Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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runter, und die Schwaden klären sich auf. Ein Mädchen ist wie das andere hübsch, und sind dazu noch alle ganz nackt. Sie johlen und jaulen vor Freude: „Ein Mann hat sich verirrt, hat in den süßen Apfel gebissen.“ – Aber Martin ist nicht zumute nach Spaß. Er zieht seinen Mann zwischen die Beine und rennt, was das Zeug hält, durch den Feix und die Äste zum Biegen. Beinahe hätte man ihm ein Loch in den Bauch mit der Schleife gelacht, beinahe wäre alles schiefgegangen in ihm. Jetzt ist er gerettet im Hemd.

      „Wieso, was ist los?“, fragt er den Alten mit dem großrunden Stummel in der Hand. „Zieht schlecht, zu feucht.“

      „Ich war in der Dusche.“

      „Erkälte dich nicht.“

      „Da sind Mädchen in ihr.“

      „Glück muss der Mensch haben.“ – Aber Sarodnick hat das Glück von der anderen Seite – er hat sich die Finger verbrannt.

      „Verdammt heiß!“

      „Warum sind die Mädchen da drin?“

      „Warte, was ist heute für Tag?“, fragt der Pförtner und die weißmehlige Asche rollt ihm aufs Jackett.

      „Dienstag.“

      „Dienstag. Natürlich, da baden die Mädchen.“

      „Aber du hast doch gesagt …“

      „Morgen ihr, übermorgen wieder die Mädchen, Freitag ihr …“

      „Und Sonntag?“

      „Sonntag sind die Läden dicht und geschlossen. Sonnabend die Mädchen, Montag ihr …“

      „Weshalb überhaupt Sonnabend?“, ärgert sich Sarodnick laut. „Weshalb Samstag die Mädchen, weshalb wir Montag, weshalb dieser Scheiß?“

      „Die Frau badet vorher, der Mann nachher. Ganz einfach.“ – Und der Alte zieht an dem Rest seiner Zigarre.

      Die arbeitswillig Gemachten kehren zurück, fröhlich gebräunt mit selbstgebrannten Sprit und alten Ikonen als Dank von den Bauern. Zum ersten Mal begegnet Sarodnick beidem, und er trinkt den Sprit auf den Brettern, die schwarz glänzen und deren aufgemalte Gesichter aussehen wie ein und dasselbe. Wladimir lagert sie verpackt unter das Bett wie einen Schatz, und wenn Martin bittet: „Ich möchte sie sehen“, verachtet ihn Wowa von seinem Estrich herab: „Da. Aber für eine Sekunde. Was verstehst du schon davon!“ – Sarodnick ist verblüfft:

      „Ich kenne doch die Heiligen wie du aus der Kirche.“

      „Aus eurer Kirche. Es ist nicht die unsere. Die unsere ist gereinigt, sie hat das Bild umgestürzt.“

      „Das Bild?“

      „Die ewige Form. Bei euch ist es die menschliche Grenze, das Unheilig-Gemachte, die Frau von der Straße. Die Sixtinische steigt herab und nicht in den Himmel, ab zu Fleischmüttern und zu Sybillen. Ihre Heimat ist das florentinische Waschhaus, die Gerberei, und der Vater isst dazu in der Kneipe zu Mittag, in der gleichen Spelunke, in der Winkelmann sich wälzte im Blut.“

      „Gott ist zum Menschen geworden“, sagt Sarodnick nur.

      „Der Mensch ist sterblich“‚ erwidert Wolodja, „aus seinem Leichnam formt sich die Welt. Auf seinen Schädeln geht der Mensch in die Irre und zerstört die Illusion von dem Ich. Der Mensch hat seine Endform erreicht, er ist bloß ein Elend, und zurückbleibt das Bild.“

      „Unseres Bildes, nicht wahr, und es hat …“

      „Hat den Menschen vergöttert. Der Unhold trat an die Stelle von Kunst.“

      „Er trat aus der Geschichte, aus dem Gemeinen.“

      „Du sagst es: aus der Gemeinschaft. Der Dieb ersetzte die Kunst. Wir hingegen in Russland gingen andere Wege. Das Einzige wurde das Werk, das Bleibende, entblättert vom Zufall, vom Ein-Fall. Wir setzten die Messe zum Sakrileg, setzten ins Rituale, ins Zeitlose ein und verklärten.“

      Sarodnick ist gelähmt, unfähig zu streiten, kann kein Gegengewicht auf die Waage ihm legen, und er sagt nur: „Und Lenin?“

