Luisa Sturm

Ein ganzes Ja


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      „Robert ist unser Klassensprecher“, verteidige ich mich und winke ab. Sichtlich erleichtert und in seiner Meinung bestätigt, nickt Papa mir zu. Eriks Augen bleiben ausdruckslos.

      „Erik, das Essen ist noch nicht fertig. Möchtest du Rebecca nicht dein Zimmer zeigen?“, fragt Maria, Eriks Mama.

      „Klar“, sagt er ruhig und ich folge ihm.

      Nur nicht nervös werden. Er ist nur irgendein Nachbarsjunge, beruhige ich mich. Oben angekommen schließt er die Tür und legt eine CD ein. Er hat natürlich CDs, diese kleinen, neuen Musikscheiben. Über 30 Mark kosten die! Ich besitze noch keine einzige! Die Musik läuft an und spielt „Nothing Else Matters“ von Metallica. Alle sind gerade verrückt nach diesem Lied. Es kommt andauernd im Radio und auch ich mag es sehr. Wir gehen auf den Balkon, aber die Musik ist noch gut zu hören. Die Nachtluft ist angenehm warm und es riecht nach frisch gemähtem Gras. Ich liebe diesen Duft. Wir vermeiden es uns anzusehen und schauen einfach nur auf die Maisfelder vor uns.

      „Robert …“, beginnt er.

      „Ist nur der Klassensprecher“, falle ich ihm ins Wort. Warum tue ich das? Was geht ihn das schon an? Ich kann reden, mit wem ich will, oder nicht?

      „Du magst ihn?“ Jetzt dreht er sich zu mir um. Himmel, er ist einen ganzen Kopf größer als ich. Seine warmen, braunen Augen sehen mich lange an. Seine Wimpern sind dicht. Woher er wohl die kleine Narbe auf der Nase hat? Ich fühle mich seltsamerweise geborgen in seiner Gegenwart, aber mein Herz schlägt zu schnell, ich muss schlucken und mein Mund fühlt sich plötzlich so trocken an, als hätte ich eine Schaufel Sand verschluckt, den grobkörnigen.

      „Er ist nett.“

      „Aha.“ Er blickt mich eindringlich an. Ich habe das Gefühl, meine Antwort gefällt ihm nicht. Dann sagen wir erst einmal nichts mehr und das ‚neue Gefühl in mir’ wird so groß, dass ich am liebsten auf der Stelle gehen möchte. Gleichzeitig möchte ich aber bleiben. Was ist nur los? Viele Augenblicke stehen wir schweigend da. „Deine Eltern sind nett“, meint er irgendwann.

      „Deine auch“, sage ich kurz. „Deine Schwester macht gerade eine Ausbildung?“

      „Ja, im Oberjoch. Zur Hotelkauffrau.“

      „Ihr versteht euch gut?“

      „Ja? Wieso?“

      „Ist ein Bauchgefühl. Ich meine die Art und Weise, wie ihr euch vorhin angesehen habt.“

      Erik nickt in meine Richtung und ein warmes Strahlen geht von ihm aus. „Wo kommen deine Eltern her?“, fragt er und lehnt lässig mit dem Rücken am Balkongeländer. Ich glaube, er ist mir ein bisschen näher gekommen. Oder bilde ich mir das nur ein?

      „Mama kommt aus Augsburg und Papa kommt aus einem kleinen Bergdorf aus Sizilien.“

      „Dein Papa hat einen lustigen italienischen Akzent. Er sagt ‚die Auto’ und ‚Aus statt Haus’.“

      Ich muss lachen. „Das höre ich schon gar nicht mehr! Papa sagt auch ‚die Mond’ und ‚Ich habe fertig’. Er hat schon immer so gesprochen. Na ja, deutsche Sprache, schwere Sprache.“

      Erik lacht schallend auf. „Ja, das sagt mein Deutschlehrer auch immer.“ Sein Lachen ist einzigartig schräg und irgendwie ansteckend. Ein Lachen, das man sofort aus dreißig Menschen heraushört, schießt es mir in den Sinn. Mit ihm gemeinsam zu lachen, fühlt sich großartig an.

      Ich drehe mich nun auch mit dem Rücken zum Balkongeländer, streife dabei aber einen leeren Blumentopf, der prompt mit einem lauten Scheppern umfällt und zu Bruch geht. Oh nein, wie peinlich! Ich bücke mich, um die Scherben aufzusammeln. Erik hat den gleichen Gedanken und unsere Hände berühren sich kurz. Ein kribbeliges, zischendes Gefühl saust in Lichtgeschwindigkeit durch meinen Bauch. „’Tschuldigung“, nuschele ich nervös.

      „Der, ist eh schon alt. Der wartet nur darauf, dass man ihn umwirft, so hässlich wie er ist“, erklärt er mir mit einem Augenzwinkern und wir stehen wieder auf. „Dann hat Mama endlich einen Grund, einen neuen zu kaufen.“ Er mustert mich von der Seite und tritt dann etwas näher. „Deine Augen sind gar nicht blau“, beginnt er. „Sie sind blaugrau. Das sieht sehr …“

      „Rebecca? Erik? Essen ist fertig. Kommt ihr herunter?“, ruft Isabella plötzlich nach oben.

