Karl Philipp Moritz

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman


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nach Hause, um diesen Blick gleichsam in seinem Herzen zu bewahren.

      Den folgenden Sonntag predigte der Pastor P[aulmann] des Mittages von der Liebe gegen die Brüder, und so seelenerschütternd seine Predigt wider den Meineid gewesen war, so sanftrührend war diese; die Worte flossen nun wie Honig von seinen Lippen, jede seiner Bewegungen war anders, sein ganzes Wesen schien sich nach dem Stoff, wovon er predigte, verändert zu haben. Und doch war hiebei nicht die mindeste Affektation. Es war ihm natürlich, sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen, die der Stoff seiner Rede veranlasste, zu verweben.

      Diesen Vormittag hatte Anton mit erstaunlich langer Weile dem andern Prediger dieser Kirche zugehört – er geriet ein paarmal in eine Art von Wut gegen ihn, da sich alles anließ, als ob er jetzt Amen sagen würde, und er dann von [89]neuem in dem alten Tone wieder anfing. Jetzt war es mehr wie jemals Antons größte Qual, einer solchen langweiligen Predigt zuzuhören, da er sich nicht enthalten konnte, beständig Vergleichungen anzustellen, nachdem er sich einmal die Predigt des Pastor P[aulmann] als das höchste Ideal, gedacht hatte, welches ihm von jedem andern unerreichbar schien.

      Als die Vormittagspredigt vorbei war, so war die Reihe an dem Pastor P[aulmann] die Einsegnung beim Abendmahl zu verrichten, welche Anton nun zum ersten Mal von ihm hörte. – Und nun, in welcher ehrwürdigen Gestalt erschien er ihm itzt! er stand im Hintergrunde der Kirche vor dem hohen Altare, und sang die Worte: »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich« – mit einer so himmelerhebenden Stimme, und einem so mächtigen Ausdruck, dass Anton sich in dem Augenblick in höhere Regionen verzückt glaubte – auch war ihm dies alles wie etwas, das hinter einem Vorhange, im Allerheiligsten, geschahe, wozu sich sein Fuß nicht nahen durfte – wie beneidete er einen jeden, der zum Altar hinzutreten und aus den Händen des Pastor P[aulmann] das Abendmahl empfangen durfte! – Ein sehr junges Frauenzimmer, die schwarz gekleidet, mit blassen Wangen, und einer Miene voll himmlischer Andacht zum Altar hinzutrat, machte zuerst auf Antons Herz einen Eindruck, den er bisher noch nicht gekannt hatte. Er hat dies junge Frauenzimmer nie wieder gesehen, aber ihr Bild ist nie in seiner Seele verloschen.

      Nun hatte seine Phantasie ein neues Spiel. – Die Idee vom Abendmahl war jetzt diejenige, womit er zu Bette ging und aufstund, und womit er sich den ganzen Tag über, wenn er bei seiner Arbeit allein war, beschäftigte; dabei [90]schwebte ihm immer der Pastor P[aulmann] im Sinne, mit seiner sanften, schwellenden Stimme, und seinem gen Himmel gehobnen Auge, das von mehr als irdischer Andacht erleuchtet schien. Zuweilen drängte sich denn auch in seiner Phantasie das Bild des schwarzgekleideten jungen Frauenzimmers, mit der blassen Farbe und andachtsvollen Miene, wieder vor.

      Durch dies alles wurde seine Einbildungskraft so begeistert, dass er sich itzt für den glücklichsten Menschen unter der Sonne würde gehalten haben, wenn er den künftigen Sonntag hätte zum Abendmahl gehen dürfen. Er versprach sich eine so überirdische himmlische Tröstung beim Genuss des Abendmahls, dass er schon im Voraus Freudentränen darüber vergoss; wobei er zugleich ein gewisses sanftes beruhigendes Mitleid mit sich selber empfand, das ihm nun alles Bittre und Unangenehme seiner Lage versüßte, wenn er bedachte, dass ihn doch als Hutmacherbursche einmal niemand dieses Trostes würde berauben können. Alle vierzehn Tage wenigstens nahm er sich dann vor zum Abendmahl zu gehen, wenn er erst so weit wäre – und dann schlich sich ganz geheim in diesen Wunsch die Hoffnung mit ein, dass durch dies öftere Zum-Abendmahl-Gehen der Pastor P[aulmann] ihn vielleicht am Ende bemerken würde: und dieser Gedanke war es wohl vorzüglich, welcher bei ihm die unaussprechliche Süßigkeit in diese Vorstellungen brachte. So lag auch hier die Eitelkeit im Hinterhalt verborgen, wo sie mancher vielleicht am wenigsten vermutet hätte.

      Das war ihm unmöglich zu glauben, dass er immer so, wie jetzt, würde verkannt, und vernachlässiget werden. Gewissen romanhaften Ideen nach, die er sich in den Kopf [91]gesetzt hatte, musste es sich etwa einmal fügen, dass ein edler Mann, der auf der Straße ihm begegnete, etwas Auffallendes an ihm bemerkte, und sich dann seiner annehme. – Eine gewisse schwermütige melancholische Miene, die er zu dem Ende annahm, glaubte er, würde am ersten diese Aufmerksamkeit erregen. – Darum affektierte er sie nun oft noch in höherm Grade, als sie ihm natürlich war. – Ja oft war er schon beinahe im Begriff, wenn ihm die Physiognomie irgendeines vornehmen Mannes Zutrauen einflößte, ihn geradezu anzureden, und ihm seine Umstände zu entdecken. – Der Gedanke schreckte ihn aber immer wieder zurück, dass ihn dieser vornehme Mann vielleicht für närrisch halten möchte.

