Luisa Sturm

Ein ganzes Ja


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      1989 – 1996

      Ich spanne meine Flügel aus

      Und fliege.

      So glücklich bin ich

      Hier zu sein.

      An keinem anderen Ort

      Möcht ich weilen

      Als mit Dir, bei Dir

      Ganz allein.

      September 1989

      Gott sei Dank, es ist vorbei! Diana und ich kommen gerade vom Kirchgottesdienst, der wie immer stinklangweilig war. In der Kirche habe ich natürlich nicht dem dürren Pfarrer zugehört, sondern bin abgeschweift, habe mir die Bilder von den Heiligen angeschaut oder bin den zackigen Rissen im Putz bis zum bunten Kirchenfenster hinunter gefolgt. Heute war es wieder besonders öde!

      Wir werfen lange, lustige Schatten auf den Gehsteig. „Wer ist das?“, frage ich fasziniert und deute vorsichtig mit dem Zeigefinger zur Hofeinfahrt. Dort steht ein großer Junge mit braunen Haaren und wirft immer wieder ein kleines Baby in die Luft. Das Baby jauchzt und gluckst. Die Sonne brennt heiß herunter.

      Aber eines habe ich beim Figurenangucken und Herumträumen mitbekommen: Der Pfarrer hat von irgendeinem Korintherbrief gesprochen und von der Liebe.

      Diana ist das einzige Mädchen, das ich bisher vom Dorf kenne, weil sie nur zwei Straßen weiter wohnt. Sie lacht fröhlich und antwortet: „Das ist Paul. Paul Blumfeld.“ Es scheint, als fände sie ihn ziemlich cool, zumindest kann sie ihren Blick nicht von ihm abwenden.

      „Und er ist schon Vater? Wie alt ist er denn?“, frage ich und blicke verwirrt auf das glückliche Baby, das er jetzt nicht mehr in die Luft wirft, sondern ihm seine übergroße Sonnenbrille aufsetzt.

      „Paul? Siebzehn, glaube ich. Und das Baby ist sein Bruder. Seine Eltern haben ganz spät noch ein Kind bekommen. Er hat, glaube ich, noch zwei ältere Brüder.“

      Ich bleibe kurz stehen und sehe Paul an. Dann schieben wir unsere Fahrräder weiter, viel zu langsam, eigentlich.

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      „Becca, hast du alles? Du musst los, sonst kommst du gleich am ersten Schultag zu spät.“

      Ich schwinge meine Schultasche über die Schulter. Gefrühstückt habe ich nicht, dafür bin ich viel zu aufgeregt. Die letzten vier Jahre bin ich auf das Mariengymnasium gegangen, eine schicke Privatschule nur für Mädchen im Herzen Augsburgs. Für Mädchen, deren Eltern Geld haben. Meine Eltern sind nicht reich, aber das Schulgeld kriegen sie zusammen. Sparen steht bei uns ganz oben auf der Liste, vor allem bei Papa. Wenn er 5 kg Zucchini für 1,50 DM kaufen kann, läuft er uns freudestrahlend entgegen, als wäre er ein tapferer Ritter und hätte völlig allein in einer sauerstoffarmen Erdspalte den heiligen Gral entdeckt! Dass wir dann wochenlang dieses grüne Gemüse essen müssen, bis es uns in Lebensgröße wieder aus den Ohren herauswächst, kommentiert er nur mit einem gleichgültigen Achselzucken.

      Meine alte Schule! Wie gern ich dort war. Doch durch den Umzug aufs Land muss ich nun auf dieses doofe Landgymnasium wechseln. In der Kleinstadt Schwabmünchen statt in Augsburg. Total ätzend! Gleich werde ich wie ein Forschungsinsekt vor eine neue, fremde Klasse gestellt: Seht her, das ist eure neue Klassenkameradin Rebecca Santini. Heißt sie willkommen und zeigt ihr alles. Was für ein Graus! So begafft zu werden von allen. Und all die Freundinnen, die ich jetzt nicht mehr sehen kann. Ich vermisse Simona und Martine jetzt schon.

      Augsburg! Ah, das war der Klang des Kopfsteinpflasters, des Läuten von Sankt Ulrich, das Glockenspiel auf dem Rathausplatz, der Spaziergang an der alten Stadtmauer entlang, die große Jakob Fugger Statue in der Philippine-Welser-Straße, die erhabene Maximilianstraße, die geschäftige Annapassage, das staubige Plärrergelände, der quirlige Königsplatz, das majestätische Stadttheater und natürlich der mächtige Dom.

