und Kräfte weit überstiegen. L[obenstein] schien zu glauben, da nun mit Antons Seele doch weiter nichts anzufangen sei, so müsse man wenigstens von seinem Körper allen möglichen Gebrauch machen. Er schien ihn jetzt wie ein Werkzeug zu betrachten, das man wegwirft, wenn man es gebraucht hat.
Bald wurden Antons Hände durch den Frost und die Arbeit zum Klavierspielen gänzlich untauglich gemacht. – Er musste fast alle Woche ein paarmal des Nachts mit dem andern Lehrburschen aufbleiben, um die geschwärzten Hüte [78]aus dem siedenden Färbekessel herauszuholen, und sie dann unmittelbar darauf in der vorbeifließenden Oker zu waschen, wo zu dem Ende erst eine Öffnung in das Eis musste gehauen werden. Dieser oft wiederholte Übergang von der Hitze zum Frost, machte, dass Anton beide Hände aufsprangen, und das Blut ihm heraussprützte.
Allein statt dass dieses ihn hätte niederschlagen sollen, erhob es vielmehr seinen Mut. Er blickte mit einer Art von Stolz auf seine Hände, und betrachtete die blutigen Merkmale daran, als so viel Ehrenzeichen von seiner Arbeit; und solange diese harten Arbeiten noch für ihn den Reiz der Neuheit hatten, machten sie ihm ein gewisses Vergnügen, das vorzüglich im Gefühl seiner körperlichen Kräfte bestand; zugleich gewährten sie ihm eine Art von süßem Freiheitsgefühl, das er bisher noch nicht gekannt hatte.
Es war ihm, als wenn er nun auch sich selbst etwas mehr nachsehen könne, nachdem er ebenso wie die andern gearbeitet, und des Tages Last und Hitze wie sie getragen hatte. Unter den beschwerlichsten Arbeiten empfand er eine Art von innerer Wertschätzung, die ihm die Anstrengung seiner Kräfte verschaffte; und oft würde er diesen Zustand kaum gegen die peinliche Lage wieder vertauscht haben, worin er sich beim Genuss der strengen und alle Freiheit vernichtenden Freundschaft L[obenstein]s befand.
Dieser aber fing jetzt an, ihn immer härter zu drücken: oft musste er in der bittersten Kälte, den ganzen Tag über, in einer ungeheizten Stube Wolle kratzen. Dies war ein klüglich ausgesonnenes Mittel des Herrn L[obenstein], um Antons Arbeitsamkeit zu vermehren: denn wenn er nicht vor Kälte umkommen wollte, so musste er sich rühren, [79]so viel nur in seinen Kräften stand, dass ihm abends oft beide Arme wie gelähmt, und doch Hände und Füße erfroren waren.
Diese Arbeit machte ihm wegen ihrer ewigen Einförmigkeit sein Los am bittersten. Besonders, wenn manchmal seine Phantasie dabei nicht in Gang kommen wollte; war diese hingegen durch den schnellern Umlauf des Bluts einmal in Bewegung geraten, so flossen ihm oft die Stunden des Tages unvermerkt vorüber. Er verlor sich oft in entzückenden Aussichten. Zuweilen sang er seine Empfindungen, in Rezitativen, von seiner eignen Melodie. Und wenn er sich besonders von der Arbeit ermüdet, seine Kräfte erschöpft, und von seiner Lage gedrückt fühlte, mochte er sich am liebsten in religiösen Schwärmereien, von Aufopferung, gänzlicher Hingebung, usw. verlieren, und der Ausdruck Opfersaltar war ihm vorzüglich rührend, so dass er diesen in alle die kleinen Lieder und Rezitative von seiner Erfindung mit einwebte.
Die Unterhaltungen mit seinem Mitlehrburschen (dieser hieß August) fingen nun wieder an, einen neuen Reiz für ihn zu bekommen, und ihre Gespräche wurden vertraulich, da sie nun einander wieder gleich waren. Die Nächte, welche sie oft zusammen durchwachen mussten, machten ihre Freundschaft noch inniger. Am allervertraulichsten wurden sie aber, wenn sie zusammen in der sogenannten Trockenstube saßen. Dieses war ein in die Erde gemauertes, oben mit Backsteinen zugewölbtes Loch, worin gerade ein Mensch aufrecht stehen, und ohngefähr zwei Menschen sitzen konnten. In dieses Loch wurde ein großes Kohlenbecken gesetzt, und an den Wänden umher, die mit Scheidewasser bestrichnen Hasenfelle aufgehangen, deren Haar [80]hier weichgebeizt wurde, um nachher zu den feinern Hüten als Zutat gebraucht zu werden.
Vor diesem Kohlenbecken und in diesem Dunstkreise saßen Anton und August in dem halbunterirdischen Loche, in welches man mehr hineinkriechen als hineingehen musste, und fühlten sich durch die Enge des Orts, der nur durch die Glut der Kohlen schwach erleuchtet wurde, und durch das Abgesonderte, Stille und Schauerliche dieses dunklen Gewölbes, so fest zusammengeschlossen, dass ihre Herzen oft in wechselseitigen Ergießungen der Freundschaft überströmten. Hier entdeckten sie sich die innersten Gedanken ihrer Seele; hier brachten sie die seligsten Stunden zu.
