Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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200 Panzern, den die Luftwaffe gut unterstützte, erreichte bereits in den Morgenstunden Rschawez. Es gelang, einen Brückenkopf auf dem rechten Ufer des Donez zu bilden und von dort aus weiter nach Nordwesten zu dringen. Angesichts dieser Flanken und Rückenbedrohung musste die 5. Armee einen erheblichen Teil ihrer Reserven mit 200 Panzern dem deutschen 3.Panzerkorps entgegenwerfen. Diese hielten die Deutschen verlustreich etwa 15 Kilometer südlich Prochorowkas zwar auf, aber trotzdem blieb die Lage für sie äußerst gespannt. Unsere übrigen Armeen, die im Laufe des Nachmittags erst zum Angriff übergehen konnten, erzielten an den Flanken einzelne kleine Einbrüche. Damit verhinderten sie das weitere Vordringen der deutschen Truppen in Richtung Obojan. Entscheidende Resultate erreichten sie aber nicht. Die Offensive der beiden größten Armeen war aufgehalten und heroisch gescheitert. Zu Ende war die größte Panzerschlacht aller Zeiten, unentschieden, remis wie Borodino. Und wie damals war es der Wendepunkt, war es die Grundlage für unseren endgültigen Sieg.“ Feucht glänzt Wladimirs Wange. Er scheint aufgerührt gewallt und von Fieber. Martin nimmt seine Hand, drückt sie anteilig-teilend, und unergründlich unerklärlicherweise bleibt er lange noch auf dem Bett Wolodjas ruhen und starrt auf die Karte mit ihren Haufen von geworfenen, zerstörten und umgekippten Figuren.

      In den Winterferien reist Sarodnick nach Haus, wählt sich einen Kamerastudenten aus Babelsberg und dreht mit diesem die Fastnacht in seinem sorbischen Heimatort.

      Als Kind hatte Martin stets teilgenommen an dem Fest, an diesem Spiel, hatte sich verkleidet und war von Haus zu Haus durch das Dorf Zampern gegangen: „Gebt mir ein bisschen Geld oder Eier, Speck oder Butter!“ – Später zogen die Großen, die Männer, und die Kinder und Frauen blieben erwartungsvoll ängstlich daheim.

      Zeitig am Morgen sammeln sie sich auf dem Platz vor dem Gemeindebüro, und der Frost treibt den Korn in den Rachen, treibt der Korn den Frost aus dem Bauch. „Wer ist dort gekommen?“ – Ein Paar mit Wasserköpfen am Hals.

      „Sicher Paulick und Jatzwack.“ – „Nein. Paulick ist doch der Schornsteinfeger daneben.“ – „Ach was! Das ist Lehmann.“ –

      „Der Bär …dieser Riese ist wer?“ – Brombog reitet auf der Ziege einher, und eine Braut in dem Schleier, ein Zigeuner, ein Bettelstudent, eine Alte mit einem Storch und Kinderwagen promenieren dahinter. In der Karre plärrt wütend der Balg. „Bolke ist das, könnte ich wetten.“ – Ein Teufel mit mistiger Gabel, eine Stadtdame unter einem riesenradigen Hut, ein Advokat auf dem Schimmel, ein Apotheker mit giftgrünen Tabletten treiben einen Leiterwagen mit Marionetten beladen. Pamarz schreitet als trächtige Kuh mit einem Euter wie vier große Schläuche, Wietsent trompetet als Feuerwehrmann und spritzt Wasser aus einem Kübel vorbei. Ein Polizist trillert, und ein Engel fliegt schnell hinter den Busch mit unschuldiger Miene. Aus dem ehemaligen Kaiserreich aber marschieren Soldaten mit Pickelhauben und Bajonetten, drei leichte Mädchen flirten wie Grazien, und ein Fliegenspritzer spritzt auf sie ein. Ein Indianer, zwei Schauspieler, ein Gaukler, ein Mohr, ein Gespenst. Eine Hexe reitet rücklings in einer dreirädrigen Kutsche, die mit lahmen Pferden geschirrt. Auf dem Bock sitzt Krabat verschmitzt und kaut an Gedanken. Nun sind sie alle beisammen, die „Körner“ gesammelt, geschüttelt, die Kleider gezogen, hat man dahinter geblickt und geraten, gewusst, wer wer ist und wer nicht. Noch einmal wird heftig gelacht, am Euter gezupft und Bier in die Gläser gekippt. „Zum Fotografieren bereit!“ – „Die Kleinen nach vorn! Die Braut, die mit den Brüsten, die ohne Löcher, in die Mitte zum Mann! Die Pferde nach hinten! Ruhe! Das Bild wackelt. Steht eine Minute mal still. – Der mit der Leiter! – Der Engel! Der Hut! – Alle mal freundlich!“

      „Und die Musik?“ – „Die Kapelle mit Pauken und Posaunen! Und dahinter die Frauen in den sorbischen Trachten.“

      „Keine Musik!“

      „Haut auf die Pauke!“

      „So. Fröhlich das Herz! – Die Hochzeitsbitter links und rechts von dem Ganzen! Nach außen! Die Flasche ist nicht zu sehen! – Klick!“

