Heinz Zschech

Ostexpress in den Westen


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Auge, ins Auge im Spiegel: „Na und?!“ – Der frierende Guck wurde weicher, vom „Lang-Sehen“ weich, streifend-streichelnd. Und abweit verschleierte er sich in den Brauen des Jungen. Wieder und wieder spiegelte Martin – eine Wand, eine Fläche, ein See. „Es kann mich sehen, wer will!“ – Plötzlich stieß sein Kinn hart gegen die Lehne des Vordersitzes auf. Er rieb es, schaute auf: Der Rückspiegel war ein Hochhinaus-Spiegel geworden, abgedreht in den siebenten Himmel, mit mattem Gesicht – ein Stückchen Plastik und Glas.

      Der Vater chauffierte langsamer nun, bremste alsdann, streifte den rechten Handschuh vom Arm und reichte der Tochter die Hand: „Und keine Dummheiten, hörst du!“ Und er ließ sich die Wange küssen von ihr. Mit dem löchernden Handschuh aber klopfte er Sarodnick auf die Schulter: „Seien Sie vor-sichtig!“, mahnte er leicht, vorbeischauend am Haar. Er dehnte das „vor“, als würde er es verschluckt haben in irgendwelcher starken Erregung. –

      Drei Wochen später wurde Petras Vater verhaftet. Er hatte in seinem Betrieb einen Lehrling verführt. Nach dem 12. Verhör verstarb er plötzlich. „Herzinfarkt“ war die offizielle Version. Obwohl er in seinem Leben schon ganz andere Verhöre erlebt und überlebt hatte. Das war damals nach Stalingrad, als er in die russische Kriegsgefangenschaft kam und als hoher Wehrmachtsoffizier so manches Märchen zu erzählen hatte. Die einfachen Landser dagegen wühlten inzwischen in der sibirischen Taiga im Morast, fällten ausgehungert bis zum Umfallen riesige Bäume und krepierten dabei wie das Ungeziefer in den löchrigen Decken und die Ratten in den winddurchlässigen schiefen Baracken. Die höheren Grade indes, hochgradig schuldig und mit viel Dreck an den Knochen, schliefen tatenlos ihren vierjährigen Totentanz auf weicheren Eisenmatratzen und aßen Doppelportionen vom Schwarzbrot, vom Magermilchbrei mit gelegentlich Fleischklößen dazu. Die dienten danach zum Aufwärmen, zum Reinbeißen, Reiben, Lecken und Striegeln der Offiziere, um kraftspendend an die Reserven, ans frische Fleisch der ehemaligen Kriegskameraden gehen, besser liegen zu können – bis zum Absprung und verbotenen Abspritzmanschetten. Die Rangordnung – die strammsten und wuchtigsten Mit-Glieder – bestimmte das Untergestelle dabei.

      Petra hat darüber geschwiegen, auch vom Erfurter Gefängnis wollte sie nicht reden, von dem bezaubernden Lehrling mit dem Besenstil von seinem Meister im Griff seiner Faust. Das war alles ein Schandfleck für sie, ein Stoß in die falsche Richtung, ein Schiss in die Hose oder einfach nur ein Fauxpas, der letztlich nach hinten losging.

      „Mein Katerchen, du musst deine Träume verlegen“‚ hält Ljuba die Hand ihres Freundes unter der Decke. „Hast du gut geschlafen? – Guten Morgen, Semjon? Guten Morgen, Wasili! Guten Morgen, Martin!“

      „Hm.“

      „Petra ist wirklich sympathisch.“

      „Allen ist sie sympathisch“, antwortet Martin.

      „Mit größtem Vergnügen würde ich sie von hinten vernageln.“ „Semjon!“, mahnt Ljuba vergeblich.

      „Was ist? Sind kleine Kinder im Raum?“, fragt Sjoma und dreht sich verwundert um. „Ach so! Wowa. Ich habe vergessen.“

      Ljuba streicht Wolodja die Haare aus seiner Stirn: „Zieh dich jetzt an, Wowotschka, mein Sternchen, mein Katerchen, ich warte auf dich in der Diele“, zirpt sie und geht aus dem Zimmer.

      „Ich hatte mal eine Mieze, die hat beim Vögeln immer wie eine Biene gesummt“, rollt Samwels Satz gegen die eingezogene Tür.

      Sehr musikalisch ist Ljuba. Sie hat Musikpädagogik studiert und danach in der Schule Gesang unterrichtet. Sie kennt alle Volks- und Kinderlieder im Kopf – hat nur diese Lieder dort oben. Ihr Mann ist zu Hause geblieben. Rotborstig, mit einer grobhornigen Sechser-Brille auf der russischen Nase, ist er einmal bescheiden nach Moskau besuchsweise gekommen. Wer hätte ihn da schon bemerkt, wenn Ljuba nicht jedem Einzelnen ausdrücklich gesagt hätte: „Mein Mann!“ Er hatte höflich gegrüßt, nach rechts und nach oben – das Filminstitut ist für die Leute in Woronesch eine ganz hohe und ernstzunehmende Sache. Beim Abschied dann hatte er bewegt Ljubas Hand gefasst und ihren kurzen Mund durch seine dick gläserne Brille gesucht.

