Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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andere Richtung aber wäre nur Sturz, wäre ein infantiles Geheule. Nach acht Klassen waren es vier für Sarodnick noch in der oberen Schule – angesammelt, gesiebt, geordnet aus den vielen mittleren Schulen im Kreis. Ein kleines Häufchen sammelte sich zum Viellernen, Besserlernen, Vergessen. – Unter ihnen saß auch Ricarda aus Neudorf. Neudorf, weil neues Dorf, und neues Dorf hieß ein Ort mit einer schon vor Jahren geschaffenen Genossenschaft für die Bauern, war so viel wie Vorreiterposten, eine Aktivistengemeinde, ein Voraktivist. Ricarda Kaiser war das Kind vom Vorsitzenden dieser Genossenschaft, der ein Abkommandierter vom Landwirtschaftsrat im Bezirk war, der den rückgewandten Bauern der anderen Dörfer auch vorführen konnte und vor allem sollte, was Zukunft hieß und was ihre Stunde geschlagen. Aus diesem Grunde konnte seine Tochter auch nur eine Jugendweihtochter sein – ohne dieses Halbe und Halbe. Noch dazu damals in diesem entscheidenden, in diesem wichtigsten Jahr, als der Sturm auf die Bauern anhob, als der Auszug der Vorposten begann und zum Einzug der Noch-Besitzer ins Allgemeinwohl und Habenichts Stadium führte: Die Proletarisierung der Bauern, das vollprozentige Genossenschaftsdorf nannte es sich.

      Ricardas Vater streifte durch Lande, rührte kräftig die Trommel, redete Stunden, zerredete Nächte, hob warnend den Finger, die Fäuste, gab zu denken, zu schenken: Den Ersten kam er mit Autos, den späteren mit Zement und mit Schlachtscheinen – die Letzten bissen die Schweine. Auch in Martins Dorf, in Sorbwinkel war Vater Kaiser gewesen – bei Metaschk, bei Paulik, bei Petschick, bei Sarodnicks in dem Haus und agitierte, propagierte und drohte. Seither kannte man ihn nicht mehr, wollte man ihn nicht mehr sehen und hören, sagte: „Was mischt der sich hier bloß ein!“ – Martins Mutter hatte schnell ihre Kühe verkauft, hatte sich verkleinert, verwinzigt von sechs Hektar auf ganze drei Morgen, wurde vom Bauern zum Groß-Schrebergarten-Besitzer. „Schuld hat die Kolchose“, schimpfte sie, „die LPG, der Fortschritt, der Kaiser.“ – Zwar kam man gerade noch einmal herum – von dem Genossenschaftlichen, von dem Gemeinen – , aber zurückblieb der Bauer, zurück blieben die eigene Milch und die Butter, blieben die fetten Jahre, der Acker, der 16-Stunden-Tag und das Jahr ohne Urlaub. Martin wurde zum Arbeiterkind, zum ganzen, zum echten, ohne Geruch von Sahne im Haar. — Ricarda jedoch war stolz auf den Vater. Die Schlacht war gewonnen, der Staat 100-prozentig – ein Volk, eine Gemeinde –, und der Bauer eingegliedert ins Wohl und Wehe für alle. Ricardas Vater schritt ganz vorne mit an. Martin indes verfluchte die Tochter oder schämte sich wegen der verlorenen Sterne.

      So oder so, er ging ihr aus dem Wege, obgleich sie in derselben Klasse saßen und lernten. Er konnte den Vater ihr nicht verzeihen oder ihren Fortschritt, ihr Weiter-Sein, ihre Überlegenheit in den Fragen – „In welchen eigentlich denn?“ –, in Fragen der Liebe. Martin spürte es, fühlte, dass sie ihn mochte, möchte für immer, für lange, für mehr – für das ganze Milchstraßensystem. Allein, er hatte ihr nur die Furcht zu bieten und ein wenig seichtes Gesabber und kaltes Gelächter dazu: Einer, der nimmt sich selber nicht ernst. Er ging seiner Wege, Umwege, um sie weit herum und sah vier Jahre ihr nicht mehr direkt in die Augen. Ab und an nachts wohl, wenn er träumte, wenn der Stoff haftete am Leib, und er am Morgen sich abwusch vom Schleim, spürte er sie: ein grausames Spiel – Spielverderber, verdorbenes Ei. Vier Jahre. Beinahe.

      Einmal noch, in der Hälfte der Zeit drang er in sie ein, verstohlen, wie ein Dieb, in ihre Wäsche, in ihre Gedanken: Er hielt ihr Tagebuch in den Händen, wollte lesen, blätterte drin. Seinen Namen konnte er entzifferte, und der Kopf tat ihm weh – das Kreisen wie damals begann, die Nacht, das Zeitlose, das All. Dann war sie plötzlich in die Klasse getreten, berührte ihn, sagte irgendetwas und suchte den Blick. Der aber war in dem Absatz, im Wegfall, mit Augäpfeln ganz weiß und Erschrecken. Roh stieß er sie fort, und das Buch fiel schreiend zur Erde. – Martin wurde daraufhin, als Konsequenz und wegen sträflichen Verhaltens aus dem Schulensemble ausgeschlossen, erhielt einen strengen Verweis, und sein Name wurde ausgehängt in der Halle wie vor dem Richter: „Sarodnick, Martin – ein Dieb!“ – Ricarda hatte sich beklagt und geklagt: „Der dort hat mir die Tasche gestohlen!“ –