      Erleichtert und nervös gehe ich zur Tür und lege meine Hand auf die Türklinke. Die Anlage ist immer noch an und spielt jetzt „Wind of Change“ von den Scorpions. Im gleichen Augenblick legt Erik seine Hand auf meine. Sie ist warm und fest und ich habe das Gefühl, sie überträgt unsichtbare Funken in meine Finger und von dort in meinen gesamten Unterbauch, in meine Beine, in meine Zehen, einfach überall hin. Jetzt hat mein Herz vollständig aufgehört zu schlagen. Wieso kann ich nicht einfach cool bleiben? Er ist nur ein siebzehnjähriger Nachbarsjunge und nicht Richard Gere! Gleichzeitig öffnen wir die Tür, unsere Hände trennen sich und der magische Moment ist vorbei.

      „Ich gehe vor“, sagt Erik freundlich.

      Ich folge ihm unsicher und rieche den herrlichen Duft von gebratenem Fleisch und Nudeln. Eriks Mama muss eine tolle Köchin sein, aber Hunger fühle ich gerade keinen! Im Gegenteil, ich fühle mich, als könnte ich monatelang überhaupt nichts mehr essen. Bedacht nicht zu stolpern, was mir sonst andauernd passiert, gehe ich Stufe für Stufe nach unten. Ich zähle die Stufen, um mein Stolperrisiko zu minimieren. Fünf, sechs, sieben, acht, neun …

      Er dreht sich noch einmal um und lässt seinen Blick lange auf mir ruhen. Seine braunen Augen mustern mich, von unten bis oben, mit einer Mischung aus Neugier und irgendetwas Neuem. Etwas, das ich noch nicht kenne. Gott, ich finde ihn total süß, aber das fühlt sich alles so fremd an! Bisher war mir doch jeder Junge zu laut, zu grob und zu doof. Jungs waren bescheuerte Wesen! Sie spuckten beim Fußball eklige, weißschleimige Speichelklumpen auf den Boden, feuerten sich in der Pause leidenschaftlich beim Rülpswettbewerb an und schlugen sich am Rande der Tartanbahn zum Spaß blaue Flecken auf den Oberarm. Jungs waren total dämlich!

      Aber bei Erik ist alles anders. Ich finde ihn überhaupt nicht bescheuert. Diese seltsamen Gefühle verwirren mich. Ich sollte Billes Rat befolgen und ihn mir aus dem Kopf schlagen. Alle Mädchen sind verliebt in ihn und ich bin nur ein winziger, hässlicher, flachbrüstiger, sommersprossiger Niemand.

      September 1990

      Ich sitze im Bus nach Hause und draußen prasselt der Regen nur so ans Fenster. Die Felder wiegen im Wind hin und her. Überall sind große Pfützen entstanden. Wie immer habe ich keinen Schirm dabei und bis nach Hause sind es mindestens zehn Minuten von der Bushaltestelle. Manuel, der bestimmt einen überdimensionalen Schirm gehabt hätte, hat heute Nachmittag Sport. Und dann auch noch das. Direkt zwei Reihen hinter mir sitzt Erik neben Paul. Scheiße.

      Ich habe Billes Rat befolgt und bin ihm aus dem Weg gegangen. Ein ganzes Jahr lang! Inzwischen ist die Mauer in Berlin gefallen, was alle Menschen aus der Nachbarschaft dazu gebracht hat, sich in die Arme zu nehmen und vor Freude und Erstaunen zu weinen, und wir sind Fußballweltmeister geworden. Letzteres sehr zum Ärger von Papa, der im Schlafzimmer wütend vor dem kleinen Fernseher dem Kollaps nahe hin und her gesprungen ist, als Italien gegen Argentinien, natürlich unfairerweise, im Elfmeterschießen verlor.

      Ein ganzes Jahr habe ich einen Bogen um Erik gemacht. Das war viel schwieriger gewesen als zunächst gedacht. Aber wir hatten zum Glück komplett andere Buszeiten, sein Klassenzimmer lag auf der anderen Seite des Schulgebäudes und wenn Mama und Papa mit den Sonnbergs jeden Mittwoch zum Pizzaessen gingen, hatte ich ‚überhaupt keinen Hunger’ oder ‚ganz schlimmes Kopfweh’. Dieses Schuljahr ist plötzlich alles anders. Mindestens drei Mal die Woche haben wir zur selben Zeit Schulschluss. Das passt mir überhaupt nicht! Ich hatte inständig gehofft, diese neuen Gefühle in mir würden von selbst wieder verschwinden, wenn man sie nur lange genug ignorierte, so wie lästiges Jucken auf der Haut nach einem fiesen Mückenstich.