Anouk Bindels

Die Weisheit des Traumas


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schließlich sowohl mein persönliches Leben als auch meine Arbeit als Psychologin, Systemtherapeutin, Coach und Trainerin veränderte.

      Als einen der Kernpunkte, die ich bei meiner Forschung nach den Wechselwirkungen zwischen Herz und Gehirn entdeckte, erkannte ich, dass das emotionale Gehirn – aus dem unsere Instinkte und emotionalen Reaktionen kommen – direkt vom Herzen beeinflusst wird.

      Das Heartmath Institute in den USA geht, basierend auf der Gehirnforschung, davon aus, dass ein kohärenter Herzrhythmus in der Lage ist, das emotionale Gehirn zur Ruhe zu bringen: »Wenn unser Herz auf gesunde Weise schlägt, können wir Stress, Ängste, Depression und andere emotionale oder mentale Krankheiten heilen. Das gilt sogar für körperliche Krankheiten.«1 Dies bedeutet, dass Körper und Gehirn sich neu konditionieren lassen, da das Gehirn offenbar die Fähigkeit hat, neue Verbindungen zwischen den Gehirnzellen (Neuronen) herzustellen und sich daher ständig zu reorganisieren. Jeden Tag sterben Millionen von Neuronen ab, während ständig neue Gehirnzellen entstehen. Diesen Prozess nennt man Neuroplastizität.

      Das Wort Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet ›Wunde‹. Eine Wunde entsteht dadurch, dass etwas von außen nach innen dringt und im Inneren etwas zerstört. Bei körperlichen Verletzungen äußert sich das im Bluten des Körpers, in der Beschädigung von Haut oder Organen und in körperlichen Schmerzen. Wir sprechen dann von einem physischen Trauma. Dem entsprechend sorgt eine starke traumatische Erfahrung für emotionalen Stress, der eine tiefe emotionale Wunde verursacht, die Denken, Verhalten und Fühlen angreift. Dieser emotionale Schaden kann körperlich krank machen. Wir sprechen dann von einem emotionalen Trauma.

      Untersuchungen zeigen, dass in den ersten Monaten nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen, eines Kindes oder nach einem anderen schwerwiegenden Ereignis das Risiko eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls um gut 50 % zunimmt. Menschen können tatsächlich an ›gebrochenem Herzen‹ sterben. Im ersten Jahr nach dem Verlust ist die Wahrscheinlichkeit zu versterben sogar sechsmal so hoch. Ein Verlust scheint die Widerstandsfähigkeit des Körpers in allen Bereichen zu schwächen. Dadurch nimmt die Wahrscheinlichkeit für Krankheiten zu, sei es eine einfache Erkältung oder gar eine Krebserkrankung.

      Eine langfristige Belastung durch emotionalen Stress greift das Immunsystem an und stört das Wohlbefinden. Herz und Gehirn werden toxisch und inkohärent, was zu psychischen Krankheiten wie Depressionen, Burnout, Angst- und Panikstörungen oder Psychosen führen kann. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass es möglich ist, übermäßigen emotionalem Schmerz und Traumastress zu heilen und dass sich die Mühe lohnt.

      Hier einige Fragen für dich aus meinem Herz-Gehirn-Heilungsprozess:

       Wie wäre es für dich, wenn du nach einem schweren Trauma und Verlust wieder Liebe, Sinn und Freude in deinem Alltag erleben könntest?

       Wenn du wieder Vitalität, Gesundheit und Resilienz spüren könntest und dein Verhalten, deine Gedanken und Gefühle positiv wären?

       Wie wäre es für dich, wenn du wüsstest, wie du dein Leben wieder in die Hand nehmen kannst, weil du selbst am Steuer deines emotionalen, mentalen und physischen Selbst stehst?

      Erkenne, dass du ein spirituelles Wesen in einem Körper bist: Du bist keine zufällige Ansammlung von Fleisch und Knochen. Dein Leben hat eine Bedeutung. Herz und Gehirn mögen ein Leben in Liebe, Balance und Harmonie, in Verbindung mit anderen Menschen.

      Die Stressreaktion – Kampf, Flucht oder Erstarren –, die auf ein unangenehmes, schmerzhaftes Erlebnis folgt, ist der naturgegebene Versuch des Körpers, zurück ins Gleichgewicht zu finden. Diese Überlebensmechanismen sind, auf kurze Zeit ausgelegt, äußerst effektiv und halfen unseren frühen Vorfahren zu überleben. Wenn wir die Stressreaktion allerdings nicht mehr ausschalten können, wird es gefährlich und wir steuern auf einen chemischen, hormonellen, emotionalen und physischen Zusammenbruch zu, in dessen Folge Krankheiten entstehen. Wenn wir lange im Stress leben, wird dies oft zu unserer ›normalen‹ Lebensart. Wir haben uns daran gewöhnt und das Überleben im Schmerz ist zu unserer alltäglichen Wirklichkeit geworden.

