Anouk Bindels

Die Weisheit des Traumas


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Evolution hat uns Menschen ein besonderes Geschenk gemacht: ein Alarmsystem, das automatisch darauf programmiert ist, zu kämpfen, zu flüchten oder zu erstarren.

      Die Nerven und chemischen Botenstoffe des Gehirns stehen in direkter Verbindung mit dem Körper. Um zu verstehen, wie das funktioniert, muss man wissen, dass das Gehirn aus drei Teilen besteht, die als großes Ganzes zusammenarbeiten. Man könnte sagen, das Gehirn funktioniert wie ein Orchester. Wir haben nicht drei separate, unabhängige Kontrollzentren (Neocortex, limbisches System, Kleinhirn), sondern ein fest miteinander verbundenes, voneinander abhängiges System.

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      Das primitive Gehirn (auch Reptiliengehirn oder Kleinhirn genannt) ist im evolutionären Sinn der älteste Teil. Es entwickelt sich im fötalen Stadium und ist schon bei der Geburt aktiv. Angesiedelt ist es im Hirnstamm, dicht über der Stelle, wo das Rückgrat beginnt und mit dem Schädel verbunden ist. Es versetzt das Baby in die Lage zu atmen, zu weinen, zu essen, zu schlafen und aufzuwachen, Kälte und Wärme wahrzunehmen, zu verdauen und auszuscheiden.

      Dicht über dem Reptiliengehirn liegt der Hypothalamus. Beide zusammen nennt man das Kleinhirn und sie regeln das Energieniveau im Körper. Die Funktion von Herz und Lungen, das Hormonsystem und das Immunsystem werden durch diese Zusammenarbeit koordiniert. Gemeinsam sorgen sie für das Gleichgewicht in unserem Körper. Der medizinische Fachbegriff dafür heißt Homöostase. Alles, was von außen oder innen dieses Gleichgewicht stört, beeinflusst damit direkt dieses System.

      Viele psychische Probleme sind mit körperlichen Beschwerden verbunden, die mit Schlafen, Essen und Berühren zusammenhängen. Dazu gehören zum Beispiel ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus, Schlaflosigkeit oder übermäßiger Schlaf, eine zu träge oder zu schnelle Verdauung, ein unveränderliches Hunger- oder Sättigungsgefühl, die Abwehr von körperlicher Berührung oder ein fehlendes Empfinden für Intimität oder Zärtlichkeit.

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      Das limbische Gehirn liegt direkt über dem Reptiliengehirn. Diesen Teil nennt man das Säugetiergehirn. Alle Wesen auf der Erde, die ihre Jungen säugen und versorgen und in Gruppen leben, haben dieses Gehirn.

      Die Entwicklung des limbischen Gehirns beginnt bei der Geburt und setzt sich bis zum sechsten Lebensjahr fort. Danach entwickelt es sich auf eine Art und Weise, die wir ›gebrauchsabhängig‹ nennen können. Dieses Gehirn ist der Sitz der Emotionen und des Messinstruments, das Gefahren wahrnimmt, Erfahrungen als angenehm oder unangenehm einordnet und bestimmt, ob wir ängstlich oder nervös werden. Auch, wie wir mit unserer Umgebung umgehen, mit wichtigen Bezugspersonen und dem, was für unser Überleben wichtig ist, wird hier festgelegt.

      Das limbische System bildet einen Teil der Persönlichkeit. Es wird auf der Basis von genetischer Veranlagung geformt, aber auch in Reaktion auf unsere Erlebnisse. Unsere Erfahrungen als Fötus, Baby und Kleinkind schaffen gemeinsam die Basis für unsere Wahrnehmung der Welt.

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      Wie funktioniert dieses limbische Gehirn? Bessel van der Kolk beschreibt in seinem Buch Verkörperter Schrecken: Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann2, dass Neuronen (Nervenzellen), die gemeinsam feuern, sich miteinander zu neuronalen Netzwerken verbinden. So entsteht ein Schaltkreis, ein Muster von Leitungen. Wenn dieser Kreislauf wiederholt aktiviert wird, wächst ein emotionales Reaktionsmuster, das zu unserer ›Standardeinstellung‹ wird. Es ist die Verdrahtung für unser Leben.

      Seit meinem Krankenhausaufenthalt als Baby war meine Standardeinstellung Angst und Unsicherheit, und das machte aus mir später ein unsicheres, ängstliches Kind.

