Stefanie Gislason

Der Ruf der wilden Insel


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      Hallgrímur jedoch liess sie nicht aus den Augen.

      Da.

      Ihr Koffer schien aufgetaucht zu sein.

      Er konnte die Erleichterung in ihrem Gesicht erkennen.

      Ihr Blick richtete sich auf einen alten, roten Koffer, der seinem Aussehen nach, wohl schon einiges an Reisen mitgemacht hatte.

      Ihre Hände schlossen sich um den Griff, als er vorbeiglitt.

      Überraschung spiegelte sich in ihrem Gesicht, als sie vergeblich versuchte, ihren Begleiter vom Band zu heben.

      Er schien wohl schwerer zu sein, als sie gedacht hatte.

      Sie versuchte es ein weiteres Mal, aber ihr Koffer blieb stur liegen, wo er war.

      Hallgrímur lachte leise, als er sich aus seiner entspannten Position löste, um ihr zu Hilfe zu kommen.

      „Augnablik.. Ég skal hjálpa þér.“

      Eine tiefe, samtene Stimme trug diese unverständlichen Worte an ihr Ohr, als plötzlich der rothaarige Isländer aus dem Flugzeug neben sie trat und ihr galant den Koffer vom Band hob.

      Ein dankbares Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie endlich ihren roten Begleiter in Empfang nehmen konnte.

      Suchend tastete ihre Hand in ihre Jackentasche.

      Als sie fand, was sie suchte, begann sie sich etwas zu entspannen und hob ihren Blick zu dem grossen Mann vor sich, der sie mit leicht zur Seite geneigtem Kopf betrachtete.

      Seine blauen Augen waren belustigt auf sie gerichtet.

      Und dann noch dieses entwaffnende Lächeln.

      Trotz all der Hektik an diesen Flughafen strahlte er eine bemerkenswerte Ruhe aus.

      Schon wieder fühlte sie die Hitze in ihrem Gesicht.

      Was hatte dieser Mann nur an sich?

      „Thank you.“, bedankte sie sich auf Englisch.

      Verdutzt starrte er sie an.

      „Du siehst aus wie eine Isländerin, sprichst aber wie keine.“, erwiderte er dann lächelnd mit einem leichten Akzent.

      „Und was hast du auch in diesem Koffer alles drin? Der ist viel zu schwer für eine Frau.“

      Einen Moment war Kristín erstaunt über seine Neugierde, doch dann schmunzelte sie.

      „Mein ganzes Leben.“

      Er musterte sie kurz kritisch, als würde er ihre Aussage überdenken, dann begann er zu lachen.

      Ein tiefes, warmes Lachen.

      Und in diesem kleinen Augenblick fasste Kristín Vertrauen zu diesen Bären von einem Mann.

      „Man nennt mich Hallgrímur.“, stellte er sich vor, als er sich wieder beruhigt hatte und reichte der jungen Frau die Hand.

      „Für dich bin ich aber auch gerne Halli“, fügte er grinsend hinzu, als er ihren verständnislosen Blick bemerkte.

      „Kristín.“, antwortete sie einen Augenblick später und legte ihre kleine Hand in seine.

      „Für dich bin ich gerne Kristín.“

      Sie grinste ihn frech an.

      Er drückte ihre Hand kurz, dann gab er sie wieder frei..

      Erneut legte er seinen Kopf leicht zur Seite und betrachtete sie neugierig.

      „Was treibt dich hierher, Kristín? Hier, auf diese Insel? Was macht eine junge Dame wie du auf Island?“

      Als die blonde Frau ihren Namen aus dem Mund des Isländers hörte, mit derselben weichen Betonung wie ihr Vater es immer zu tun pflegte, zuckte sie kurz zusammen.

      Die Betonung ihres Namens entstammte also der isländischen Sprache?

      Ihr Vater war tatsächlich der isländischen Sprache mächtig gewesen.

      Und Kristín begann zu begreifen, wie sehr das Geheimnis ihres Vaters ihr Leben verändern würde.

      Halli entging ihre Reaktion nicht, er liess ihr aber die Zeit, sich zu ordnen.

      „Ich suche jemanden.“, antwortete Kristín schliesslich leise.

      Ihre Hand glitt erneut in ihre Jackentasche.

      Mit zittrigen Händen streckte sie dem Isländer das alte Foto hin.

      Ihr einziger Anhaltspunkt.

      Sie holte tief Luft.

      „Sie heisst Sigrún. Und sie ist meine Schwester.“

      Dann seufzte sie leise, als sie seinen fragenden Blick bemerkte.

      „Leider habe ich keine weiteren Informationen...“

      Sie senkte beschämt den Kopf.

      „Ich suche wohl einen Geist...“

      Erstaunen huschte über Hallis Gesicht, als er schliesslich die Personen auf dem Foto betrachtete, doch die junge Frau vor ihm bemerkte es nicht.

      Zu sehr fürchtete sie sich vor seiner Reaktion.

      Würde er sie auslachen?

      Sie einen Dummkopf nennen, weil sie Hals über Kopf hierher gekommen war, ohne weitere Details zu kennen?

      Der Isländer studierte das Foto sehr lange, bevor er es ihr zurückgab.

      Seine Augen suchten ihren Blick.

      „Nun gut, Kristín… Dann komm mal mit. Lass uns deine Schwester suchen. Ich hab da vielleicht eine Idee, wer uns helfen könnte…“

      Und mit diesen Worten packte er ihren Koffer, liess ihr keine Zeit für eine Reaktion und steuerte zielstrebig den Ausgang am Flughafen an.

      Kristín folgte ihm hastig, ohne einen Augenblick daran zu denken, dass dieser Mann, der so leichtfüssig ihren Koffer hinter sich her zog, als er den Parkplatz ansteuerte, ein völlig Fremder war.

      Ein unbekannter Mann, von dem sie nicht mehr wusste, als seinen Vornamen.

      Und noch dazu in einem völlig fremden Land, von dessen Verbindung zu ihrem Leben sie bis vor wenigen Tagen keine Ahnung hatte.

      Aber es war Kristín in diesem Augenblick egal.

      Halli war bereit, ihr zu helfen.

      Für ein bisschen Verstand war später auch noch Zeit.

      Kapitel 3

      Als Kristín die ersten Schritte über die Schwelle am Flughafen nach draussen trat, hielt sie einen Moment verblüfft inne.

      Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein.

      Wie konnte die Luft, bei all diesen Flugzeugen um sie herum, so klar und belebend sein?

      Doch weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht, als sie plötzlich spürte, wie sie angerempelt und zur Seite gedrängt wurde.

      Leicht angesäuert wandte sie sich nach dem Übeltäter um.

      Aber das ältere Ehepaar hastete an ihr vorbei, ohne sich zu entschuldigen und steuerte wild diskutierend den grossen Bus an, der direkt vor dem Flughafen auf seine Fahrgäste wartete.

      Kristín liess ihren Blick staunend über den riesigen Parkplatz wandern und konnte gerade noch erkennen, wie ihr roter Koffer zwischen all diesen Autos verschwand.

      Hastig überquerte die junge Frau die Strasse und folgte Halli.

      Sie musste beinahe rennen, um mit dem Isländer Schritt halten zu können.

      Zum Glück war er aber so gross, dass er gut sichtbar mit seinen roten Haaren, immer wieder zwischen den Autos auftauchte.

      Das