Reinhold Haller

Die Entscheidung


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wo die Konkurrenz groß ist und die angestrebten Stellen selten sind. Henry Ford soll einmal gesagt haben: ‚Erfolg besteht darin, dass man genau die Fähigkeiten besitzt, die im Moment gefragt sind.‘ Wenn die Fähigkeiten dazu nicht ganz hinreichend sind oder das richtige Momentum fehlt, wird es schwierig mit der nachhaltigen Sicherung des Berufswunsches.

      Drittens: Hier muss ich aufpassen, nicht zu klagen, denn von diesem Tatbestand lebe ich letztlich als Berater, Trainer und Coach im Wissenschaftsbereich. In einem weiteren Bereich unterscheidet sich der Wissenschaftsbetrieb von anderen Organisationen in der Verwaltung oder der freien Wirtschaft: Viele Wissenschaftler:innen, selbst solche in höheren Positionen, sind für breite Bereiche ihres Tuns und Schaffens nicht wirklich solide ausgebildet. Die Folge dessen spüren viele Insider des Wissenschaftsbetriebes mehr oder weniger, früher oder später irgendwann am eigenen Leib.“

      „Wie meist du das?“, fragte Niko, Amisha Bruder. „Die meisten Wissenschaftler:innen haben doch ein Bachelor- und darauf aufbauend ein Masterstudium hinter sich gebracht. Sie haben einige Jahre als Doktorand:innen und vielleicht weitere Jahre als junge PostDocs Erfahrungen gesammelt und sich enormes Wissen angeeignet. Manche haben sich sogar habilitiert und sind als Hochschullehrer:in oder Dozent:in tätig. Mit diesem Pensum sollte man doch ausreichend gut ausgebildet und erfahren sein.“

      „Vollkommen richtig!“, entgegnete Leo. „Aber das betrifft ausschließlich die fachliche, wissenschaftliche Ausbildung. Wenn du jedoch in der wissenschaftlichen Ausbildung das Gröbste hinter dir hast, beginnst du, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann leitest du eigenständig Projekte, vielleicht leitest du eine kleine Gruppe an oder du betreust selbst schon Auszubildende im Praktikum oder Studierende.

      Später bekommst du vermutlich formale Führungsverantwortung für deine Mitarbeitenden. Deine Aufgaben und Verantwortung summieren sich mit der Zeit. Und dann stellst du irgendwann fest, dass du Organisations- und Managementkompetenzen brauchst, wie etwa eine strategische Planung, ProjektmanagementProjektmanagement, KonfliktmanagementKonfliktmanagement für den Umgang mit Kolleg:innen, Mitarbeitenden und Kooperationspartner:innen oder dass du Elemente des Changemanagements einsetzen musst, wenn es hin und wieder Organisationsstrukturen, Teams oder Prozesse zu verändern gilt.

      Spätestens dann merkst du – das ist zumindest zu hoffen und zu wünschen –, dass du fachlich top bist, aber im Bereich der eben genannten Themen ziemlich auf dem Schlauch stehst. Dann wird immer offensichtlicher, dass du wenig Konkretes und Praktisches gelernt hast über den erfolgreichen Umgang mit Prozessen, Organisationen, Menschenführung oder über den Umgang mit deinem Selbst- und Zeitmanagement.

      In den meisten Bereichen der Verwaltung und erst recht in der Wirtschaft und Industrie werden angehende Führungskräfte und verantwortliche Manager erst einmal gründlich aus- oder weitergebildet, bevor sie als Führungskraft oder im sogenannten Management auf die Menschheit losgelassen werden.

      Im Wissenschaftssystem ist es hingegen so, dass offensichtlich die Meinung vorherrscht, dass die oberen Hierarchien diesbezüglich klug genug seien und entsprechende Weiterqualifikationen nicht brauchen. Fragt man dann aber das wissenschaftliche oder wissenschaftsnahe Personal wie Laborand:innen, Techniker:innen oder Sachbearbeiter:innen im administrativen Bereich, dann zeigen sich viele der Beschäftigten demotiviert und enttäuscht von ihrer jeweiligen Führungsebene.

      Ende der sogenannten Nullerjahre, ich glaube es war 2009, erschien dazu eine Studie meiner Kolleg:innen Boris Schmidt und Astrid Richter in der Deutschen Universitätszeitung. Wenn ich recht erinnere, lautete der Titel: ‚Das FührungszeugnisFührungspraxis an Universitäten‘. Untersucht wurde das Führungsverhalten von Führungskräften an deutschen Universitäten. Und das Ergebnis war traurig bis desaströs. Wenn es jemand von euch interessiert, kann ich euch den Artikel gerne per E-Mail schicken. Jedenfalls zeigten sich in dieser Studie viele Beschäftigte an den Universitäten sehr unzufrieden mit ihren Führungskräften. Mittlerweile kamen weitere solche Studien leider zu ähnlichen Ergebnissen. Die logische Folge: Man muss in der Tat damit rechnen, im Umfeld von Wissenschaft und Forschung mit relativ spärlich kompetenten Führungskräften konfrontiert zu werden.

