klarkommen.
Wenn ich gerne Bäcker werden will – und wir haben hier in Berlin einige leidenschaftlich kreative und handwerklich gute Bäcker –, dann muss ich wissen, was mich in diesem Beruf erwartet. Als Bäcker:in muss man früh aufstehen, Hitze ertragen, geeignet sein für mitunter schwerere körperliche Arbeit, man sollte fachlich und betriebswirtschaftlich fit sein, weitgehend stressresistent und sichergehen, dass man keine Mehlstauballergie hat oder Ähnliches. Wenn all dies zutrifft, kannst ich ein guter und vermutlich später gutverdienender Bäcker werden, der sich den Respekt und die Wertschätzung treuer Kund:innen verdient.
Wer in der Wissenschaft länger verweilen und nicht nur als eine Art Gastspiel die Promotion mitnehmen will, sollte sich, wie bei anderen beruflichen Optionen auch, ein paar Dinge klar machen.“
Leo nahm wieder seine Finger zur Hilfe und begann sie entsprechend seiner AuflistungAnforderungen an Nachwuchskräfte abzuzählen:
„Für die Arbeit im Wissenschaftsbetrieb musst du erstens bereit sein, dich einem gewissen Leistungswettbewerb zu stellen, ohne zu zerbrechen oder ohne vor lauter Konkurrenz zum Mistkerl beziehungsweise zur Zicke zu werden.
Du musst dir zweitens im Klaren darüber sein, dass du zeitweise mehr zu geben bereit sein musst als bei einen sogenannten Nine-to-five-Job. Wissenschaft fordert hin und wieder Überstunden oder, gerade in den Naturwissenschaften, mitunter sogar Arbeit am Wochenende. Schließlich sind manche Labore 24 Stunden an sieben Wochentagen in Betrieb und ein Experiment, eine Exkursion oder die klassische Feldforschung enden selten pünktlich um 16 Uhr.
Drittens solltest du dir bewusst sein, dass sich ein guter Wissenschaftler oder eine gute Wissenschaftlerin nicht nur durch überdurchschnittlich gutes Methoden- und Handlungswissen auszeichnet. Mindestens ebenso wichtig sind AusdauerAusdauer, Beharrungsvermögen und FrustrationstoleranzFrustrationstoleranz. Letzteres ist wichtig, weil jeder in den Wissenschaften unterer anderem lernen muss, dass MisserfolgeMisserfolge, Sackgassen und Enttäuschungen dazugehören. Wenn man also irgendwann auf der Zielgeraden feststeckt, braucht das die klare Einsicht sowie die Energie und den Mut für einen Neuanfang.
Viertens sind eigene Ideen und EigeninitiativeEigeninitiative ebenso entscheidend. Wer ständig Ansagen braucht, Aufträge und vorgekaute Themen oder Fragestellungen serviert haben möchte, mag das Zeug haben zu einer guten Laborfachkraft oder Ähnlichem. Ein echter Forscher oder eine echte Wissenschaftlerin zeichnet sich dagegen aus durch eigene Ideen, Aktivität sowie den notwendigen Enthusiasmus. Man sagt manchmal etwas sehr pathetisch, gute Wissenschaftler:innen müssen für ihre Themen, Ideen und Ziele ‚brennen‘.
Fünftens brauchst du eine ehrliche und unverblendete SelbstreflexionSelbstreflexion in Bezug auf dein Verhalten, deine Talente, deine Lücken oder Optimierungspotenziale und -themen. Es gibt im Wissenschaftsbetrieb nicht wenige Menschen, die sich selbst für weit besser und talentierter halten als das ihr Umfeld tut. Es reicht nämlich nicht, in der Wissenschaft nur Objekte, Fakten, Zahlen zu betrachten oder seine Umwelt. Gerade eine gründliche und kritische Selbstreflexion ist eine unverzichtbare Voraussetzung für nachhaltigen Erfolg.
Sechstens: Umgekehrt hilft dir auf Basis deiner Selbstreflexion ein angemessenes und gesundes Selbstbewusstsein, denn Arbeit im Wissenschaftsumfeld braucht des Öfteren Mut, Selbstvertrauen und Selbstbehauptung. Schaut man sich zum Beispiel das Lebenswerk bekannter Nobelpreisträger:innen an, dann zeigt sich, dass viele von diesen über längere Zeit gegen den Strom schwimmen mussten. Wer erfolgreich sein will, muss deshalb unter Umständen bereit sein, gegen die gängige Lehr- und Mehrheitsmeinung der eigenen Community anzuforschen und zu argumentieren. Das ist für junge Doktorand:innen vielleicht noch nicht so entscheidend. Dieser Faktor wird aber zunehmend bedeutsam, insbesondere in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften.