      Zuweilen sang er auch, wenn er auf der Straße ging, mit einer gewissen klagenden Stimme, einige von den Liedern der Mad. Guion, die er auswendig gelernt hatte, und worin er Anspielungen auf sein Schicksal zu finden glaubte; und dann dachte er, weil zuweilen in den Romanen, durch ein solches klagendes Lied, das einer singt, Wunderdinge gewürkt werden, würde es auch ihm vielleicht gelingen, dadurch, dass er die Aufmerksamkeit irgendeines Menschenfreundes auf sich zöge, seinem Schicksal eine andere Wendung zu geben.

      Für den Pastor P[aulmann] ging seine Ehrfurcht viel zu weit, als dass er es je hätte wagen sollen, ihn anzureden. – Wenn er nahe bei ihm stand, so überfiel ihn ein Schauder, als ob er sich in der Nähe eines Engels befände. –

      Er konnte es sich entweder gar nicht denken, oder suchte den Gedanken mit Fleiß zu vermeiden, dass dieser Pastor P[aulmann] wie andre Menschen aufstände, und zu Bette ginge, und alle natürliche Handlungen, wie sie, verrichtete. [92]Sich ihn im Schlafrock und der Nachtmütze vorzustellen, war ihm ganz unmöglich – oder er flohe vielmehr vor diesem Gedanken, als wenn dadurch eine Lücke in seiner Seele wäre hervorgebracht worden. Besonders war ihm das Bild von der Nachtmütze ganz etwas Unausstehliches, sooft es ihm bei dem Pastor P[aulmann] einfiel; es war, als ob dadurch eine Disharmonie in alle seine übrigen Vorstellungen käme.

      Nun fügte es sich aber einmal, dass Anton gerade in der Kirchtüre stand, als der Pastor P[aulmann] hereintrat, und in plattdeutscher Sprache zu dem Küster sagte, dass sie nachher noch ein Kind zu taufen hätten.

      Würkte je ein Kontrast lebhaft auf Antons Seele, so war es dieser – den Mann, welchen er sich nie anders, als mit jenem feierlichen herzerschütternden Tone, zu dem versammelten Volke redend, gedacht hatte, zuerst plattdeutsch, wie der simpelste Handwerksmann mit dem Küster, über eine so feierliche Sache, als die Taufe war, sprechen zu hören; und das in einem Tone, der nichts weniger als feierlich war, und womit man einem sagen würde, er solle ja nicht vergessen, das Waschbecken zu bringen.

      Durch diesen einzigen Vorfall wurde Antons Abgötterei gegen den Pastor P[aulmann] einigermaßen herabgestimmt. Er betete ihn etwas weniger an, und liebte ihn desto mehr.

      Indes hatte er sich sein Ideal von Glückseligkeit völlig von dem Pastor P[aulmann] abstrahiert. – Er konnte sich nichts Erhabeners und Reizenderes denken, als, wie der Pastor P[aulmann], öffentlich vor dem Volke reden zu dürfen, und alsdann, so wie er, manchmal gar die Stadt mit Namen anzureden. – Dies Letzte hatte insbesondre für ihn etwas Großes und Pathetisches – so dass er sich oft ganze [93]Tage über in seinen Gedanken beständig mit dieser Anrede beschäftigte – und sogar, wann er etwa, um Bier zu holen, über die Straßen ging, und ein paar Jungen sich balgen sahe, nicht unterlassen konnte, im Geiste die Worte des Pastor P[aulmann] zu wiederholen, und die ruchlose Stadt vor ihrem Verderben zu warnen, wobei er zugleich den Arm drohend in die Höhe hob. – Wo er ging und stand, haranguierte er in Gedanken für sich selber, und wenn er dann in recht heftigen Affekt geriet, so hielt er die Predigt gegen den Meineid.

      So schwebte er eine Zeitlang in diesen angenehmen Phantasien hin, die ihn das Wollekratzen in der kalten Stube, das Hütewaschen im Eise, und den Mangel des Schlafs, wenn er oft mehrere Nächte hindurch wachen musste, fast ganz vergessen ließen. – Die Stunden entflohen ihm zuweilen während der Arbeit wie Minuten, wenn es ihm gelang, sich in den Charakter eines öffentlichen Redners hineinzuphantasieren.

      Allein, sei es nun, dass diese unnatürliche Überspannung seiner Seelenkräfte, oder die für seine Jahre zu große Anstrengung seines Körpers zur Arbeit, ihn zuletzt niederwerfen musste – er ward gefährlich krank. Seine Pflege war nicht die beste. Er phantasierte im Fieber, und lag oft ganze Tage lang allein, ohne dass sich jemand um ihn bekümmerte.

      Endlich arbeitete doch seine gute Natur sich durch: er ward wiederhergestellt. – Eine