      Um es konkreter auszudrücken: Wenn wir uns geliebt und sicher fühlen, entstehen neuronale Schaltkreise, die uns genau das empfinden lassen, und so entwickeln wir Neugier und Lerneifer. Fühlen wir uns dagegen ängstlich und allein, bilden sich Schaltkreise und Netzwerke, die uns ständig Gefühle von Angst und Einsamkeit verschaffen. Als Baby und Kleinkind lernen wir von der Welt um uns herum: Wir ahmen sie nach. Hier bilden sich die limbischen Strukturen heraus, die mit Emotionen und Gedächtnis zu tun haben. Diese Strukturen verändern sich während des ganzen Lebens infolge von – guten oder schlechten – einschneidenden Erlebnissen und Erfahrungen.

      Unser emotionales Gehirn, das limbische System, liegt im Herzen des Nervensystems und hat die wichtige Aufgabe, für unser Wohlbefinden zu sorgen. Wenn Gefahr droht, aber auch, wenn vielleicht die Liebe unseres Lebens vor uns steht, bilden wir in Bruchteilen von Sekunden Hormone. Diese Substanzen bringen uns dazu, wegzulaufen, anzugreifen oder zu erstarren, oder – im Fall der großen Liebe – sexuelle Erregung zu empfinden und dem anderen ganz nah sein zu wollen. Bis vor Kurzem wusste man nicht, dass diese Stoffe höchst süchtig machen können.

      Wie bereits erwähnt, merkt sich der Körper alles, die negativen wie auch die positiven Erfahrungen. Die dabei entstehenden Hormone lösen innere Empfindungen aus und sorgen dafür, dass unsere Aufmerksamkeit sofort zur betreffenden Stelle gelenkt wird. Es gibt kein Entkommen. Körperlich und geistig können wir also von einem Augenblick zum anderen in eine komplett andere Richtung geschickt werden und völlig falsche oder auch wunderbar gute Entscheidungen treffen.

      Das emotionale Gehirn zieht leider oft übereilte Schlüsse. Das liegt daran, dass die ankommenden Informationen undifferenziert beurteilt werden: Das vorprogrammierte Netzwerk aus Fliehen, Kämpfen oder Erstarren ist der einzige Weg aus der Situation. Diese automatischen, unbewusste Reaktionen unseres Körpers werden ohne Überlegung oder Planung aktiviert. Das limbische Gehirn arbeitet schneller als das rationale, kognitive Gehirn – der Neocortex –, der jüngste Teil in der Evolution des Menschen.

01_A-AB-Illustraties_Neocortex

      Der Neocortex ist unser ›Office Manager‹ und vor allem mit unserer Umwelt beschäftigt. Er will verstehen, wie die Dinge funktionieren, legt die Reihenfolge unserer Handlungen fest, weiß, wo wir hinmüssen und wie wir dorthin kommen.

      Dieser Teil ist darauf programmiert, komplexe Handlungen auszuführen und zu beurteilen. Von unserem zweiten Lebensjahr an entwickeln sich die Stirnlappen, der präfrontale Cortex, die den größten Teil des Neocortex ausmachen. Erst nach dem 26. Lebensjahr sind sie voll entwickelt. Diese Stirnlappen unterscheiden uns vom Tierreich. Sie ermöglichen es uns, abstrakt zu denken, Sprache und Symbole zu verwenden, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und zu deuten, aber auch, Zusammenhänge herzustellen – dies macht unser Leben als Mensch so einzigartig. Neurowissenschaftler sprechen vom ›Sitz der Seele‹, oder auch vom ›Regisseur unseres Lebens‹. Die Stirnlappen versetzen uns in die Lage, uns ein Bild von der Zukunft zu machen, von dem aus wir die Wirklichkeit lenken und beeinflussen können. Sie sorgen für einen Überblick über unser Denken, Tun und Fühlen und dafür, dass wir uns ihrer bewusst sind und sie reflektieren können. Hier sitzen der Ursprung der Kreativität und auch die Empathiefähigkeit.

      In den Stirnlappen befinden sich die Zellen, die unsere Spiegelneuronen bilden. Ein Spiegelneuron ist eine Nervenzelle, die das Verhalten, den Gemütszustand und die Absichten anderer Menschen wahrnimmt, speichert und bei Bedarf wiedergibt oder imitiert. Gut funktionierende Stirnlappen sind daher entscheidend, wenn wir intime und harmonische Beziehungen führen wollen.

14_A_AB-Illustraties_Brein-Prefrontale cortex

      Bei einer traumatischen Erfahrung wird der Stirnlappen, der präfrontale Cortex, als Reaktion auf eine Gefahr ausgeschaltet. Dadurch verliert er die Fähigkeit, relevante Informationen von irrelevanten zu unterscheiden. Je stärker das emotionale