      Dies ist umso gravierender, als dass eben diese Führungskräfte durch den andauernden Wettbewerb des Systems eher weniger Kapazitäten haben für wissenschaftsfremde Tätigkeiten wie Führung, Organisation oder Teammanagement.

      Viertens, und das ist nicht nur seltsam, sondern ärgerlich: Es gibt hin und wieder selbst in der Wissenschaft Organisationen, die beständig die Wirksamkeit des sogenannten Peter-PrinzipPeter-Prinzip unter Beweis stellen. Dieses, nach dem Lehrer und Berater Laurence Peter genannte Gesetz besagt sinngemäß: Hierarchisch ausgeprägte Organisationen neigen dazu, Beschäftigte so lange zu befördern, bis deren höchstmögliche Stufe der Inkompetenz erreicht ist.

      Das heißt, dass des Öfteren Menschen in Positionen kommen, in welchen sie mindestens so viel oder gar deutlich mehr Unheil anrichten, als sie Gutes beitragen.

      Man findet sie dann in technischen Abteilungen, der Administration oder mitunter sogar im wissenschaftlichen Bereich. Das Schlimmste daran ist, dass meist nichts geschieht; gleichwohl dies in der Regel oft nicht unbemerkt bleibt.

      Niemand aber möchte für solche Fehlbesetzungen und fatale Personalentscheidungen später die Verantwortung übernehmen und den Fehler korrigieren. Weder obere Hierarchien noch politisch verantwortliche Institutionen rühren sich. Die Folge: Viele gute Mitarbeiter wenden sich irgendwann demotiviert und desillusioniert ab und verlassen, falls ihnen das möglich ist, die Organisation. Beständig in einem Bereich zu arbeiten, der schlecht geführt wird und/oder dysfunktional organisiert ist, ist auf Dauer schwer zu ertragen.

      Zugegeben: Dieses Phänomen ist prinzipiell durchaus ebenso in der Wirtschaft und Industrie anzutreffen. Tendenziell ist es aber weit mehr im öffentlichen Dienst verbreitet, zu welchem letztlich der größte Teil des Wissenschaftsbetriebs gehört. Vielleicht sind solche Umstände im Wissenschaftsumfeld auffälliger und ärgerlicher, weil man denkt, hier seien mehr Klugheit und Rationalität am Werk. Stattdessen ‚menschelt‘ es aber hier genauso wie anderenorts.“

      Leo nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Wasserglas und schaute in die Runde. „Na, wer von euch jüngeren Semestern hat noch Lust und Mut für eine Zukunft im Wissenschaftsbetrieb?“

      „Gegenfrage“, konterte Amisha, „gibt es denn Menschen in deinem Wirkungskreis, denen du unter diesen Umständen guten Gewissens empfehlen würdest, ihre berufliche Zukunft im Bereich Wissenschaft und Forschung anzustreben?“, fragte sie und blickte Leo erwartungsvoll an.

      „Aber ja, auf jeden Fall!“, entgegnete Leo annähernd enthusiastisch. „Hatte ich das nicht zu anfangs bereits gesagt? Die Arbeit im Wissenschaftsumfeld kann sehr erfüllend sein, kreativ, motivierend und in der Summe für nicht wenige Menschen durchaus erfolgsversprechend und zukunftsträchtig.

      Aber es ist wie mit allen Entscheidungen im Leben: Man sollte vor allen Entscheidungen, die man zu treffen hat, auch die Nebenwirkungen seiner Entscheidungen kennen. Man sollte genau wissen, auf was man sich einlässt und mit welchen Rahmenbedingungen man zu rechnen hat.

      Wer meint, man finde im Wissenschaftsumfeld das reine Glück auf Erden, der wird sich irgendwann vermutlich enttäuscht abwenden. Wer aber weiß, was ihn erwartet, sich wappnet, sich vorbereitet und bereit ist, den Hindernissen zu trotzen, der kann durchaus zufrieden werden oder sogar glücklich im Umfeld von Wissenschaft und Forschung.“

      Leos zehn Gebote für angehende Wissenschaftler:innen

      Das Gespräch zerstreute sich und einzelne Anwesende berichteten in unterschiedlichen Konstellationen über ihre Erfahrungen mit den von Leo beschriebenen wissenschaftstypischen Rahmenbedingungen.

      Nach einiger Zeit sprach Sinan über den Tisch hinweg Leo direkt an: „Leo, sag mal, wenn man nun glaubt, die von dir genannten Rahmenbedingungen ertragen oder erfolgreich bewältigen oder umschiffen zu können, was muss man dann mitbringen, um in der Wissenschaft erfolgreich zu bestehen?“

      „Tja, Sinan, das ist eine gute Frage, die letztlich für jeden Beruf gilt. Schließlich sind Arbeit und Beruf selbst mit einer guten Dosis Leidenschaft und Motivation