“

      Sarodnicks Kindheit schaute in die Ruinen hinein. Dieses Noch-nicht-Vollendete, das Nie-Vollendbare geisterte, begeisterte ihn. Ganz egal war ihm die Frage: „Wird es ein Haus oder war es mal eins?“ Um das Weder-Noch, das Zwischendrin-Sein ging es ihm doch, das Halbe im Ganzen, die Trümmer als Werk. Sehr traurig konnte er werden, wenn sie plötzlich geräumt waren, irgendwann nach der Zeit. Gestern standen sie noch, waren beendet und rein, als wären sie ewig, und heuer Enttäuschung, das fertige Haus, an dem Martin das Kribbelige seiner Leitidee misste: „Und möglicherweise ist es gar keins?“ – Er hasste Baustellen, das Fertigstellen, die Schlüsselübergabe. Mit dem Richtfest starb für ihn das Interesse, der Bund und das Eins. Wie traurig war es für ihn, als man in Leipzig die Universitätskirche sprengte. Fremdprotestierend stand er am Platze, an der Sperre vor der Oper da. Auswärtig fern, unsolidarisch drängte er mit der Masse, die Restaurierung wünschte statt Abriss, Kirche statt Mensa, Bewahrung statt Revolution.

      Sorgfältig mied er das Ganze. Es zog ihn nach Paulinzella, in die Ruinen zwischen Mauern zu Säulen, die den Himmel abstützten, und wo auf den Altar der Regen jetzt schlug. An der Hand der Großmutter spazierte Martin durch Dresden, und sie erzählte vom Krieg, von diesem Februar 45. Nichts explizierte sie, sagte nicht: „Dies war das gewesen“ und „So sah jenes mal aus“. Sie schwieg, zeigte das Nichtgesichtete nur, das Hinter-Dem, das, was noch stand: die Keller, der offene Stall, die geworfenen Steine. „Von Gott ist es nicht“‚ bemerkte sie und ergänzte: „Es ist für die Ewigkeit da.“ – Für Sarodnick war es vollkommen, aus einem Guss, war Andeutung, unbrauchbar unnütz, war eine Nachhalligkeit. „Kunst“‚ staunte er‚ „außerhalb der Vernichtung und doch nahe daran.“

      Das Fast-Fertige, Nie-Fertiggewordene war es, ein „Beinah-Nichtzerstörtes und doch Zerstörtes“, das versteckte Chaos, das nicht geordnete Wachsen – ein babylonischer Turm. Es war das fragmentarische „Fort und fort“, das nicht zu Ende gesprochene Wort, das Sarodnick anzog, das er pries und himmelhoch hob. „Nicht der Goethe, der noch einmal entsiegelt und ändert“‚ sagte er einmal, „sondern der Urfaust, die Marienbader Elegie, die hilflos vollendet, geworfen als letzter Gruß und nicht aus letztem Erdenken, nicht Wilhelm Meister, sondern Mignon, nicht Iphigenie, sondern das Exil dort in Rom.“ – Das Demetrius-Fragment feierte er als Schillers „göttlichstes Werk“, als „Nur-Plan“, der planlos mündet in Tod. „Erst der hingeschlachtete Zarewitsch war der ideale Herrscher geworden, der Große, der Retter am Volk. Und kam Schillers Reife nicht selbst auch kurz vor dem Tod oder gar ein wenig danach?“ – War Martin gesund? Steckte da nicht vielmehr auch seine Angst vor der Steigerung, vor der Ruhe? Erregte er sich nicht in dem Kuss und wich doch der Zärtlichkeit aus? Oder war es kein Ausweichen, war nur ein Unvermögen aus dem Anfang zu kommen und den Schlussstein zu setzen? Häufig war es freilich das andere auch, die Heftigkeit, das Wollen ohne die führende Hand, ohne Verflechtung und Dialog – ein Ausrutschen, ein Erschlaffen, ein Absacken, eine zerstörte Berührung, die den Guss antizipiert ohne Wert, ohne Erlösung. – Und das Spiel mit Petra? Lief es nicht aus den gleichen Bahnen heraus? Ging es nicht aus von den Sinnen, von der Bereitschaft, um jäh abzuknicken, wegzutreten ohne Vollenden? Und trotz des Drängens, des Gärens in ihm, ließ ihm das „Sich-verströmen-Bevor“, vor dem eigentlichen