      „Als ob es der Mensch wäre, den man vergöttert! Es ist der Träger einer Idee, wie Johannes für seine Taufe, wie Myschkin bei Dostojewski fürs russische Volk. Steingewordene Schrift ist es, ein Mosaik in dem Chor. Die Symbole aber sind gleich dem Baum Jesse, ein Ausrufezeichen – sie sind Metaphysik.“

      „Jedoch gab es die Revolution.“

      „Das Volk hat Russland erlöst, nicht das Gewehr, nicht die Schalmei. Unsere Musik ist die Offenbarung, sind die Ketten vom Manifest, sind seine Messer.“

      „Es ist wie ein Leitmotiv“‚ schwankt Martin in den Gedanken, „eine Leitmutter, Das Leben an-sich.“

      „Neu leben“, erwidert Wladimir nickend, „ein Gedicht für die Taten. Als hätte Lenin ein Menschenantlitz! Das hat er spätestens auf dem Panzerwagen auf dem Finnischen Bahnhof im April 1917 verloren. Er hat es selber zu Grabe getragen, er hat Uljanow zu den Akten gelegt.“

      „Und ist in die Geschichte getreten.“

      „Aus ihr“, antwortet Wowa‚ „und wir stehen wieder am Anfang: ‚Verehrung des Gottes‘ oder wieder ‚Image‘?“

      „Der Anfang vom Bild.“

      „Der Anfang von Gott.“

      „Steckt eure Ärsche gefälligst unter den Altar! Ich kann das eigene Wort nicht mehr hören“, flucht Samwel darein und wirft die Ikonen Sarodnick auf die Matratze. „Verfeuere sie, Fritz, dann sabberst du wenigstens nicht mehr so dämlich herum.“

      „Mit dem 8.Thermidor muss man wieder beginnen“‚ will Wiadimir noch ergänzen, doch Sjoma schreit: „Schnauze!“

      „Ich habe gar nichts gesagt“, rechtfertigt sich Martin.

      „Dann glotz nicht so hinterfotzig genial!“

      „Ich? Ach lass mich!“

      „Ich lasse euch beide gleich über meinen Sack springen! Und deine Großmutter kann ihre Gräten auch schon breitmachen.“

      Samwel spricht mit einem kaukasischen Sang, voluminös, weit in die Kehle gezogen, und er lässt die Vokale rund auf der Zunge zergehen, bevor sie herausfliegen, behauen, kraftvoll wie Exkremente. „Kellersprache“, denkt Sarodnick‚ „armenisches Ghetto, der Kampf um Behauptung, gegen Verachtung, gegen das Muss des Minderheitseins. Da konnte man nicht zimperlich sein.“

      Sjoma besuchte die georgische Schule und lernte Russisch nur als Fremdsprache. Zuhause sprach er armenisch, auf der Straße georgisch und in den Ferienlagern russisch zuweilen. Indes, keine der drei Sprachen beherrscht Samwel gleich, keine perfekt, keine aus vollem Gemüt. Er schreibt grusinisch – spricht aber schlecht, spricht armenisch – schreibt jedoch schlecht, er denkt manchmal russisch und schreibt grusinisch armenische Träume. „Russisch ist unwirklich“, meint er, „Amtssprache nur, eine Verbindung, eine Notwendigkeit.“ – Aus ganzen Rohren wurde Sjoma diese Sprache erst in der Armee beigelernt, bei der Marine: fluchen über dem Bord, ins Wasser spucken und staunen darüber, was es in seiner Haussprache nicht gab. Und der Fluch wurde heilig für ihn.

      „Du lästerst wie die Mongolen“, sagt Wolodja schmähend, „die haben uns diese Scheißwörter gebracht, brannten uns ihre Flüche ins Fleisch, und wir latschen sie heute noch aus.“

      „Diese Tartarenmongolen haben deine Russen von hinten gefickt!“, winkt der Armenier bloß ab. Er liebt nicht die großen Gespräche, die Ausstellung des Geistes, und er verachtet Sarodnick vor allem dafür. „Ich erschlage ihn tot!“, meint den Deutschen, und Wowa hebt nur abwehrend den Arm. So meidet Sarodnick dieses Zimmer, kehrt sehr spät meist zurück und freundet sich an mit Mais, einem Mann mit Schnurrbart aus Baku, der die Armenier hasst von ganzem Herzen und die Kohle schürt in Sarodnicks Grund:

      „Unruhestifter! Alles Kulturemigranten, diese Zucht. Die verschlucken