Stefanie Gislason

Der Ruf der wilden Insel


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dieses Bauwerks näher brachte.

      Als sie ihren Blick einen Moment durch den Raum schweifen liess, bemerkte sie belustigt, dass längst nicht nur sie seinen Erzählungen folgte.

      Die Leute scharten sich um den Isländer und hingen an seinen Lippen, um ja kein Wort über den historischen Hintergrund der Kirche zu verpassen.

      Kristín jedoch zog sich langsam aus der Menschenansammlung zurück und setzte sich auf eine der Bänke, um etwas für sich zu sein.

      Ihre Hand wanderte in ihre Jackentasche und zog das Foto heraus.

      Lange betrachtete sie es und versuchte verzweifelt, sich an irgendetwas zu erinnern, was ihr Vater gesagt haben könnte, was ihr helfen würde, ihre Schwester und ihre Mutter zu finden.

      Warum hatte sie seinen Schwärmereien für die Insel nicht mehr Beachtung geschenkt?

      Warum war sie nicht an seiner Seite sitzen geblieben, statt aufzustehen und das Wohnzimmer zu verlassen, wenn im Fernsehen ein Dokumentarfilm über Island kam?

      Warum hatte sie ihn nie nach der Herkunft seines Pullovers gefragt, statt ihm vorzuhalten, wie schrecklich der aussähe?

      Warum hatte sie nie hinterfragt, dass da noch etwas sein könnte, ein Geheimnis, ein anderes Leben, wenn er seine Zeit wieder auf den Dachboden verbrachte?

      Warum?

      Das Foto verschwamm vor ihren Augen, doch sie klammerte sich weiter daran fest.

      Es war das Einzige, was ihr Halt gab.

      Plötzlich erschien eine grosse Hand in ihrem Blickfeld und als sie ihren Kopf hob, um zu Halli aufzusehen, lächelte er warm und einladend.

      Er hatte ihre Tränen bestimmt bemerkt, auch sein Seitenblick auf die Fotografie in ihren Händen war ihr nicht entgangen, aber er stellte keine Fragen.

      Und im Stillen war sie ihm dankbar dafür.

      „Komm. Die Zeit ist günstig, nach oben zu fahren. Ich habe die Meisten etwas abgelenkt…“

      Sie sah ihn fragend an, ergriff jedoch seine Hand und liess sich auf die Beine ziehen.

      Einen Moment berührten sich ihre Körper, dann trat Halli einen Schritt zur Seite und gab ihr ein Zeichen, voranzugehen.

      Verwundert betrachtete sie im Vorbeigehen die hochkonzentrierten Gesichter der Touristen, die nun ihre Blicke auf die grosse Orgel gerichtet hielten und es schien ihr, als würden sie leise zählen.

      Sie drehte sich zu Halli um, der sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht animierte, weiter zu gehen.

      „Ich erklär es dir gleich.“

      Als sie den Lift erreichten, öffnete sich gerade die Tür und eine Traube Menschen drängte nach draussen.

      Halli schubste sie regelrecht in den leeren Lift hinein und es schien ihr, als machte er sich extra breit, dass ja keiner auf die Idee kommen sollte, mit ihnen gemeinsam nach oben zu fahren.

      Seine Taktik schien aufzugehen, denn als sich die Lifttüren schlossen, waren sie noch immer allein.

      Sie suchte seinen Blick und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

      „Also? Was hast du denen erzählt?“

      Er lachte sein tiefes Lachen.

      „Ich habe ihnen eine Aufgabe gegeben…“

      „Eine Aufgabe?“, fragte sie misstrauisch, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und lehnte sich etwas zurück, um ihn besser im Auge behalten zu können.

      „Was genau verstehst du unter einer Aufgabe?“

      Er lachte erneut.

      „Sie zählen die Orgelpfeifen.“

      Kristín glaubte, sich verhört zu haben.

      „Sie tun was?“

      Er blickte amüsiert auf sie herunter.

      „Du hast es schon richtig verstanden. Sie zählen die Orgelpfeifen."

      Kristín bemühte sich, ernst zu bleiben.

      „Und kannst du mir noch sagen, warum sie das tun?“

      Es fiel ihr schwer, das Lachen zurückzuhalten und der Isländer spürte das nur allzu deutlich.

      „Naja..“

      Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

      „Ich habe ihnen da vielleicht von einem Wettbewerb erzählt.. Wenn sie die richtige Anzahl Orgelpfeifen erraten, gewinnen sie eine Übernachtung hier in Reykjavík.“

      Es fiel ihr wirklich sehr, sehr schwer, weiterhin ein ernstes Gesicht zu machen, als Halli sogar verlegen mit dem Fuss am Boden herum scharrte und die Hände hinter dem Rücken verschränkte.

      „Und diesen Wettbewerb gibt es wirklich?“

      Er suchte ihren Blick, seine Augen glitzerten vergnügt, als er ein leises „Nein…“ aussprach.

      Da war es um Kristín geschehen.

      So konnte nicht mehr an sich halten und brach in lautes Gelächter aus, in welches der Isländer einstimmte.

      Kichernd wie zwei kleine Kinder taumelten sie aus dem Lift, als sich die Türen öffneten.

      Die missmutigen Blicke der Leute um sie herum bemerkten sie gar nicht, als sie sich keuchend an die Wand lehnten und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.

      „Danke.“, war alles, was die junge Frau sagte, als sie sich wieder beruhigt hatten.

      Er hatte in der Kirche bereits keine Fragen gestellt und hinterfragte es auch jetzt nicht.

      Er verstand auch so, dass sie eine kleine Ablenkung gut hatte gebrauchen können.

      „Komm, lass mich dir die Stadt endlich zeigen.“

      Mit diesen Worten öffnete er die Tür zur Aussichtsplattform und gewährte Kristín einen Ausblick, der ihr den Atem verschlug.

      All die bunten Häuser, die sich aneinander reihten, der Weitblick und das Meer liessen sie all ihre dunklen Gedanken vergessen.

      Sie schloss die Augen und genoss den Augenblick, als der Wind ihr um die Nase wehte.

      Hinter ihr stand Halli und betrachtete die blonde Frau fasziniert.

      Die Aussicht auf die Stadt war für ihn nebensächlich.

      Er hatte einen viel besseren Ausblick vor sich.

      Erst als sie wärmend ihre Arme um den Körper schlang, erwachte er aus seiner Starre.

      „Hast du auch noch wärmere Kleidung dabei?“

      Sie drehte sich um und lächelte verlegen.

      „Ich fürchte nicht wirklich…“

      Er machte sich nicht über sie lustig, sondern zog sie zurück zum Ausgang und zum Lift.

      „Dann lass mich dir unsere berühmteste Einkaufsmeile zeigen. Dort finden wir bestimmt etwas, was dich wärmt. Und etwas Leckeres zu essen finden wir auch noch.“

      Sie liess sich von seiner Begeisterung mitreissen, betrachtete im Vorbeigehen belustigt, dass noch mehr Menschen sich um die Orgel versammelt hatten und bedachte Halli mit einem mahnenden Blick.

      Doch er zuckte nur mit den Schultern und schlug den Weg zu seinem Auto ein.

      „Warte kurz hier… Ich hol nur was.“

      Mit diesen Worten verschwand er auf der Rückbank seines Autos und Kristín konnte ihn leise fluchen hören.

      Keine zwei Minuten später kam er wieder aus seinem Auto hervor und hielt ihr etwas hin, was sie bei genauerer Betrachtung als einen Pullover identifizierte.

      Einen ähnlichen, wie ihr Vater einen besessen hatte.

      Ihre