Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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„Ein trauter Tisch und die Beine darunter sind Heimat“, denkt Sarodnick. „Hier bin ich sehr gern.“ – Und er erzählt der Familie von Moskau: „So wie ihr es euch schon früher gedacht habt, obgleich … Na ja, ich behalt’ es für mich. Alles ein wenig chaotisch.“ – Der Mund von Maja, das Kichern hinter dem Rücken. „Fünf Jahre stehe ich es nicht durch.“ – Die lieben Leute rücken sehr dicht an ihn ran:

      „Ist es wahr? Nicht wahr?“, und rücken schnell wieder ab: „Das muss etwas Extravagantes, Gefährliches sein.“ – Die Familie aber ist stolz auf die Tochter, die Tochter auf Martin, Martin auf die Familie. Das hatte er zu Hause niemals gekannt. Da war ewige Hetze, der Streit: „Kannst du nicht mal …!“, und: „Ich hab’ keine Zeit“, und Martin verschwand in den Büchern. – In Halberstadt jedoch steht das Glück mucksmäuschenstill – das Haus, die Betten, der Dom. Wie Heringe tot und getrennt schläft löblich das Paar – er auf dem Boden, sie im Salon, dazwischen baumelt die Decke wie Scham: fix die Hose herunter, fix in die Scham, fix die Sache erledigt und hurtig den Schwamm drübergelegt. „Pfui!“, stöhnen die zwei und wischen beide daran.

      Später reist Martin mit Petra zu seinen Eltern, und die sind erfreut endlich das Mädchen zu sehen: „Was für Blitzmädel das ist! Welche Manieren! Wie geschickt! Und stets ein freundliches Lächeln! – Liebe Petra, kommen Sie doch öfters zu uns!“ Sarodnick war hinter dem Mädchen versteckt und hat so seine Ruhe. Er studiert, studiert schwer in der Ehre, und die Ferien sind zum Ausspannen da. Doch Petra spannt die Spannung in ihm – Majas Augen, die Rücken, die Mädchen vom Schauspieler-Kurs … „Ein besserer Mensch sublimiert“, erklärt er der Braut. „Nimm Hölderlin, Tschechow und Lenin.“

      „Wird man dabei nicht krank?“

      „Wobei?“

      „Beim Sublimieren.“

      „Nur die Krankheit gebärt Schönes. Die Kunst braucht den Gebärmutterkrebs.“ – Und Petra hilft in der Küche beim Kochen.

      Dann fährt Sarodnick nach Berlin, weint auf dem Flugplatz mit Petra und hat die Arme in ihre gelegt: „Wir bleiben immer zusammen.“ – Stumm schluchzt das Mädchen. – „Die Leute!“ – Sie nickt:

      „Ich habe dich unheimlich gerne.“ – Und unheimlich wird dabei Martin zumute:

      „Zum Jammern ist das! Wäre ich bloß nie nach Moskau

      gegangen.“ – Der Flug. Man serviert kaltes Huhn mit Weißwein und Marmelade. –

      In diesem Jahr fliegt Sarodnick Moskau/Berlin und Berlin/Moskau mehrere Male, und Petra hilft ihm dabei. Eine Flugkarte kostet nicht die Welt und die Erde, und Petras Eltern haben viele Kilo im Garten davon. „Ein Fahrschein macht treu, währt am längsten.“ – Auf dem Flugplatz holt die Familie Sarodnick ab. Er wird ein begüterter Mann, und eine Aktie fällt auf sein Haupt – in der DDR gibt es nicht viele von diesem Zeug. „Was kosten die Welt und die Erde?“ – Für Martin eine Lappalie. Die Luft ist darüber – zwischen Moskau/Berlin und zurück – und weniger Petra. Er ist im Flugzeug zu Hause, schnuppert am Heimatgefühl in der Höhe, und in Berlin dann wartet er bereits auf den Tag in der Luft. Zwischen Himmel und Erde sieht er die Braut, und sie ist lediglich ein Häufchen aus Sand. „Wäre sie doch auch das Firmament und der Äther!“ – So aber fliegt er in die Luftsucht zurück. Fünfmal reist er im Jahr, und nur einmal ist es Regel, die anderen Male umgeht er heimlich die Botschaft, meldet die Meldepflicht ab.

      „Mich sieht hier niemand so leicht“, meint er sehr kühn, „zehn Kilometer von meiner Botschaft entfernt.“ Und Peter und Werner haben mit sich selber zu tun: Der eine hat eine schwangere Frau, der andere geht schwanger mit ungelegten Liebeswehen zu Kira. So fährt Sarodnick einfach und basta! Und wenn jemand fragt: „Wo ist denn der Martin?“, sagt Samwel bloß: „Der hat sich den Tripper geschnappt.“ Und die Neugierigen gehen erschrocken von dannen.