Andererseits ist, siebtens, die Fähigkeit zu ein wenig Bescheidenheit und Respekt vonnöten. Jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin brauchen andere, die helfen und Beiträge leisten. Dazu gehören etwa Zuarbeiten von Kolleg:innen aus der Wissenschaft, der Administration, der Technik, der IT, aus Laboren und so weiter. Wer hier selbstverliebt ist oder hochnäsig und mit Wertschätzung oder Respekt geizt, diskreditiert andere und schadet sich letztlich selbst. Gute Wissenschaftler:innen sollten also ebenso respektable Teamplayer sein.
Du musst somit lernen und bereit sein, dich auf andere Menschen einzustellen und mit verschiedenartig gestrickten Menschen zusammenzuarbeiten: Mit Nerds und Ehrgeizlingen, Narzissten, Menschen aus anderen Kulturen und manchmal mit zwar menschlich durchaus angenehmen, aber etwas verpeilten und mitunter schlecht organisierten oder unzuverlässigen Menschen. Das ist spannend und herausfordernd, fordert zuweilen aber auch Beherrschung, Geduld und Gelassenheit.
Achtens: Apropos Organisation: Du solltest beizeiten lernen, dich selbst, deine Ziele, deine Zeit und deine Projekte gut zu organisieren. Dafür braucht man im Zweifelsfall Kenntnisse, Fähigkeiten und Instrumente aus dem Projekt-, Zeit- und SelbstmanagementZeit- und Selbstmanagement. Gerade zu diesen basalen Kompetenzen sind spezielle Weiterbildungen und Trainings empfehlenswert.
Neuntens kommt die Fähigkeit hinzu, sich anderen mitzuteilen. Wissenschaft lebt von Sichtbarkeit und Überzeugung. Dazu gehört definitiv, sein Wissen weiterzugeben, etwa an Drittmittelgeber:innen, Kolleg:innen, Studierende oder an die breitere Gruppe der wissenschaftsinteressierten Bevölkerung. Wer ein massives Problem damit hat, in Meetings den Mund aufzumachen oder verständliche Vorträge zu halten, wird es im Wissenschaftsbetrieb auf Dauer schwer haben.
Denn wer seine Gedanken, Hypothesen und Ergebnisse oder Schlussfolgerungen am Ende nicht verständlich, präzise und prägnant in schriftlicher Form zusammentragen kann, wird kaum langfristig erfolgreich werden. Denn wie heißt es so treffend: ‚Publish or perish!‘ oder, etwas positiver formuliert auf Deutsch: ‚Wer schreibt, der bleibt!‘.
Und dann noch ein letzter Punkt, um die zehn Gebote voll zu machen, denn auch dieser Aspekt hat viel zu tun mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur Kommunikation:
Wer im wissenschaftlichen Bereich dauerhaft arbeiten möchte, sollte Gefallen daran finden, andere Menschen aus- und weiterzubilden. Schließlich bedeutet Wissenschaft neben der Forschung auch Lehre und Ausbildung. Das gilt selbst dann, wenn in der Wertigkeit die Lehre gegenüber der Forschung oft als nachrangig gesehen und bewertet wird.
Wer im Wissenschaftsbetrieb bereits etwas mehr Wissen und Erfahrung mitbringt, wird relativ früh gefordert sein, Studierende, Praktikant:innen, Auszubildende oder jüngere Kolleg:innen zu betreuen und zu unterstützen. Bevor du irgendwann selbst Personalverantwortung übernehmen musst, wirst du Bachelor-, Master- oder Doktorarbeiten zunächst assistierend mitbetreuen. Schließlich nennt sich die Spitze der Wissenschaftshierarchie seit alters her ‚Hochschullehrer:in‘ und das sollte kein leeres Etikett sein.
Wer dieses Anforderungsprofil kennt und glaubt, dass er oder sie diese Voraussetzungen vom Grund her mitbringt, kann im Bereich Wissenschaft und Forschung durchaus erfolgreich werden, zufrieden oder gar – ein großes Wort – sein Glück finden.
So, nun habe ich euch aber wirklich zugetextet“, schloss Leo seine Ausführungen. „Und es ist spät geworden in dieser netten Runde. Ich denke, ich sollte langsam mal die Horizontale ansteuern. Morgen erwartet mich ein arbeitsreicher Tag.“
„Eine Frage noch!“ Amisha ließ vernehmen, dass ihr Wissensdurst noch nicht ganz gestillt war. „Was meintest du eben mit deiner Formulierung ‚Promotion als Gastspiel‘?“
„Puh, Amisha! Du und deine gehaltvollen Fragen! Ihr wolltet mich doch nicht zu einer Ringvorlesung einladen, an diesem schönen, lauen Abend. Wenn euch dieser kleine, aber feine Unterschied im Kontext Promotion interessiert, dann kommt doch am Sonntagabend zu mir. Ich mache uns ein thailändisches Curry und wir setzen uns anschließend mit einer Erdbeerbowle auf den Balkon. Dann können wir uns deine Frage gerne noch einmal vornehmen. Wer vom Rest der Gemeinschaft mitkommen möchte, ist herzlich eingeladen!“
Und so löste sich die kleine Gruppe nach den üblichen Abschiedsritualen auf, damit ein jeder für sich auf seine Art den Tag abschließen konnte.