      Während ich mit den Auswirkungen von Trauma und emotionalem Stress rang, entdeckte ich, dass die Heilung von emotionalem Schmerz kein linearer Prozess ist. Er verläuft nicht in einer logischen Reihenfolge von Schritt 1 bis Schritt 5, sondern ist gemeinsame Angelegenheit von Herz, Gehirn und Körper. Dabei spielt das körperliche Herz bei der Verarbeitung von Emotionen eine größere Rolle, als wir bisher angenommen haben.

      Das Herz besitzt ein eigenes neuronales Netzwerk und seine eigene Intelligenz. Es steht direkt mit unserem Gehirn und dem Rest unseres Körpers in Verbindung. Mitunter wird das Herz auch ›das kleine Gehirn‹ genannt. 1991 entdeckte die Medizinische Biologie, dass wir etwa 40.000 Gehirnzellen (Dr. Andrew Amour, Montreal 1991), sensorische Neuronen, im Herzen haben. Was bedeutet das? Diese Neuronen arbeiten ähnlich den Nervenzellen im Gehirn und sind dafür verantwortlich, äußere Reize in interne elektrische Impulse umzuwandeln. Die Forscher schrieben über das Vorhandensein eines ›kleinen Gehirns‹ im Herzen, das in enger Verbindung mit dem Gehirn in unserem Kopf steht. Die beiden Organe schicken Signale hin und her. Sie denken, fühlen und erinnern unabhängig voneinander, stehen aber miteinander in Verbindung. Emotionen werden im Herzen gefühlt und im Körper und im Gehirn interpretiert. Dies ist von großer Bedeutung für die Heilung eines emotionalen Traumas.

      Während meines Studiums und durch meine Arbeit als Psychologin und Beziehungs- und Familientherapeutin (Systemtherapeutin) hatte ich theoretisches Wissen über psychische Vorgänge nach Trauma und Verlust erworben. Im Gedankengut der modernen Psychologie und Psychiatrie fand ich allerdings zu wenig therapeutische Optionen, selbstregulierende oder kreative Behandlungsformen. Mir fehlten Empathie und ein grundlegendes Verständnis der Auswirkungen von überwältigenden Verlusterfahrungen auf Gesundheit und Wohlbefinden.

      Was sollte ich mit all dem psychologischen Wissen anfangen, als mein eigenes Herz durch den Schmerz eines schweren Verlustes, dem Suizid meines Mannes, explodierte? Durch einen Schmerz, der bis in die Tiefen meiner DNA vordrang und der mein Herz, mein Gehirn und auch meinen Körper ernsthaft verletzte?

      Um nach vorne gerichtet leben und die Verletzungen in meinem Herz, meinem Gehirn und meinen Körper heilen zu können, erwiesen sich mein psychologisches Wissen und meine Erfahrungen als Therapeutin als unzureichend. Ich machte mich auf die Suche nach einem positiven Ansatz für die Heilung von Trauma und Verlust. Das scheint vielen Kollegen in meinem Fachgebiet ein Widerspruch in sich zu sein, da sie sich kaum vorstellen können, wie positive Psychologie mit den unangenehmen Folgen eines emotionalen und psychischen Traumas umgehen soll. Meine Antwort lautet, dass die Heilung von Traumata und emotionalem Stress geradezu danach verlangt, gezielt die andere Seite der menschlichen Existenz zu betrachten: Liebe, Wohlbefinden, Durchhaltevermögen, Selbstheilung und Resilienz.

      Aus dieser verbindenden Perspektive heraus versuche ich, in diesem Buch eine Antwort auf Fragen zu geben wie:

       Wie überwinden Menschen stressbeladene Lebensereignisse?

       Wie verändert Trauma die Persönlichkeit?

       Wie geben traumatisierte Menschen ihrem Leben einen neuen Sinn?

       Was hilft ihnen bei der Transformation zu einem neuen Selbst?

       Wie konditionieren wir den verletzten Körper und Geist neu?

      Wenn wir die Spuren von Trauma und Verlusterfahrungen und dadurch auch den emotionalen Schmerz und Stress heilen wollen, sind in meiner Herangehensweise vier Bereiche von Bedeutung. Sie ziehen sich als roter Faden durch dieses Buch und ich stelle sie hier kurz vor.

       Der erste Bereich: die Kraft der eigenen inneren Psychologie kennenlernen

      Sich selbst zu beobachten wird in den Neurowissenschaften ›Metakognition‹ genannt. Der Ausgangspunkt dafür ist, dass du wahrnehmen kannst, was du denkst und fühlst und wie du handelst. Diese innere Architektur von Denken, Handeln und Fühlen ist bei jedem von uns einzigartig, auch wenn du in derselben Familie, im selben Land, in derselben Gesellschaftsschicht oder Kultur