      Verdammt noch mal, wieso hat mich keiner gefragt, ob ich in einem Kuhkaff namens Hilberg mitten in der hintersten Pampa wohnen möchte?! Was kann mich hier erwarten außer dem Anblick von ungeteerten, holprigen Feldwegen und dem penetranten Gestank von Kuhmist auf den Feldern? Was für ein Abstieg! Widerwillig schlüpfe ich in meine schwarzen Schuhe mit dem kleinen Absatz.

      „Becca, jetzt musst du wirklich gehen, der Bus wartet nicht auf dich.“

      Ich nehme den Wangenkuss meiner Mama niedergeschlagen hin und gehe klopfenden Herzens zur Bushaltestelle. In einem nichtssagenden Niemandsdorf am Arsch der Welt!

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      „Ist dieser Platz frei?“

      Ein molliger, mittelgroßer Junge mit roten Backen verzieht auffällig das Gesicht, als er mich sieht. „Noi, derr isch `bsetzt!“

      Bitte, was? Können die hier nicht normal sprechen? Du liebe Güte, das wird ja lustig werden! Ein paar andere Schüler lachen gemein und sehen verstohlen in meine Richtung. Also gehe ich ein paar Reihen weiter. „Ist dieser Platz frei?“, frage ich nun leise, aber immer noch höflich. Es sind Mädchen in meinem Alter, das wird schon gut gehen.

      „Für dich nicht!“ Ah, zumindest sprechen diese hier normal und ich habe sie verstanden.

      Der Bus setzt sich in Bewegung. Ich frage weiter, aber keiner will mir einen Sitzplatz anbieten. Mir ist ganz komisch und meine Beine fühlen sich zittrig an. Obwohl überall freie Plätze sind, will mich keiner dieser Idioten vom Land hinsetzen lassen. Sehr freundlich! Danke auch! An meiner alten Schule war ich bekannt und beliebt. Ein Star der Schulmannschaft Schwimmen. Wir haben alle Pokale der letzten Meisterschaften gewonnen. Zeitungsartikel der Augsburger Allgemeine wurden in der Aula ausgestellt. Ich vorne mit drauf. In den Durchsagen vor der Pause wurde mein Name genannt.

      Ich stehe immer noch im Gang des Busses wie ein Stück Holz ohne Halterung. Der Bus fährt in eine Kurve und ich stolpere. Fast der gesamte Bus wiegt sich vor Lachen. Mein Herz krampft sich zusammen. Bis nach Schwabmünchen sind es nur zehn Minuten, das schaffe ich schon. Ich rappele mich wieder auf. Keine Tränen, niemand bringt mich zum Weinen, auch keine bescheuerten fremden Dorfkinder im hintersten Niemandsland.

      „Möchtest du neben mir sitzen?“ Ein hoch aufgeschossener Junge sieht zu mir auf. Er hat ein sympathisches Gesicht, einen dunklen Teint und Locken, die in alle Himmelsrichtungen entfliehen wollen. Er sieht lustig aus, so lockig und schlaksig.

      Erleichtert und dankbar setze ich mich. Forsch strecke ich ihm meine rechte Hand hin. „Ich heiße Rebecca, aber alle nennen mich nur Becca, und du?“

      Er sieht verwundert aus, ich weiß nicht, ob wegen meiner förmlichen Begrüßung oder wegen der Spitznamenserklärung, und gibt mir zögernd die Hand. „Ich heiße Manuel. Ich habe schon von dir gehört. Du bist die Neue hier. Du gehst auch in die 9. Klasse, stimmt’s?“ Seine lederne Schultasche ist über und über mit Zeichnungen und Sprüchen versehen, die meisten davon definitiv nicht jugendfrei. Die Worte ‚fuck off’ und ‚real bitch’ sind in schwarzen Großbuchstaben geschrieben. Für ‚eat my ass’ hat er einen dicken, roten Edding verwendet.

      „Äh, ja, das stimmt.“

      „Echt nur Becca?“

      „Ja, bitte. Wenn jemand Rebecca zu mir sagt, denke ich immer die Person hinter mir ist gemeint.“

      „Na gut, ungewöhnlich“, sagt er und schmunzelt. „Das hier ist Paul. Mein bester Freund“, fährt er fort und deutet mit seinem Daumen auf den gegenüberliegenden Platz. Paul lächelt in meine Richtung und hebt spöttisch eine Augenbraue. Ah, der Junge mit dem kleinen Bruder. Er ist groß und sportlich, mit braunen Haaren und tiefblauen Augen. Wir sehen uns lange an und Pauls Blick irritiert mich, aber er sagt keinen Ton.

      Manuel mustert mich neugierig. „Ich zeige dir, wo das Sekretariat