Anouk Bindels

Die Weisheit des Traumas


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beschäftigt, eine angemessene Reaktion auf die Gefahr zu organisieren. Die fünf Sinne verschaffen ihm dabei die nötigen Informationen. Die Augen sehen, die Ohren hören, die Nase riecht, der Mund schmeckt, die Haut fühlt.

      Diese Informationen gelangen über den Thalamus in das limbische System. Der Thalamus vermischt sie und gibt die Wahrnehmungen in zwei Richtungen weiter: an die Amygdala (die Alarmzentrale) tief im limbischen Gehirn und an den Stirnlappen. Der Weg zur Amygdala ist der schnellere, der Weg zum Stirnlappen dauert etwas länger.

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      Es geht dabei lediglich um einen Unterschied von Millisekunden, dennoch ist die Amygdala das erste Warnsystem. Ihre primäre Funktion besteht darin, festzustellen, ob eine Information Gefahr bedeutet oder nicht. Werden wir diese Situation überleben oder nicht? Nimmt die Amygdala eine drohende Gefahr wahr, sendet sie sofort ein Signal an den Hypothalamus und den Hirnstamm.

      Das Stresshormonsystem und das autonome Nervensystem werden aufgefordert, körperliche Reaktionen in Gang zu setzen. Da die Amygdala die Informationen schneller verarbeitet als die Stirnlappen, trifft sie eine Entscheidung, bevor uns bewusst wird, was tatsächlich vorgeht. Es kann sogar sein, dass der Körper schon voll in Aktion ist, bevor wir richtig verstehen, was los ist. Die Signale der Amygdala sorgen für einen erhöhten Ausstoß der starken Stresshormone Cortisol und Adrenalin. Diese beeinflussen die Geschwindigkeit von Atmung und Herzschlag ebenso wie den Blutdruck. Dies geschieht zur Vorbereitung des Körpers auf Kampf oder Flucht.

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      Wenn sich zeigt, dass doch keine Gefahr besteht oder die Gefahr vorüber ist, kehrt der Körper schnell in seinen normalen Zustand zurück. Ist das nicht der Fall, arbeitet er in diesem Modus Operandi weiter, was sehr ermüdend und energieaufwendig ist. Letzten Endes kann der Körper dadurch ausbrennen. Das nennen wir dann Burnout.

      Traumatische Ereignisse können unsere Fähigkeit, Gefahr und Sicherheit richtig einzuschätzen, schwer stören. Es kommt gewissermaßen zu einem Defekt im Überwachungssystem. Der Alarm schaltet sich zum falschen Zeitpunkt ein, meist viel zu früh. Das kann zu heiklen Situationen führen. So werden beispielsweise harmlose Ereignisse mächtig aufgeblasen, Scherze oder bestimmte Gesichtsausdrücke völlig falsch interpretiert, worauf Wutausbrüche und Weinkrämpfe folgen können. All das kann zu Isolation und Entfremdung führen. Stresshormone schaffen negative Emotionen, darunter Scham, Machtlosigkeit, Wut, Frustration, Unsicherheit, Schmerz, Hass, Trauer, Leid, Depression, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit.

      Traumatische Erinnerungen werden anders gebildet und gespeichert als alltägliche Erinnerungen. Was geschieht eigentlich, wenn wir ein Trauma erleben und das Gehirn es nicht verarbeiten kann?

      Einfach ausgedrückt, kann der Thalamus nicht alle Informationen annehmen und das Gehirn speichert nur einen Teil dessen, was geschehen ist. Traumatisierte Menschen erinnern sich meist nicht an das vollständige Erlebnis, sondern nur an spezifische Bilder, Geräusche und körperliche Empfindungen ohne Kontext. Bestimmte Gefühle wirken, durch die Funktion des impliziten Erinnerungssystems im Gehirn, als Trigger aus der Vergangenheit. Schließlich ist das Gehirn so verdrahtet, dass es anzeigt, was sicher und was gefährlich ist. In meinem impliziten Erinnerungssystem war die Verdrahtung auf Angst, Gefahr und Unsicherheit ausgerichtet.

      Dieser Mechanismus kann zur Folge haben, dass ein bestimmter traumatischer Zwischenfall möglicherweise nicht als Geschichte, sondern als Sinneseindruck gespeichert wurde. Das kann ein bestimmter Geruch sein, ein Bild, ein Geräusch oder eine Berührung. Diese können alle plötzlich auftauchen und mit einem Schlag, vollkommen unerwartet und direkt den emotionalen Zustand aufrufen, der zu dem damit assoziierten traumatischen Vorfall gehört. Die so hervorgerufene Angst oder Unsicherheit liegt auf einer viel tieferen biologischen Ebene. So bringt der Geruch nach Krankenhaus – unser Riechorgan ist die kürzeste Verbindung zwischen dem Gehirn und der externen Welt – mich unmittelbar zurück zu meinem langwierigen Krankenhausaufenthalt als Baby.