      Endlich aber war da noch einmal ein kurzes Aufblitzen, ein Zusammenstoß, ein „Noch-einmal-Vergessen“. Das war kurz vor dem Abitur, vor dem letzten, vor dem Auseinandergehen für immer. Ricarda sollte Nachhilfestunden in Mathe bekommen, und der Lehrer bestimmte Martin dafür. Seltsamerweise. Obwohl Sarodnick in Mathematik nicht schlecht gewesen, gut, vielleicht sehr gut war. Aber warum er, warum ein Junge, warum überhaupt dieser Kram? Doch es gab kein „Nein“ und kein Aufbäumen: Vor dem Abitur hielt jeder das Maul, „bloß durchkommen“, „Glück haben“, „nur nichts verscherzen!“ – Sarodnick nickte und ließ sich seine Arbeit diktieren. Drei Mal lief alles recht gut. Sie lernten gleich nach dem Unterrichtsschluss, und sehr viele Leute rumorten auf den Korridoren laut. Martin streifte nicht seine Hemmungen ab, das ist, seinen Humor oder, besser, seinen Sarkasmus, streifte nie seinen Blick ab von der Tür und ließ sich die Zeit abrollen in bloßer Routine. Eines Tages freilich konnte Ricarda nur am Abend erscheinen, und ihr Vater sollte sie dann abholen um elf. – Leicht erhitzt betrat Martin die Klasse. Die Sonne stand schon tief, und wie ausgebrannt wirkte die Schule. Ein Windlächeln drückte von außen ins Fenster, und Ricarda spielte im Haar. „Es ist heiß“, sagte sie. „Früher haben wir bei so einem Wetter Hitzeferien bekommen.“ – Aber nun waren sie Abiturklasse, und niemand gab ihnen frei. „In vierzehn Tagen ist alles vorbei“, antwortete Martin lässig. „Dann machst du sowieso, was du willst.“ – Und der Sinus huschte über die Tafel, die Kreide zeichnete auf der Haut und fiel mehlig auf die nackten Füße von ihm. „Wir müssen nochmals Kurven berechnen!“, versuchte er besonders wichtig zu sein. Wenn nur die Sonne noch bliebe und der Abend noch einen Tag währte – vor dieser Nacht! Draußen heulte ein Motorrad laut rufend auf, und Martin erhob seine Stimme. „Da könnte man singen.“ – Der Schwamm schmierte trocken über die Tafel. Man müsste ihn waschen, man müsste alles neu wischen, saubermachen, wieder ins Reine bringen. Drunter auf der Tafel tauchten die Konturen des Vormaligen auf: „Man sollte wenigstens einen Lappen hier haben. Die alten Kurven erscheinen, verwirren das Bild. – Verdammt, es ist schon zu dunkel. Aber kein Licht! Das Geschmiere – kein Licht! Ich sehe, was du nicht siehst …“

      Und Ricarda war still, sagte etwas später bloß: „Ich setze mich näher, von hier sehe ich nichts.“ – Doch „Licht“ sagte sie nicht. „Das hat sie vergessen. Vielleicht haben sie in Neudorf auch keins? Nur Kerzen. Oder liegen um diese Zeit schon im Bett. – Quatsch! Ein Dorf ohne Licht! Außerdem hat ein Vorsitzender alles. – Noch einmal von vorne! Von Anfang. Wir waren bei Minus …“, reflektiert Martin.

      „Du hast Kreide im Haar“, meinte sie plötzlich, und Martin verhaspelte sich, schluckte Mut und schielte auf ihre Stimme. Ihre Zehenspitzen drückten sich ab, und ein Mund hauchte ihm Wärme ins Ohr. Sie knickte ein in den Knien, lachte: „Ich bin wohl zu klein“, und Martin hielt ihre Schultern im Arm. Schatten gerannen, die Helle machte sich rar, und auf den Boden glitten zwei Rücken. Ihr Hals beugte sich zu den Lippen, und von der Tafel sprangen die Kurven ins Kleid. Haut suchte Kühle, sprengte die Hülle, wollte die andere Haut reißen an sich, und die Finger spielten im Hirn. Eine Öse rollte über die Dielen, und er spürte das Heiße, spürte die Beine an ihm, fühlte das Vibrieren unter dem Nagel, benetzt von dem Haar. Herzschläge zerrten in ihm, Hochschläge und Auffall – ein leichtes Rauschen im Sinn. Es verlangte Unendlichkeitsgründe, wünschte den Abgrund, die Metamorphose, begehrte das eine: über in sie. – Ihre Füße krümmten sich weg, legten sich breit. Martin ging über Nacktes, über den Leib, und das Mädchen strebte zu ihm. „Nein!“, löste sich überströmend sein Schrei in die Angst, und der Sinn sickerte ihm über den Boden – dem Mädchen zum Trotz. – Sarodnick suchte den Schwamm, suchte das Du und fand sein eigenes nicht. Fluchtträchtig entleert in der Hoffnung, hatte das Mädchen auf den Falschen gesetzt.

      Draußen aber heulte wieder dieses Motorrad, und die Schläfe litt von dem Klang. Ein Vater schaute nach seiner Tochter, und in dem Zimmer brannte kein Licht.

      „Ach guten Tag, Herr Kaiser! Wir sind gerade fertig.“ – Doch fertig war Sarodnick bloß, und Ricarda fiel durch das Mathematikabitur. Die Schuld war wohl in den Sternen verwirkt.

      Im Frühjahr reist Petra nach Moskau. „Oh, endlich!“ – Sarodnick wird ihr die Stadt zeigen, den Kreml, die Universität, die breiten Boulevards.