Anouk Bindels

Die Weisheit des Traumas


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mit, sondern ging einfach nicht mehr hin. Mein Hausarzt nannte mich naiv. Übrigens hat mich weder einer der Spezialisten noch eine Krankenhausabteilung je danach angerufen oder Fragen gestellt. Dieser bewusste Augenblick im Februar 2011, am Boden, betend und um Hilfe flehend, gab mir die Kraft, neue Entscheidungen zu treffen. Ich begann meine Suche nach einer eigenen Wohnung und nach alternativen Behandlungsmethoden.

      Zwei Monate, nachdem ich für mich beschlossen hatte, dass es so nicht weitergehen konnte und sich etwas ändern musste, ging ich auf Einladung einer Freundin und Kollegin zu einem Vortrag von Joe Dispenza. Seine Herangehensweise an Heilung sprach mein Psychologengehirn direkt an, vor allem, weil er theoretisches Wissen (das Warum) mit einem praktischen Ansatz (das Was und das Wie) kombinierte. Meine Neugier wurde vor allem durch seine Aussage geweckt, dass wir uns in einer Zeit von Schmerz und Leid verändern können, aber auch in Zeiten von Inspiration und Freude. In unserem Leben gehe es um Veränderung, erklärte er, und um in unserem privaten und beruflichen Leben zu überleben und aufzublühen, müssten wir uns immer wieder an neue Situationen anpassen.

      Das war leichter gesagt als getan. Weil ich mich von dieser positiven, praktischen Vision sehr angezogen fühlte, begann ich sofort eine intensive Selbsterforschung. Außerdem suchte ich nach weiteren Quellen für diesen Ansatz. In dieser Zeit hatte ich ständig Schmerzen und steckte in meinem Leid fest, war gefangen in meinem Trauma. Ich war am Ende und sah keinen Ausweg. Wenn ich mit jemandem darüber sprach – sei es mit Laien oder Fachleuten – bekam ich meist die Bestätigung, dass mein Leiden eine normale Reaktion auf all das wäre, was ich erlebt hatte.

      Joe Dispenza sagte etwas anderes. An diesem ersten Abend nahm ich von seinem Vortrag mit, dass sich meine Persönlichkeit aus dem zusammensetzt, wie ich denke, wie ich handle und wie ich fühle, und dass ich dadurch meine persönliche Wirklichkeit erschaffe … Was hatte ich also durch meine Art zu denken, zu handeln und zu fühlen damals selbst geschaffen? Wie hatte ich das in meinem Körper emotional konditioniert und welche Programme ließ ich daher ablaufen? Wer ich heute bin, ist das Ergebnis meines früheren und heutigen Denkens, Handelns und Fühlens.

      Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass zu den Veränderungen meiner persönlichen Realität auch Veränderungen im Herzen und im Gehirn gehörten und dass diese beiden Organe großen Einfluss auf meinen Körper hatten. Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass die Auswirkungen des selbst gewählten Todes meines Mannes sich mit einem Trauma aus meiner Jugend verbunden hatten. ›Sekundäre Traumatisierung‹ nennt man das in Fachkreisen.

      Im Juni 2011 beendete ich meine negative Beziehung endgültig, fand eine Wohnung für mich und meine Kinder und ging meinen eigenen Weg. Im Rückblick kann ich sagen, dass damals mein Herz-Gehirn-Heilungsprozess begann.

      2. Überleben und das Gehirn

       Inzwischen bin ich nicht mehr im Trauma gefangen

       und stecke nicht mehr im Überlebensmodus fest.

      

       Die schmerzhafteren Verluste in meinem Leben sind zur wertvollen Etappe eines besonderen Weges geworden.

       Sie haben mich gelehrt, den Sinn meines Lebens zu finden und meine Traumata, meinen Schmerz,

       meine Wunden zu heilen.

      

       Für mich ist das die Bestätigung dafür, dass emotionaler Schmerz eine wichtige Informationsquelle ist,

       mit der wir aufgeklärter und menschlicher umgehen

       können, als die meisten von uns bisher gelernt haben.

      

       Um dies in der Praxis umzusetzen, muss zuerst

       das Unbewusste bewusst werden. Wenn wir in den ersten Lebensjahren unangenehme Dinge erlebt haben,

       ist das schwieriger.

      

       Inzwischen bin ich davon überzeugt,

       dass auch frühkindliche Traumatisierung

       im Hier und Jetzt geheilt werden kann.