      Ineinandergeflossen, traurig zurückfahren zu sich – in den Schlaf. Auch Monika ist ihm Fragment, abgeschlossen in seiner Latenz und seinem angedeuteten Alles. Unbeholfen genau spürt Sarodnick, dass alles so bleibt und bleiben wird für die Jahre ohne Hoffnung auf Wachsen. Auch möchte er nicht, setzt auf das Nichts, ja, es behagt ihm gar so in der Haut. Und möglichenfalls waren alle seine Beziehungen lediglich ein Torso gewesen, ein steckengebliebener Anfang, der einen miserablen und damit vergessen Sturz in ihm birgt? Möglicherweise. – Martin blickt sich nach Monika um. „Sie ist schon gegangen“, denkt er. „Sie wird gehen und kommen.“ –

      Monika ist gerne gesehen, und zuerst und vor allem heizt sich Samwel an ihr, kann „auf Solche“ und „Solche“, „auf Norden“ und „Weiß wie der Schaum und das Sperma“, und in Worten kleidet er sie aus bis zum Grunde: „Meine stehende Angebetete springt mir ins Auge, ins Glied. Komm, leg dich zu mir!“ – Monika zupft an den Lippen und schweigt:

      Zu nichtssagend ist ihr der Sturm, das mütterliche Liebeserklären: „Ich muss zwischen deine Beine hinein …!“ – Doch Sarodnick kommt es entgegen, ist ihm gelegen. Monika ist wie vorgeschoben für ihn, ist ein Treppchen zu Samwel vorab, ein Versuch, ein Lockvogel, um ihn für sich zu gewinnen. Und eines Tages ist es dann auch so weit an der Zeit: Der Armenier spricht Sarodnick an. Mit abgewandtem Rücken redet er zu ihm, ohne Schnörkel und Floskel: „Jeder von uns muss etwas spielen, ein Stück von einem Stück. Wir könnten doch zusammen das machen.“ –

      „Wir?“ – Doch diese Frage stellte sich nicht. Heimliche Freude, Schaden-Freude erfasst Sarodnick, und darin liegt auch ein wenig von Furcht. „Was sollte es sein?“

      „Brecht.“

      „Brecht?“ – Die beiden entscheiden, den Hatelmaberg zu besteigen – „Herr Puntila und sein Knecht Matti.“

      Wochen probieren sich zähe, und ein Problem stellt sich für Samwel und Martin: einsteigen oder dabeistehen? Äußerung oder Selbstäußerung? Wie muss man den Dramatiker spielen? Darf man ihn überhaupt heute noch spielen?

      „Spiel ist Trieb – wie eine Frau besteigen“, sagt Sjoma. „Brecht ist die Erklärung dazu“, kontert Sarodnick.

      „Hängengeblieben beim Vögeln.“

      „Soll man den Herzschlag nehmen oder das zwischen zwei Schlägen?“

      „Handeln will ich, nicht quatschen!“, lärmt der Armenier dazwischen, „wie Hamlet am Schluss.“

      „Verwerflich“, denkt Martin. „Ist nicht jedes Handeln verwerflich, wenn es vom Einzelnen kommt? – . Brecht ist keine Methode für euch“, sagt er laut. „Weder im Institut noch in Moskau.“

      „Keine Mode.“

      „Kein Stanislawski.“ Sarodnick ist sich bewusst, dass es mit Hauruck hier nicht geht.

      „Klugscheißer“‚