Anouk Bindels

Die Weisheit des Traumas


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die Behandlungsleitlinie für dieses Krankheitsbild.

      Kurze Zeit später ergreift ein unangenehmes Bakterium Besitz von meinem Körper und ich muss über einen langen Zeitraum erneut intravenös behandelt werden, diesmal mit Antibiotika. Als ich nach mehreren Wochen das Krankenhaus verlasse, ist das Gefühl in eins meiner Beine zurückgekehrt, in das andere noch nicht ganz. Ohne Krücken kann ich mich nicht fortbewegen. Ich fühle mich in jeder Hinsicht wie ein Wrack – emotional, geistig und körperlich.

      Über ein Jahr werde ich mit Corticosteroiden und Antibiotika behandelt. An mehreren Stellen in meinem Beckenboden habe ich kein Gefühl mehr und kann daher den Urin nicht gut einhalten. Ich bin nicht in der Lage zu arbeiten, da ich keine Energie dazu habe. Das Konzentrieren fällt mir schwer, vergesse bestimmte Dinge ständig – ich leide an einer kognitiven Störung. Trotz Behandlung mit den besten Medikamenten wird es nicht besser. Anfang 2009 beschließe ich, einen Psychiater hinzuzuziehen und eine Therapie zu beginnen. Er diagnostiziert eine Depression infolge einer ›aufgeschobenen Trauerreaktion‹ und gibt mir ein weiteres Medikament, ein Antidepressivum.

      Die ganze Zeit über bleibt mein Denken negativ und kreist immer in denselben Gedankenspuren:

       »Er hätte sich nicht umbringen dürfen.«

       »Er hätte seine Kinder nicht einfach ohne Vater zurücklassen dürfen.«

       »Er hätte mich nicht mit diesem finanziellen Durcheinander sitzen lassen dürfen.«

       »Wie konnte er einfach so gehen und mich und die Kinder ohne eine Nachricht zurücklassen?«

       »Was für ein Schuft, mich einfach so zu verlassen, sodass ich die Kinder alleine erziehen muss.«

       »Ich hasse ihn, weil er keine Nachricht zurückgelassen hat.«

       »Ich vermisse ihn.«

       »Ich fühle mich einsam ohne ihn.«

       »Ich will mit ihm sprechen und ich will eine Erklärung. So kann es nicht weitergehen.«

      Das Antidepressivum macht mich schlapp und lustlos und ich verliere noch mehr von mir.

      Es erfordert extrem viel Energie, nach einer solchen überwältigenden Erfahrung weiter zu funktionieren. Mir war nicht klar, dass ich die Erinnerung an diesen Schmerz immer so weit wie möglich aus meinen Gedanken halten wollte. Das war eine große Anstrengung, vergleichbar mit einem Vollzeitjob.

      Lange Zeit tat ich so, als ob nichts geschehen wäre. Ich nahm mein Leben kurz nach der Beerdigung wieder auf und ging bald wieder arbeiten. Während ich innerlich immer noch sehr erregt, verwundbar und vor allem vollkommen wehrlos war, fand ich mitten in meinem Krankheitsprozess eine neue Beziehung, verkaufte mein Haus und zog ans andere Ende des Landes. Ich gab alles auf, um mit diesem neuen Mann zusammenzuleben!

      Es ist bekannt, dass traumatisierte Menschen oft Schwierigkeiten haben, intime Beziehungen einzugehen, und dass es ihnen sehr schwerfällt, wieder zu vertrauen. Ironischerweise geraten sie oft in eine neue traumatische Beziehung. Das war auch bei mir der Fall. Die Dynamik in meiner neuen Beziehung sah so aus, dass meine Angst vor dem Verlassenwerden, vor Verrat und intensiven Einsamkeitsgefühlen immer wieder getriggert wurde. Dadurch wurden in meinem Gehirn immer wieder dieselben Schaltkreise aktiviert und riesige Mengen von Stresshormonen ausgeschüttet. Die Folge waren unangenehme Gefühle und intensive körperliche Empfindungen, die mich überwältigten, sodass meine Gesundheit sich nicht verbesserte. Mit einem Fachbegriff ausgedrückt: Ich geriet in einen Kreislauf der Retraumatisierung.

      Meine Emotionen schossen zwischen Scham, Schuld, Wut, Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, tiefer Verlassenheit und Einsamkeit hin und her. Mein Verhalten war von Wut geprägt. Ich kämpfte gegen alle, die mir lieb waren und das Beste für mich wollten, stieß Menschen zurück. Dazu steckte ich in einer Beziehung mit einem Mann, der sich genauso verhielt und der – wie sich später herausstellte – selbst schwer traumatisiert war.