      „Jeder auf seine Plätze!“ —

      Vorn marschiert die Musik, alsdann kommen die Bitter, die „Damen“, die Herren, die Kühe, die Pferde, die Engel, die Teufel – zu aller guter Letzt Krabat in seiner alten wackligen Kutsche. „Das den keiner nach hinten überholt! Man wüsste sonst nicht, wer uns fehlt.“ – „Eins, zwei, drei – einen Marsch!“

      „Wir fangen beim Bürgermeister an und danach geht’s linksherum weiter.“ Die Blasmusik paukt, das Schifferklavier klirrt, die Teufelsgeige krächzt und die Engel fliegen dreimal über das Dorf. In seinem dicken Strafregister blättert der Advokat: „Herr Bürgermeister schönen Tag!“ – Alle sind aus dem Häuschen, die Trompeten zwitschern ein Ständchen und die Hochzeitsbitter bitten zum Tanz. Den wendischen Frauen wirbeln die roten, grünen oder himmelblauen Röcke, und im Takt drehen die Schleifen die Runde. Schnaps verschenkt sich wie Freude, man schüttelt sich, lacht, wischt an den Lippen. In die Liste tragen die Bitter die Namen: „Wie viel wolltest du gleich geben?“

      „20 Mark.“ – Es wird notiert und bedankt und ins nächste Haus eingezogen: „Schönen Gruß!“ – Die anderen besetzen den freigewordenen Platz. Die Kuh spritzt ihr Bier in die Eimer, die Soldaten drohen mit Krieg, der Schornsteinfeger jagt Kinder und verschmiert seinen Ruß an den hübschen weißen Mädchengesichtern: „Man hätte sich auch loskaufen können.“ –

      Auf dem Hof demonstriert das Brautpaar die Liebe, und die Beglückte zeigt stolz das Falsche von ihr. Der Engel aber sammelt brav Eier für seine verlorenen ein, und allen hängt eine Büchse am Hals: „In den Schlitz bitte werfen das Geld.“ – Genau um die Hälfte betrügt die Zigeunerin ihre Klienten. Sie hatte es aber ihnen schon vorher geweissagt.

      Auf jedem Hof singt die Musik, jauchzen die Stimmen, rollt das Geld in die Büchsen verhext, und der Feuerwehrmann löscht mit dem Wasser die hitzigen Köpfe. Der Polizist indessen schreibt die Strafzettel aus. Der Zug rattert durchs Dorf, und die Kinder verfolgen ihn ängstlich mit Abstand: „Ist das ein Fest!“ – Der Bär tanzt mit der Tschertschick eine Runde für Speck, der Fliegenspritzer schüttet tote Fliegen aufs Haupt, und die Ziegen lecken die Stiefel. Jedem Haus gilt die Offerte, jedes Haus ist zu einem offenen, öffentlichen erklärt, und die Lust biegt sich vor Freude den Buckel. – An dreien der Häuser aber baumelt ein Schloss, und man sagt: „Das sind Zeugen Jehovas. Für die ist das Zampern vom Teufel, wie auch die Wahl, die Gemeindeversammlung, das Erntedankfest im Herbst.“ – Die Hexe macht drei Kreuze ans Tor, und der Feuerwehrmann wirft einen Knallfrosch über den Zaun, dann torkelt man weiter zu den offenen Türen. Die Kutsche aber mit den vier lahmen Pferden in ihrem Geschirre fährt auf, und die Peitsche schlägt gegen das Tor. Erschreckt weicht das Holz, der Wagen rollt auf den Hof, und Krabat, witzig gewitzt, erzählt seine Geschichte. Die Kinder klammern sich vor Schreck an die scheckigen sorbischen Trachtenröcke, die Frauen kichern in ihre Tücher, und die Alten blicken mit zwinkerndem Auge misstrauisch hinter den Schwank: „Das ist doch Sarodnicks Jüngster!“

      Hinter vorgehaltener Tür hat Tretin dem Ältestenrat des Kurses etwas zu sagen. Inständig lange drängt ihn der Professor, dass er noch einmal auf gut Freund melde, was er unlängst ihm selbst bereits angezeigt hatte: Das Verhalten Sarodnicks ist nicht kursgerecht, wäre sowjetfeindlich gar. Tretin aber hält hinter dem Berg, lauscht bloß dem kurzfliegenden Atmen seines Professors.

      „Bitte, Jakob, wiederhole, was du mir und dem Rektor mitgeteilt hast.“ Tretin erhebt sich, fühlt plötzlich Schwäche in seiner schmalen Brust, lässt sich jedoch nicht von den rosshaarigen Beinen holen. Mit gesenkten Lidern kaut er genüsslich jedes Wort auf der Zunge:

      „Ja. Sowjetfeindlich!“ – Ratlos muckt sich das Kollektiv: „Wir verstehen das nicht.“

      „Na schon raus mit der Sprache!“, drückt der Professor kraftvoll auf die Tube, und unehrenvoll tropft es von den auftragenden Lippen Tretins zu Boden:

      „Sarodnick macht oft Bemerkungen … zum Beispiel über die Tschechoslowakei, über Dubček, über die Panzer …“ – Jakob sucht die Blicke seines Beschützers: Kuleschow kann ihn doch jetzt nicht alleine hier zappeln