      Was bedeutet die Erkenntnis, dass eine traumatische Erinnerung ohne Zusammenhang codiert ist, für den Heilungsprozess? Wichtig ist hierbei, dass es bei posttraumatischem Stress nicht um die Vergangenheit geht, sondern vielmehr um einen Körper, der sich verhält und organisiert, als ob diese Erfahrung jetzt geschähe. Wenn ich mit Menschen arbeite, die traumatisiert sind, ist es für mich von entscheidender Bedeutung, dass sie lernen, wie ihr Körper heute reagiert. Die Vergangenheit ist nur so weit relevant, wie sie die heutigen Empfindungen, Gefühle, Emotionen und Gedanken hervorruft. In der Schilderung der Vergangenheit wollen wir einfach loswerden, wie schlimm das Trauma war, oder erklären, warum wir bestimmte Verhaltensweisen zeigen. Das wahre Problem besteht darin, dass das Trauma uns verändert hat: Wir fühlen uns dadurch anders und erleben bestimmte Gefühle anders. Bei meiner Arbeit erforsche ich zusammen mit den Klienten, wie das Trauma bei ihnen gelagert ist.

      Ich erinnere mich an einen besonderen Zwischenfall bei einem Aufenthalt in den Tropen, als ich 19 Jahre alt war. Wir wurden vor großen schwarzen Skorpionen gewarnt, die nachts gern in Blusenärmel oder Hosenbeine kriechen. Eine ängstlich programmierte Person wie ich hörte diese Information besonders deutlich. Wir saßen gemütlich auf dem Balkon, mir wurde kühl und ich ging im Dunkeln in unsere Hütte, um meinen Pullover anzuziehen. Erst schob ich den linken Arm in den Ärmel, dann folgte der rechte Arm und als ich den Pullover über den Kopf ziehen wollte, fühlte ich etwas Weiches. Einen Sekundenbruchteil später schrie ich laut auf. Ein Skorpion!! Ich schrie und schrie und konnte meinen Pullover nicht mehr ausziehen. In Panik sprang ich hin und her und versuchte so, meine Arme aus den Ärmeln zu befreien.

      Meine Reisebegleiterin kam herein, schaltete das Licht ein und half mir aus dem Pullover. Dabei kam ein schwarzes Frotteehaarband zum Vorschein, das am Tag zuvor offensichtlich in dem Ärmel stecken geblieben war. Kein Skorpion war zu finden. Mein Körper hatte allerdings sofort reagiert, mit erhöhter Atemfrequenz und schnellerem Puls. Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich zitterte am ganzen Körper und hatte Schweißausbrüche. Klar denken war mir nicht möglich. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, ich blieb ängstlich und nervös. Erst am nächsten Tag flaute das Ganze ab. Meine Reisegefährtin gab mir die Rückmeldung, dass ich doch sehr übertrieben reagiert hätte. Sie fragte mich, ob ich da nicht etwas unternehmen müsste.

      Im Rückblick auf diesen Vorfall weiß ich jetzt, dass wir nicht nur unbewusst reagieren, sondern auch, dass wir allein durch unser Denken eine Stressreaktion auslösen können. Der Gedanke an den möglicherweise vorhandenen Skorpion setzte meine Reaktion in Gang. Was danach geschah, hatte ich nicht mehr unter Kontrolle, ebenso wenig die Dauer der Stressreaktion. Wenn man den schlimmstmöglichen Fall antizipiert oder eine vergleichbare und daher einigermaßen vorhersagbare Erfahrung im Leben gemacht hat, an die man sofort zurückdenkt, übernimmt der Körper die Regie. In meinem Fall mit dem Skorpion war ich wieder einmal nicht in der Lage gewesen, meine Emotionen zu zügeln.

      Übertragen auf die Arbeitsweise des Gehirns bedeutet dies: Die Amygdala funktionierte als Alarmsystem und der Stirnlappen als Kamera. Die Kamera überwachte die Situation und warf die rationale Frage auf, ob wirklich ein giftiger Skorpion in meinem Ärmel steckte und ich Gefahr lief, gebissen zu werden. Die Amygdala fragte sich das leider nicht. Bevor der Stirnlappen aber auch nur die Chance hatte, die Situation richtig zu beurteilen und einen Entschluss zu fassen, war mein Körper schon in höchster Alarmbereitschaft. Das ist das Unterbewusstsein in Aktion. Als ich im Nachhinein, auch dank der Hilfe meiner Freundin, keine Angst mehr spürte und erkannte, dass es sich um falschen Alarm gehandelt hatte, half der Stirnlappen, die Homöostase wieder herzustellen, und ich beruhigte mich nach und nach. Das ist ein Beispiel für das Unterbewusstsein in Aktion.

      Wenn das Alarmsystem defekt ist, durch einen schwerwiegenden Verlust oder ein überwältigendes Erlebnis wie Vergewaltigung, Misshandlung, Vernachlässigung, einen schweren Unfall, Krieg, Krankheiten oder Verletzungen, dann sind wir unserem Reptiliengehirn und unserem limbischen Gehirn ausgeliefert. In dem Augenblick, in dem wir glauben, auch nur ein Anzeichen von Gefahr wahrzunehmen, wenn wir bestimmte Empfindungen spüren oder einen missbilligenden Gesichtsausdruck zu sehen