L[obenstein] war, wie der Herr von F[leischbein] und alle seine Anhänger, ein Separatist, der sich nicht zu Kirche und Abendmahl hielt. Solange also die Freundschaft zwischen ihm und Anton gedauert hatte, war dieser fast gar in keine Kirche in B[raunschweig] gekommen. Jetzt nahm ihn August des Sonntags mit in die Kirche, und sie gingen immer in andre, weil Anton ein Vergnügen daran fand, die verschiedenen Prediger nacheinander zu hören. –
Nun saßen Anton und August einmal um Mitternacht zusammen in der Trockenstube, und sprachen über verschiedene Prediger, die sie gehört hatten, als der Letztre dem Anton versprach, ihn künftigen Sonntag mit in die B[rüdern]kirche zu nehmen, wo er einen Prediger hören würde, der alles überträfe, was er sich denken und vorstellen könnte. Dieser Prediger hieß P[aulmann], und August konnte nicht aufhören, zu erzählen, wie er oft durch die Predigten dieses Mannes erschüttert und bewegt sei. Nichts war [81]für Anton reizender, als der Anblick eines öffentlichen Redners, der das Herz von Tausenden in seiner Hand hat. Er hörte aufmerksam auf das, was August ihm erzählte. Er sahe schon im Geist den Pastor P[aulmann] auf der Kanzel, er hörte ihn schon predigen. Sein einziger Wunsch war, dass es nur erst möchte Sonntag sein!
Der Sonntag kam heran. Anton stand früher, wie gewöhnlich, auf, verrichtete seine Geschäfte, und kleidete sich an. Als geläutet wurde, hatte er schon eine Art von angenehmem Vorgefühl dessen, was er nun bald hören werde. Man ging zur Kirche. Die Straßen, welche nach der B[rüdern]kirche führten, waren voller Menschen, die stromweise hinzueilten. – Der Pastor P[aulmann] war eine Zeitlang krank gewesen, und predigte nun zum ersten Male wieder: das war auch die Ursach, warum August nicht gleich zuerst mit Anton in diese Kirche gegangen war.
Als sie hereinkamen, konnten sie kaum noch ein Plätzchen der Kanzel gegenüber finden. Alle Bänke, die Gänge und Chöre waren voller Menschen, welche alle einer über den andern wegzusehen strebten. Die Kirche war ein altes gotisches Gebäude mit dicken Pfeilern, die das hohe Gewölbe unterstützten, und ungeheuren langen bogigten Fenstern, deren Scheiben so bemalt waren, dass sie nur ein schwaches Licht durchschimmern ließen.
So war die Kirche schon von Menschen erfüllt, ehe der Gottesdienst noch begann. Es herrschte eine feierliche Stille. Auf einmal ertönte die vollstimmige Orgel, und der ausbrechende Lobgesang einer solchen Menge von Menschen schien das Gewölbe zu erschüttern. Als der letzte Gesang zu Ende ging, waren aller Augen auf die Kanzel geheftet, [82]und man bezeigte nicht minder Begierde, diesen fast angebeteten Prediger zu sehen, als zu hören.
Endlich trat er hervor, und kniete auf den untersten Stufen der Kanzel, ehe er hinaufstieg. Dann erhob er sich wieder, und nun stand er da vor dem versammleten Volke. Ein Mann noch in der vollen Kraft seiner Jahre – sein Antlitz war bleich, sein Mund schien sich in ein sanftes Lächeln zu verziehen, seine Augen glänzten himmlische Andacht – er predigte schon, wie er da stand, mit seinen Mienen, mit seinen still gefaltenen Händen.
Und nun, als er anhub, welche Stimme, welch ein! – Erst langsam und feierlich, und dann immer schneller und fortströmender: so wie er inniger in seine Materie eindrang, so fing das Feuer der Beredsamkeit in seinen Augen an zu blitzen, aus seiner Brust an zu atmen, und bis in seine äußersten Fingerspitzen Funken zu sprühen. Alles war an ihm in Bewegung; sein Ausdruck durch Mienen, Stellung und Gebärden überschritt alle Regeln der Kunst, und war doch natürlich, schön, und unwiderstehlich mit sich fortreißend.
Da war kein Aufenthalt in dem mächtigen Erguss seiner Empfindungen und Gedanken; das künftige Wort war immer schon im Begriff hervorzubrechen, ehe das vorhergehende noch völlig ausgesprochen war; wie eine Welle die andere in der strömenden Flut verschlingt, so verlor sich jede neue Empfindung sogleich in der folgenden, und doch war diese immer nur eine lebhaftre Vergegenwärtigung der vorhergegangnen.
Seine Stimme war ein heller Tenor, der bei seiner Höhe eine ungewöhnliche Fülle hatte; es war der Klang eines reinen Metalls, welcher durch alle Nerven vibriert. Er sprach [83]nach Anleitung des Evangeliums gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung, gegen Üppigkeit und Verschwendung; und im höchsten Feuer der Begeisterung redete er zuletzt die üppige und schwelgerische Stadt, deren Einwohner größtenteils