      Als acht Monate altes Baby lag ich mit einer Typhusinfektion todkrank im Krankenhaus. Fünf Monate war ich dort isoliert. Was geschieht in dieser Situation mit einem so kleinen Kind? Diese Frage habe ich mir erst 2011 gestellt.

      Was geschieht mit dir, als Kind von acht Monaten, wenn deine Eltern dich nur hinter Glas sehen, dich nicht berühren dürfen? Wenn du ganz allein medizinische Eingriffe über dich ergehen lassen musst? Wenn du nur von medizinischem Personal berührt wirst?

      Vor über 50 Jahren war diese Praxis noch völlig normal. Niemand beachtete damals die Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung eines Kindes. Die Entwicklungspsychologie steckte noch in den Kinderschuhen. Es fehlte an der Erkenntnis, dass für die Entwicklung eines Kindes das Erleben von Vertrauen und Sicherheit im ersten Lebensjahr entscheidend ist. Von psychischem Trauma war keine Rede, schon gar nicht von einer (chronischen) Stressreaktion.

      Die Ärzte sagten meiner Mutter, dass ich mich später an nichts mehr erinnern würde! Babys denken schließlich nicht nach und haben keine bewusste Erinnerung an Schmerzen. Das wurde damals zwar behauptet, aber heute wissen wir, dass durch frühe Erfahrungen wie diese das Nervensystem anders ausgerichtet wird. Das Baby, das ich vorher war, existierte nach diesem Krankenhausaufenthalt nicht mehr. Alle Erfahrungen und Erinnerungen an diesen Zeitraum sind allerdings erhalten geblieben: in meinem limbischen Gehirn – dem wortlosen Teil –, in meinem Herzen und in meinem Körper.

      Trotz der Erkenntnisse, die ich im Lauf meines Lebens über mein erstes Lebensjahr gewann, merkte ich nach dem Verlust meines zweiten Mannes, dass mein rationales Gehirn nicht in der Lage war, meine Emotionen und meine chaotischen Gedanken anzuhalten. Die Essenz dessen, was mit mir los war, konnte ich nicht in Worte fassen. Es schien, als ob ich in einer Wirklichkeit lebte, die nicht zum tatsächlichen, alltäglichen Leben passte. Ich entfremdete mich von mir und meiner Umgebung. Es schien, als ob ich ›irgendwo‹ feststeckte und nicht wusste, wie ich ›dort‹ wieder wegkonnte. Dieser Zustand verzehrte viel Energie und das ging auf Kosten meines täglichen Lebens.

      Im Nachhinein weiß ich, dass das Alarmsystem, das ich in meinem ersten Lebensjahr angelegt hatte, weiterhin scharfgeschaltet war und ich es nicht einfach ausschalten konnte. Es gelang mir nicht, mich in Sicherheit zu bringen. Die Situation war vor langer Zeit entstanden. Das Unterbewusste wurde jetzt bewusst.

      Die wichtigste Aufgabe des Gehirns besteht darin, für unser Überleben zu sorgen. Unser Gehirn besteht aus einem komplexen Netzwerk miteinander verbundener Teile, die uns helfen zu überleben und zu wachsen. Sie sind so programmiert, dass sie hervorragend zusammenarbeiten. Traumatischer Stress kann jeden dieser Teile beeinflussen und dazu führen, dass Emotionen das rational denkende Gehirn vollkommen übernehmen. Wir können dann zwar rufen: »Jetzt sei doch mal normal!«, aber das funktioniert nicht. Im Gegenteil, das Alarmsystem schaltet dann eher noch einen Gang höher. Das ist vergleichbar mit einem Autofahrer, der seinen Sicherheitsgurt nicht angelegt hat und trotz ohrenbetäubendem Warnsignal einfach weiterfährt, ohne sich anzuschnallen.

      Es gibt drei Arten von Stress, die den Körper aus dem Gleichgewicht bringen können.

      1 Körperlicher Stress: Unfälle, Verletzungen, Zerrungen, Stürze, Knochenbrüche, Erschöpfung, Schusswunden, Vergewaltigung, Misshandlung

      2 Chemischer Stress: Verschmutzung, Viren und Bakterien, Gifte, Pestizide, Schwermetalle, Schadstoffe wie Asbest, Aspartam oder Hormone in der Nahrung

      3 Emotionaler Stress: Verlust von Angehörigen, Gesundheit oder Arbeitsplatz, häusliche Gewalt, schlechte Beziehungen, kranke Kinder, Familientragödien, Vergewaltigung