      „Das war mein Gatte. Und nach meinem ersten Film wollen wir Kinder haben. Bestimmt fünf“, sagte sie ausgesprochen melodisch. Ljuba greift immer in Dur: ausgeglichen, allfreundlich, mit den Pädagogen lehrerbezogen. „Mein Pfötchen, es ist jetzt an der Zeit!“ – Wladimir belässt unter der Bettdecke die Hand in der ihren – mehr lässt er ihr nie. „Es ist angenehm, unter einer Frau zu erwachen“, stöhnt er vor Glück. Ljuba indessen sendet „Die Grundlagen der Filmregie“ an ihren Mann: „Viele Grüße von Semjon, Martin und Wladimir.“

      In dem Buch steht eine persönliche Widmung von Lew Kuleschow, und sie legt eine Pelzmütze mit hinein ins Paket, die ihr Venka aus Bulgarien mitgebracht hat: „Für dich, liebes Hündchen. – In Bulgarien ist es viel wärmer als in Woronesch. Dafür aber gibt es in Sofia Mützen aus echtem Fell.“

      Venka bekommt den Mund nicht ganz zu voller Zähne, und ihre obere Lippe versucht verzweifelt, verspannt dieses Weißgelb zu decken. „Wie ein Hauch. Eine zweite Sarah Bernhardt“, soll der Professor über sie einmal gesagt haben – hat jedenfalls Tretin behauptet. Schließlich hatte er die Bernhardt persönlich gekannt. Und mündig ironisch spitzen die Dilettanten im Kurs ihren Mund: „Venka, das Stummfilmidol.“

      „Sie darf beim Rezitieren bloß nicht den Rachen aufsperren“, meint Sjoma. „Dann kann sie sein, wer sie will.“ – Nach der ihr zugeflüsterten Eloge des Meisters gibt sich Venka sehr schön und lässt sich nicht zwei Mal nur bitten. „Sarah-Venka!“, ruft man ihr nach, und ihr Kiefer fällt vor Stolz beinah auf die Treppe. Unten steht Martin und krabbt ihn fast in den Keller: „Der rollt!“ – Hat er nicht mit ihr schon sieben Worte gewechselt? „Ich war noch nie in Bulgarien gewesen.“ – Sie hätte nicht laut lachen gesollt! So ist alles verdorben – die Treppe hinunter. Hinterher wird gesagt, Martin hat sie gestoßen. „Wenn ich doch unten gestanden habe in diesem Moment! Oben stand doch zu diesem Zeitpunkt gerade Kim-Lan.“

      Wer weiß genau, wie alt sie ist, wie viel Jahre sie hinter sich hatte? Dreißig? Fünfunddreißig? Noch älter? Altlos, weit an der russischen Sprache vorbei, ist Kim-Lan ein Geheimnis, ein Kriegsgeschenk aus Hanoi. In Dutzenden Filmen hat sie bereits bei sich zu Hause gespielt und wurde ein Ur-Stern über dem Wald, eine vietnamesische Diva. Jetzt wird die Schauspielerin zur Regisseurin geformt, denn der Krieg in Vietnam hat Akteure genug. Unter den Bomben sind die Studios zu Pulver, und das Geld für das Kino wird in die Gewehre gesteckt. Wer aber filmt die Taten der Toten? – Kim-Lan wird einmal Spielfilme drehen. Ihr Mann jedoch bleibt als Flieger am Himmel, den Amerikanern zum Fraß: Wer hat die besten Kanonen? Stets, wenn ein Flugzeug über den Moskauer Himmel pfeift, senkt Kim-Lan ihre unendlichen Haare – sie denkt an ihn, an den Krieg: „Die Ausländer können uns mal!“ – eine leise Unruhe ist dann auf ihrer leicht faltigen Stirne zu lesen, und sie kann darin sogar ein wenig erstarren.

      Zwei Jahre ist sie nicht zu Hause gewesen – „Ob es noch geht?“ – und sie hanoit lautlos über die Flure. „Kim-Lan!“ – Wie aus Scham biegt sie den Hals. Sehr schön war sie sicher einmal gewesen – und ist es immer noch heute. Das wenige, welches sie spricht, was sie überträgt aus den sechsgestrichenen Ton-Leitern ihrer eigenen Sprache, will sie nicht sprechen, singt sie, möchte nicht singen, bleibt hängen in ihrem Hals. Eine dunkle Ader läuft dort ihr

      darüber, und kleinschrittig huscht Kim-Lan hinaus aus dem Saal: Sie kann keine Kriegsfilme mehr sehen und ist zur Toilette geeilt. Dorthin verfolgen sie die infernalen Sirenen im Sinn. „Du bist traurig, Kim-Lan?“

      „No.“ – Sie ergreift die Finger von Martin, beißt sich in sie, so dass er aufschreit, und seine Stimme fast die Höhe der ihren erklimmt. „Glücklich du bist, Martine?“, haucht sie, gibt sie nicht los und schiebt ihre Hand in den Ärmel.

      „Ich … weißt du … Wie gefiel dir der Film?“, fragt er unpassend ungeschickt nicht am Platze und fühlt sich in den oberen Wolken, verblüfft.

      Ihre Ader schlafft ab, entleert sich, und sie schaut ihn gleichgültig-achtlos nur von der Seite.

      „Du