      Im Lauf des Jahres 2009 bekam ich noch mehr körperliche Probleme. Meine Mundschleimhäute entzündeten sich und es bildeten sich Geschwüre in meinem Mund. Eine weitere Autoimmunerkrankung wurde festgestellt: erosiver Lichen planus, eine Plattenepithelkrankheit. Dagegen bekam ich noch mehr Corticosteroide in Form von Salben und Pillen. Diese Medikamente störten meine Speichelproduktion. Eine schmerzhafte Erfahrung.

      2010 steigerten sich meine Gesundheits- und Beziehungsprobleme weiter. Allmählich wurde mir bewusst, dass ich in einer Abhängigkeitsbeziehung zu einem Mann steckte, der mich und meine Kinder weiter traumatisierte. Er verstand sich nicht mit den Kindern und gab ihnen ständig das Gefühl, dass es sie nicht geben sollte. Wir waren schließlich in sein Haus gezogen! Es wurde nie unser Zuhause. Im Mai jenes Jahres verlor ich meinen Arbeitsplatz, meinen einzigen noch sicheren, wiedererkennbaren Ort. Ein weiterer Verlust.

      Im Verlauf des Jahres litt ich immer stärker unter der Erosion der Schleimhäute in meinem Körper (Mund, Vagina, Anus, Speiseröhre). Mein Immunsystem war mittlerweile fast zusammengebrochen und neben Hautproblemen bekam ich es auch mit allerlei Allergien zu tun.

      Infolge der Spannungen in meiner Beziehung und meiner gesundheitlichen Probleme war ich emotional sehr angeschlagen und lebte in ständigem Stress. Es blieb mir immer weniger Vitalität und Energie zum Leben. Ich ging durch die dunkelste Nacht meiner Seele. Damals konnte ich es nachvollziehen, warum jemand seinem Leben ein Ende setzen wollte. Ich ertappte mich bei Gedanken, die in diese Richtung gingen.

      Das Antidepressivum half mir in diesem Kampf mit mir selbst nicht. Ich trank mehr, als mir lieb war, nahm regelmäßig Drogen (Cannabis) und verlor die Kontrolle über meine Kinder und die Verbindung zu ihnen. Nach außen hin hielt ich mich aufrecht. Meine mentale Flexibilität nahm jedoch drastisch ab, ebenso meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

      Im Januar 2011 war ich dann zur Gastroskopie im Krankenhaus. Seit etwa drei Monaten litt ich unter Magensäurereflux. Wenn ich aß, hatte ich das Gefühl, dass das Essen stecken blieb und nicht richtig nach unten rutschte. Bei dieser Gastroskopie war zu sehen, dass ein beginnender Tumor am Übergang zwischen Speiseröhre und Magen saß. Dadurch konnte die Nahrung tatsächlich nicht weitertransportiert werden und blieb auf dem Weg zum Magen stecken. Das war ein weiterer, schwerwiegender körperlicher, geistiger und emotionaler Anschlag auf mein System. Das dünne Eis unter meinen Füßen brach und ich war am Ertrinken.

      Ich war ganz allein, als ich die endgültige Diagnose bekam. Der Mann, in dessen Haus ich gezogen war, ließ sich buchstäblich nirgends blicken. Er hielt sich in Südamerika auf. Wir hatten im Grunde schon lange Zeit nebeneinander hergelebt und ich hatte mich in dieser Beziehung im Laufe der Zeit immer einsamer gefühlt. Allein gelassen begann ich die Chemotherapie und überlegte, ihn zu verlassen.

      2011, an einem Februarmorgen, fand ich mich im Haus des Mannes, zu dem ich gezogen war, auf dem Fußboden wieder. Mein Herz raste, ich schwitzte und aus meinen Muskeln schien alle Energie zu entweichen. Ich fing unkontrolliert an zu weinen, kroch über den Boden und stöhnte voller Verzweiflung. Ich ging auf die Knie und begann zu beten.

      In diesem Jahr würde ich 50 Jahre alt werden: Wollte ich mit meinem Leben, meinen Kindern und meiner Gesundheit so weitermachen? Ich betete um eine Lösung. Wenn sie käme, würde ich den Rest meines Lebens dankbar sein und jeden Tag genießen. Ich bat um Führung und Unterstützung. Wie konnte ich die Abwärtsspirale wenden? Dieser Augenblick der Verzweiflung wurde zum Wendepunkt in meinem Leben.

      Als erstes beschloss ich, mit den konventionellen Behandlungen aufzuhören. Ich bekam eine Diagnose nach der anderen, aber keine Lösungen. Niemand betrachtete das größere Bild. Alle blieben bei ihrem Fachgebiet und inzwischen war ich Patientin bei einem Internisten, einem Neurologen, einem Dermatologen, einem Arzt für Mundheilkunde und einem Psychiater. Sie verteilten alle reichlich Medikamente, aber im Grunde fühlte ich mich von keinem von ihnen verstanden, ja, nicht