      Glücklich lernt Petra in Leipzig, und Sarodnick ist ihr treu, ist ein Flieger, fliegt in die Nähe und hat den Finger in ihr. „Ich hab meinen Freund.“ – Wie ein Ring ist sie sozusagen verlobt. „Fremde Hände sind fremd.“ Sie schlägt die Beine übereinander und wartet zwei Monate wieder. Weich wie ein Kissen liebt sie ihren Martin, und es ist besser als nichts. – Fünfmal im Jahr ins Weiche geflossen. Eine treue Tomate, die platzt. –

      In der Diele schiebt Monika ihren Mund hin zum Küssen, und Sarodnick greift in die Schläfe: Er hat ihre Nagelspuren am Hals. „Du warst schon wieder zu Hause gewesen?“

      „Meine Mutter … ich muss … da sind …“ – Monika aber möchte besser nichts wissen. „Ich will nicht nach Archangelskoje, ich will nicht nach Sagorsk, ich will nicht nach Jasnaja Poljana. Nirgendwohin will ich. Es interessiert nicht, ist mir zu ausländisch-fern, ist ein anderer Stil, eine andere Religion, sind andere Leute. Ich habe anderes Blut.“ – „Im Urin. Pinkel dich aus!“, denkt Monika, doch sie schüttelt nur ihren Kopf: Sie hat die Tage geweint. „Sinnlos ist es“, hat sie gemeint, und „Martin ist trotzdem mein Freund. – Das ist alles?“ – Martin versteht:

      „Ich habe Petra“‚ sagt er und ergänzt, wie sich entschuldigend noch: „Wenn’s beim ersten Mal nicht funktioniert, geht es wohl nie. Mit Petra geht es ganz gut.“ – Es geht.

      Hungrig sucht Sarodnick die Bibliotheken an Sonntagen auf, denn im Heim kann er nicht bleiben. „Es sei denn, man ist ein lustiger Kerl, laut lustig zum Brüllen“, denkt er „oder man ist ein todgemütlicher Mensch, dem nichts aus dem Gleichgewicht bringt. Heisa popeia, Ringeltingel und Fassen.“ – Nach einem versoffenen, hoch-fraulichen sonnabendlichen Abend bis in den Morgen stehen die Toiletten über dem Rand, liegt die Verdauung darin, und Zeitungen darauf flattern gebraucht. Die Waschbecken sind unbenutzbar geworden vom übernutzten Gebrauch, und der Fußboden ist zum Übergeben ganz glatt: Man schlittert auf der eigenen Soße: „Es ist darauf geschissen!“, und der Magen dreht sich nach unten. In den Aborten sind die Kabinen besetzt, und die Besetzer schlafen bis Mittag.

      Martin nimmt seine Sachen, steigt in den Morgen, und in der Bibliothek auf dem Waschhaus setzt er sich aus – eine saubere Stunde, er hat es schließlich verdient. Alsdann kramt er in Büchern, leiht sich Jack London und möchte seinem Professor einen Wohlwillen machen. „Der liebt den amerikanischen Film“, erinnert er sich. „Hat er nicht selbst amerikanisches Kino gemacht?“, fragt er sich und überlegt in den Tag.

      „Er hat als Löwe begonnen und landete später im Zoo“, spottet Sjoma über den Meister und spielt an auf den Namen von diesem: Lew heißt Löwe in der russischen Sprache.

      „Man hat ihm den Namen genommen“, behauptet André, der Junge von nebenan im Internat, der Leningrader, der „Älteste“, der Weiseste aus der Gruppe, der hochgeschossen – ein Reis in die Sterne –, gezogen, gestreckt, mit Narben wie ausgeschlagene Knospen und Haaren aus Stroh, ausgedroschen, verwelkt.

      „Als er sich mit einem F schreiben ließ, hat man ihm auf das Maul gehauen, und so blieb ihm nur das LEK mich am Arsch übrig.“

      Lew Kuleschow ist Professor, Mitbegründer der Filmhochschule 1919, Rektor von einst, Regisseur vormals, war ein LEF, ein Biomechanischer, ein Natur-Modell aus Tambow, wo sein Großvater den Gutsbesitz in die Kehle schluckte, und der Enkel die Oberwelt von einem Ufer zum anderen über den Fluss kahnte. Mit den Kopeken dafür fuhr er nach Moskau in die Kinofabrik. Die Revolution entfesselte das Talent, und so wollte er das Entfesselte mit Kino und nur mit dem Kino realisieren.

      „Kuleschow ist unser Vater“, meint André.

      „Und der Vater wurde von den Söhnen gehasst“, kontert Sjoma. „Er hat völlig neue Dinge gemacht, die andere später benutzt haben wie neu. Die Dinge waren wohl aber zu spitz für die Zeit.“

      „Er wollte den russischen Krimi, den Detektiv, die Spannung, den Schlag, den Mord und den Totschlag-Effekt.“

      „Er hielt den Schnitt im Salto mortale, und der Schauspieler wurde ihm ein bewegender Körper. Seine Psyche stand ihm am Leib, entpsychologisiert, enttheatralisiert, Entbund und Entlast – und man flog durch den Raum. Kuleschow hat die